Kürzlich ist eine bislang nicht begutachtete Evaluation der „STOPPTCovid“-Studie des Robert Koch-Instituts erschienen. Ein Team von acht Wissenschaftlern, darunter der Medizinstatistiker und Stanford-Professor John Ioannidis, hat die Arbeit des RKI auf ihre Aussagekraft hin geprüft: Hinsichtlich der Wirkung der Maßnahmen kommt das Forscherteam zu erstaunlichen Ergebnissen, die zu den Schlussfolgerungen des RKI in klarem Widerspruch stehen. Von Bastian Barucker.
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In Deutschland ist die Aufarbeitung der Pandemiepolitik in aller Munde. Sogar Bundespräsident Steinmeier drängt aktuell auf eine Aufarbeitung und würde sogar selbst tätig werden, wenn der am 23. Februar neu gewählte Bundestag diese Aufgabe nach seiner Konstituierung nicht schnellstmöglich angeht. Auch der noch amtierende Gesundheitsminister Karl Lauterbach, der das Corona-Management maßgeblich mitzuverantworten hat, bekräftigte zuletzt die Notwendigkeit einer Aufarbeitung. In mehreren Bundesländern sind Untersuchungsausschüsse und Enquete-Kommissionen mit der Aufarbeitung befasst. Im Sächsischen Landtag werden die geleakten und komplett ungeschwärzten Protokolle des Covid-19-Krisenstabs des Robert Koch-Instituts (RKI) als Beweismittel eingebracht.
Die Rolle des Robert Koch-Instituts im Pandemiegeschehen ist spätestens seit dem Auftauchen der Protokolle ein zentraler Aspekt der Aufarbeitung, zeigen die Dokumente doch, dass die Politik starken Einfluss auf die weisungsgebundene Behörde nahm und viele der politisch angeordneten sogenannten nicht-pharmazeutischen Interventionen (NPIs) im RKI eher kritisch diskutiert wurden. Weder gab es laut den Experten der obersten Seuchenschutzbehörde eine „Pandemie der Ungeimpften“, noch empfahlen sie das anlasslose Testen asymptomatischer Menschen, und auch generelle Schulschließungen wurden vom Covid-19-Krisenstabs des RKI nicht als sinnvoll erachtet.
Trotzdem gab es in der BRD über mehrere Jahre währende, bis dato nicht gekannte Grundrechtseinschränkungen. Diese waren aber gemäß der Regierung unbedingt notwendig , um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und so das Gesundheitssystem zu entlasten. Die Menschen wurden dabei hinter Masken gedrängt, durften ihren Liebsten bei Geburt und Tod nicht nahe sein, Kindern wurde ihr existenziell wichtiges soziales Leben geraubt, Schulen und Kitas wurden ebenso wie Läden und Geschäfte geschlossen, Ausgangssperren wurden verhängt, das soziale Leben war massiv eingeschränkt und bestimmte Berufsgruppen sahen sich sogar zur neuartigen Gentech-mRNA-„Impfung“ verpflichtet …
Wie wirksam waren die Corona-Maßnahmen?
Doch wie wirksam waren diese Grundrechtseinschränkungen tatsächlich? Wie viele Leben wurden dadurch gerettet? Der ehemalige Präsident des RKI, Lothar Wieler, hatte im Sommer 2020 postuliert, dass diese politischen Maßnahmen „überhaupt nie hinterfragt werden dürfen“.
Das RKI – welches unter starkem politischen Einfluss stand und sogar im Jahr 2022 die Risikoeinschätzung zu Corona auf Anordnung der Politik nicht herabsetzte, obwohl es wissenschaftlich keine Hinweise auf eine besondere Gefahr für die Allgemeinheit mehr gab (und vielleicht nie gegeben hat) – hatte im Juli 2023 die StopptCOVID-Studie veröffentlicht, die zugleich als Abschlussbericht über die „Wirksamkeit und Wirkung von anti-epidemischen Maßnahmen auf die COVID-19-Pandemie in Deutschland“ fungierte. Zu den Ergebnissen der Studie, die sich mehrfach auf die sogenannte Reproduktionszahl des Virus (R-Wert) bezieht, zählt folgende Aussage:
„Die betrachteten Modelle zeigen, dass NPI mit einer deutlichen Reduktion der COVID-19 Ausbreitung in Deutschland assoziiert waren, die je nach Strenge der NPI, unterschiedlich stark ausgeprägt war.“
Weiter heißt es:
„Die in unserer Studie betrachteten NPI trugen wesentlich zur Bekämpfung der Pandemie bei […]“
Spannenderweise gab es bereits zu Beginn der Pandemiepolitik in Deutschland Kritik an dem vermeintlich kausalen Zusammenhang zwischen R-Wert – also der Anzahl der Personen, die durch einen Infizierten angesteckt werden – und der Maßnahmenstrenge. Denn als am 23. März 2020 die Kontaktverbote in Kraft traten, war der R-Wert laut dem epidemiologischen Bulletin des RKI bereits ohne jegliche Maßnahmen unter den Wert von 1 gesunken.
Im RKI-Krisenstab stellte man gemäß dem Protokoll bereits im November 2020 fest:
„Erfolg von Maßnahmen kann mit RKI-Daten nicht zufriedenstellend beantwortet werden, selbst mit lokalen Studien wird es nicht mit ausreichendem Detail erfasst. Wir wissen, welche Faktoren die Inzidenz hochtreiben und kennen sinnvolle Maßnahmen, werden dies aber mit RKI-Daten nicht belegen können.“
Neue Evaluation der RKI-Studie
Anfang Februar ist eine bislang nicht begutachtete Evaluation der STOPPTCovid-Studie erschienen. Ein Team von acht Wissenschaftlern, darunter der weltberühmte Medizinstatistiker und Stanford-Professor John Ioannidis, hat sich die Arbeit des Robert Koch-Instituts angeschaut und auf ihre Aussagekraft hin geprüft. Erstautor ist Bernhard Müller, außerordentlicher Professor an der Fakultät für Physik und Astronomie der Monash Universität in Australien, der frühzeitig kritisierte, dass die der RKI-Studie zugrunde liegenden Daten nicht öffentlich waren und daher eine Begutachtung durch Dritte nicht möglich war. Auf X schreibt Müller:
„Uanbhängig von der Analyse der Maßnahmen – wo wir jetzt den nächsten Schritt gemacht haben – offenbart sich ein Kernproblem: Die derzeitige Führung des [Bundesgesundheitsministeriums] und RKI scheint unfähig und unwillig, einen systematischen Evalutionsprozess zu organisieren. Daher blieb nur die Privatisierung diese Aufgabe.“
Das RKI hatte erst im März 2024 die Quelldaten ihrer Analyse offengelegt. Ihr Vorhaben beschreiben die acht Wissenschaftler um Müller und Ioannidis so:
„Die Quantifizierung der Wirkung nicht-pharmazeutischer Interventionen (NPIs) ist für die Formulierung von Lehren aus der COVID-19-Pandemie von entscheidender Bedeutung. Um eine zuverlässigere und strengere Bewertung von NPIs auf der Grundlage von Zeitreihendaten zu ermöglichen, analysieren wir die Daten für die ursprüngliche offizielle Bewertung von NPIs in Deutschland erneut […].“
Hinsichtlich der Wirkung der Maßnahmen kommt das Forscherteam zu erstaunlichen Ergebnissen, die zu den Schlussfolgerungen des RKI im klaren Widerspruch stehen. In einem Gespräch mit der Welt am Sonntag resümiert Professor Ioannidis: „Zieht man bessere Modelle heran, ergeben sich für keine der [von der Politik getroffenen] Maßnahmen belastbare Effekte auf die Ausbreitung der Pandemiewellen.“ Und weiter: „Einschränkungen im öffentlichen Raum könnten einen gewissen Effekt gehabt haben […] Aber selbst dann sind wir nicht sicher, ob der Einfluss erheblich war.“
In der von ihm mitverfassten Evaluations-Studie selbst liest man folgende Schlussfolgerungen:
„Wir kommen zu dem Schluss, dass der Ansatz des deutschen Bundesministeriums für Gesundheit angesichts der offenkundigen statistischen Einschränkungen nicht ausreicht, um die Auswirkungen von NPIs auf die öffentliche Gesundheit zu ermitteln. […] Darüber hinaus sind die Konfidenzintervalle ([Vertrauensbereich für den wahren Mittelwert] im Allgemeinen so breit, dass es entgegen den Behauptungen von StopptCOVID unmöglich ist, Trends mit erhöhter Strenge sicher zu erkennen. Insbesondere bei nicht-pharmakologischen Interventionen im öffentlichen Raum lassen selbst die Punktschätzungen keine zusätzlichen Vorteile durch strengere Maßnahmen erwarten.“
Dass zwischen der Strenge der Maßnahmen und der Höhe der Inzidenz kein kausaler Zusammenhang besteht, hatte im Juni 2022 auch der Evaluationsbericht des Sachverständigenausschusses der Bundesregierung festgestellt, in dem es heißt:
„Insgesamt ist ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Inzidenz und der Maßnahmenstärke nicht erkennbar.“
Eine im Sommer 2024 erschienene Studie zweier Stanford-Professoren hatte die Daten aus 181 Ländern ausgewertet, um den möglichen Zusammenhang zwischen Lockdown-Maßnahmen und Covid-19-Todesfällen, Übersterblichkeit und Infektionszahlen zu ermitteln. In der Zusammenfassung heißt es, „dass die staatlichen Maßnahmen die Covid-19-Belastung wenig bis gar nicht verändert haben“.
Eine Studie der Johns-Hopkins-Universität war diesbezüglich bereits 2022 zu folgender Einschätzung gelangt:
„Insgesamt kann unsere Metaanalyse nicht bestätigen, dass Lockdowns einen großen, signifikanten Effekt auf die Sterblichkeitsrate haben.“
Die nun vorgelegte, aber noch zu begutachtende Studie stellt eine weitere wichtige Frage in den Raum, die seit Anbeginn des Corona-Geschehens diskutiert wird: Anhand welcher klinisch relevanten Daten lässt sich die Virusverbreitung, aber vor allem auch die Auswirkung der Maßnahmen auf das Gesundheitssystem solide messen?
In den RKI-Protokollen vom April 2021 liest man diesbezüglich:
„Die Inzidenz-Grenzwerte sind willkürliche politische Werte.“
Der ehemalige Gesundheitsminister Spahn hatte im April 2020 die massenhafte Testung angeordnet – und damit die Grundlage für die verkündeten Infektionszahlen geliefert, die in Wahrheit lediglich positive Testergebnisse waren und somit leider wenig aussagekräftig. Die Verdreifachung der Anzahl der durchgeführten Tests Mitte März 2020 wurde damals – und wird immer noch – irreführenderweise als „dynamisches Infektionsgeschehen“ beschrieben und war die Grundlage für die Risikohochstufung von Corona. Wenn man jedoch die Anzahl der durchgeführten Tests durch die positiven Testergebnisse teilte, ergab sich für diese Kalenderwoche lediglich ein Anstieg von 1 Prozent der positiven Fälle.
Daher sind die Autoren der Studie auch der Meinung, dass es wichtig sei, „darauf hinzuweisen, dass alle [in der STOPPTCovid-Studie] abgeleiteten Auswirkungen auf R(t) [R-Wert] noch in relevante Ergebnisse für die öffentliche Gesundheit (z. B. Gesamtzahl oder Höchstzahl der Krankenhausaufenthalte, Jahre oder qualitätsbereinigte Lebensjahre geretteter Menschen) übersetzt werden müssen, um eine zufriedenstellende Bewertung der Maßnahmen zu ermöglichen.“
Gemeint ist damit: Um das Ausbleiben des von Anfang des Corona-Geschehens an vehement an die Wand gemalten Schreckgespensts einer möglichen Überlastung des Gesundheitssystems und dessen Zusammenhang mit den Maßnahmen zu bewerten, darf der Fokus nicht auf Reproduktionszahlen (R-Wert) oder Inzidenzen gelegt werden, sondern man muss dafür auf klinisch relevante Daten wie die Anzahl von Atemwegserkrankungen und erfolgte Hospitalisierungen oder die Auslastung der Intensivstationen zurückgreifen. Beim RKI stellte man diesbezüglich gemäß den Protokollen des Krisenstabs Folgendes fest:
„ILI [grippeähnliche Erkrankungen] -Raten auf niedrigem Niveau im Vergleich zu Vorjahren. Auch ARE [Akute Atemwegserkrankungen] -Konsultationsinzidenz in allen Altersgruppen abgefallen, drastischer Abfall bei jüngeren Gruppen.“
Am 19. März 2021 heißt es in den RKI-Protokollen bezüglich der Sterbefallzahlen: „Leicht unter dem Durchschnitt der Vorjahre, ggf. durch ausbleiben der Influenzawelle, es ist keine Übersterblichkeit sichtbar“. Und weiter heißt: „COVID-19 sollte nicht mit Influenza verglichen werden, bei normaler Influenzawelle versterben mehr Leute, jedoch ist COVID-19 aus anderen Gründen bedenklich(er)“.
Die Studienautoren der Evaluation der STOPPTCovid-Studie des RKI schlussfolgern diesbezüglich, „dass der Ansatz des Bundesgesundheitsministeriums angesichts der offenkundigen statistischen Einschränkungen nicht ausreicht, um die Auswirkungen von NPIs auf die öffentliche Gesundheit zu ermitteln“.
Aufarbeitung, Interessenkonflikte und Verzerrung
Bei der aktuell viel debattierten Corona-Aufarbeitung wird es also auch darum gehen müssen, die Wirksamkeit der historisch einmaligen Freiheitseinschränkungen, die als unbedingt notwendig und effektiv propagiert wurden, sorgfältig auf den Prüfstand zu stellen. Wie würde wohl die Bevölkerung reagieren, wenn auch ein Untersuchungsausschuss zu dem Schluss käme, dass all die Leid erzeugenden Corona-Maßnahmen weder einen signifikanten Effekt auf die Virusverbreitung noch auf die Belastung des Gesundheitssystems oder die Covid-19-Sterblichkeit gehabt hatten?
Für solch eine offizielle Untersuchung braucht es allerdings wie im Fall der vorliegenden Arbeit eine Evaluation der Pandemiepolitik ohne schwerwiegende Interessenkonflikte. Denn wenn – wie im Fall der STOPPTCovid-Studie aus der Feder des RKI – eine Behörde, die dem Gesundheitsminister untersteht, der wiederum hauptverantwortlich für die Pandemiepolitik ist, die eigene Arbeit überprüft, dann liegt bereits ein massiver Interessenkonflikt vor und damit die Gefahr für erhebliche Verzerrungen.
Titelbild: Thomas Bethge / Shutterstock