Heute stimmt der alte Bundestag in einer extra dafür einberufenen Sondersitzung über eine Änderung des Grundgesetzes ab. Man will bestimmte Rüstungsausgaben künftig von der Schuldenbremse ausnehmen. Der Ökonom Heinz-J. Bontrup kritisierte stets die Schuldenbremse als ökonomisch schädlich und gesellschaftsspaltend, hält die geplante Grundgesetzänderung mit dem alten Bundestag jedoch für verwerflich und die Aufrüstung für unnötig, da Deutschland nicht militärisch bedroht sei. Er befürwortet zivile Investitionen und fordert Steuererhöhungen für Vermögende sowie niedrigere Zinsen. Neoliberale seien in den letzten 40 Jahren für soziale Verwerfungen verantwortlich, aber in Krisen greifen sie, so Bontrup, dann wieder auf Keynes’ Staatsinterventionen zurück.
Die neoliberalen Geister brauchen mal wieder Keynes
Schon 2009, im Jahr der ins Grundgesetz geschriebenen Schuldenbremse, habe ich in mehreren Veröffentlichungen dargelegt, dass die Schuldenbremse ökonomisch kontraproduktiv ist und die Spaltung der Gesellschaft vertiefen wird. Genau das ist eingetreten. Noch nie war Deutschland auf der einen Seite so reich und auf der anderen so arm. Der bekannte Politologe Christoph Butterwegge spricht von einer „zerrissenen Gesellschaft“. Neoliberale in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien haben in den letzten rund 40 Jahren die ökonomischen und sozialen Verwerfungen zu verantworten – nicht zuletzt auch den politischen Rechtsrutsch. In ihrem naiven Marktwahn haben die neoliberalen Herrschaftseliten in einer Zuschauerdemokratie vieles privatisiert und den Staat aufs Notwendige zurückgestutzt. Öffentliche Güter waren ein Graus, das Soziale wurde als Kostgänger der Wirtschaft diffamiert. Steuersenkungen für Unternehmer und Vermögende wurden dagegen als Wachstumstreiber fast heiliggesprochen und selbstverständlich mussten die Gewerkschaften und die abhängig Beschäftigten an die Kette gelegt werden. Shareholder Value war die Doktrin. Es kam zu einer gigantischen Umverteilung von den Arbeits- zu den Kapitaleinkünften. Arbeitslose wurden bekämpft und nicht die Arbeitslosigkeit als „Reservearmee“ zur Kleinhaltung von Lohnforderungen. Zudem ist in Deutschland ein nie für möglich gehaltenes Arbeitsprekariat geschaffen worden; heute trotz Arbeit arm, und im Alter weiter arm, bei einer nur mickrigen Rente.
Der große britische Ökonom Sir John Maynard Keynes nannte Regierende unfähig, bösartig und verrückt. Mit solch Führenden in der Politik stünde unsere Zivilisation kurz vor dem Ende. Die viel gelesene US-amerikanische Historikerin Barbara Tuchman hat es in ihrem Buch „Die Torheit der Regierenden. Von Troja bis Vietnam“ ein wenig freundlicher, aber auch deutlich ausgedrückt, wenn sie schreibt: „In der Regierungskunst, so scheint es, bleiben die Leistungen der Menschheit weit hinter dem zurück, was sie auf fast allen anderen Gebieten vollbracht hat. Warum bleiben Einsicht und Verstand so häufig wirkungslos?“
Wenn die neoliberalen Geister nicht mehr weiterwissen, berufen sie sich dann aber gerne auf den ansonsten verhassten Keynes, der schon in den 1920er-Jahren einen starken Interventionsstaat für kapitalistische Ordnungssysteme gefordert hat. Nach der schweren weltweiten Finanzkrise 2007-2009 war das so und auch nach der Pandemie 2020-2021. Ich gebe „laissez faire“ auf, das war die Botschaft von Keynes. Märkte verfügen über keine „Selbstheilungskräfte“. In der Krise muss der Staat per Verschuldung Geld ausgeben: die Privaten tun es nicht. Wenn keiner mehr Geld ausgibt, kann auch keiner mehr Geld einnehmen. Wenn wenigstens diese ökonomische Trivialität verstanden würde! Die Privaten sitzen in der kapitalistisch immanenten Krise in ihrer selbst aufgestellten „einzelwirtschaftlichen Rationalitätsfalle“, es kommt zu einem „Sparparadoxon“ und die Privatwirtschaft findet ohne staatliche Interventionen keinen Krisenausgang mehr.
Deshalb holen jetzt auch die Neoliberalen in ihrer Not, personalisiert durch den ehemaligen BlackRock-Manager Friedrich Merz (CDU), der sich anschickt, Bundeskanzler zu werden, Keynes erneut auf das finanzpolitische Spielfeld zurück, um das System vor sich selbst zu retten. Wurde Staatsverschuldung und die Abschaffung der Schuldenbremse in der Opposition und im Wahlkampf von Merz noch vehement abgelehnt, kann er auf einmal gar nicht genug vom keynesianischen deficit spending bekommen. Eine Billion Euro schuldenfinanzierte Staatsausgaben, wenn auch über die nächsten Jahre verteilt, hat es noch nie in der deutschen Geschichte gegeben. Drei Parteien mit Verlusten bei der Bundestagswahl, das gilt insbesondere für die SPD, wollen jetzt den alten und nicht den neu gewählten Bundestag über das geplante gigantische Verschuldungspaket abstimmen lassen. Die potenzielle Koalition aus CDU/CSU/SPD ist dabei nur von 37 Prozent der Wahlberechtigten gewählt worden und einige wenige Verhandler der Parteien haben sich in Hinterzimmern die am 8. März 2025 vorgelegten „Ergebnisse der Sondierungen von CDU, CSU und SPD“ ausgedacht.
Grundgesetzänderungen mit dem abgewählten Bundestag sind politisch verwerflich
Dabei sind sie auch zu dem Ergebnis gekommen, das die Schuldenbremse im Grundgesetz, die man nach wie vor nicht abschaffen will, nur für Rüstung ab einem Prozent, bezogen auf das nominale Bruttoinlandsprodukt (BIP), modifiziert werden soll. Das BIP lag 2024 bei 4.305,3 Milliarden Euro. Das wären dann schon gut 43 Milliarden Euro nur für Aufrüstung. Darüber hinaus wollen Politiker und Parteien angefeuert von Medien ernsthaft Rüstungsausgaben ohne Begrenzung nach oben per Aussetzung der Schuldenbremse genehmigen. Zur Zustimmung des Wahns im Bundesrat lockt man die unterfinanzierten 16 Bundesländer, die laut Schuldenregeln heute einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen müssen, mit einer Lockerung der Schuldenbremse. Künftig sollen auch hier die Länder, wie der Bund, 0,35 Prozent des nominalen Bruttoinlandsprodukts als Kredite aufnehmen dürfen. Das zivile Ausgabenprogramm soll dagegen als „Sondervermögen“ (richtig wäre hier der Begriff Sonderschulden) im Grundgesetz verankert werden.
Für beide Vorhaben braucht es aber zur Umsetzung eine Zwei-Drittel-Mehrheit, die im neu gewählten Bundestag nicht zustande kommt und auch im Bundesrat lange nicht gesichert war. Deshalb will man politisch tricksen, selbst wenn auch die Grundgesetzänderung gemäß Art. 39 GG verfassungsrechtlich mit dem alten Bundestag erlaubt ist. Dies zeigt einmal mehr, was Keynes über Volksvertreter dachte. Nur das Volk sollte über Grundgesetzveränderungen entscheiden, so wie es auch die Schweiz praktiziert.
Die geplante noch größere Aufrüstung ist an Dummheit nicht mehr zu toppen
„Putin wird Berlin nicht bombardieren“, sagt Sönke Neitzel, Professor für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt von der Universität Potsdam. Er kennt niemanden, der so etwas für realistisch erachtet. „Man glaubt eher, dass Russland sich auf ein begrenztes Testen der Nato konzentrieren wird mit dem Ziel, die Nato politisch zu zerstören. Neben den 100 Milliarden Euro, die als Sonderschulden im Zuge der sogenannten „Zeitenwende“ (Olaf Scholz) bereits 2022 in die Aufrüstung mit einer Veränderung im Grundgesetz verankert wurden, und das bei einer Armutsquote von rund 17 Prozent im Land, sind jetzt weitere 500 Milliarden Euro für die Rüstung vorgesehen; weitgehend von den Beschränkungen der Schuldenbremse ausgenommen.
Insbesondere die SPD sollte es hier aber nicht wagen, sich auf Keynes zu berufen, der einen Rüstungskeynesianismus strikt abgelehnt hat. Er sah die Gefahr und wusste, wohin Aufrüstung am Ende führt: in den Krieg, was dann ja auch mit dem Zweiten Weltkrieg passierte. Wie am Ende der Weimarer Republik treten aber auch heute wieder die Bellizisten auf. Man kann es nicht glauben. Hier wird frech behauptet und gelogen. Die Sicherheit Deutschlands sei wegen einer unterfinanzierten Bundeswehr in Gefahr. Richtig ist: „Die deutschen Ausgaben für Verteidigung (nach Nato-Kriterien) stiegen seit 2014 von 34,7 auf 57,7 Milliarden Euro im Jahr 2022. Das ist ein satter Anstieg um 66 Prozent in acht Jahren. „Es ist ein Mythos, dass die Bundeswehr schlecht ausgerüstet ist, weil sie zu wenig Geld bekommt“ (Herbert Wulf: Haushalts-Déjà-vu, in: Wissenschaft & Frieden, 2023/4). Die Bundeswehr muss einfach nur lernen, mit Geld rational umzugehen.
Wir müssten „kriegstüchtig“ (so der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius von der SPD) gemacht werden. Bundeswehrsoldaten empfiehlt man, sie sollten vorsorglich schon mal ihr Testament machen. Das „Reich des Bösen“, damals noch die so vom neoliberalen US-Präsident Ronald Reagan betitelte Sowjetunion, würde heute, bezieht man es auf Russland, in Deutschland und ganz Europa in eine Knechtschaft unter dem Diktator Putin führen. An dieser Stelle kann man dann nur noch dringend empfehlen, sich mit Geschichte und den tatsächlichen Fakten auseinanderzusetzen und vor allen Dingen die Präambel zum Grundgesetz zu lesen. Russland hat Deutschland noch nie angegriffen. Umgekehrt ist es aber richtig. Russland ist ökonomisch, sieht man einmal von seinen Rohstoffen ab, lediglich ein Zwerg und bei der konventionellen Rüstung den Nato-Staaten, auch ohne die USA, weit unterlegen. Russland ist jedoch bei der atomaren Rüstung auf Augenhöhe mit den USA. Wie kann man da nur eine Nanosekunde glauben, man könne Russland militärisch besiegen?
Steuererhöhungen für Vermögende sind notwendig
Neben der Aufrüstung sollen weitere 500 Milliarden Euro zur Umgehung der Schuldenbreme als Sonderschulden ins Grundgesetz geschrieben werden. Die hier vorgesehenen Staatsausgaben, verteilt über zehn Jahre, kann man weitgehend nachvollziehen, wenn auch von ganz radikalen Neoliberalen einige Ausgaben als konsumtive Staatsausgaben diskreditiert werden. Fakt ist, Deutschland leidet unter einer massiven Unterinvestierung. Es gibt nicht nur Infrastrukturprobleme. Energie, Klimaschutz, Gesundheit, Rente, Pflege, Bildung und sozialer Wohnungsbau, hier warten riesige ungelöste Probleme mit Milliarden an Aufwendungen. Das Geld, das man sinnlos in nichtreproduktive Rüstungsausgaben stecken will, müsste hier für zivile Aufgaben in eine optimale Allokation gebracht werden.
Bei aller Notwendigkeit der Finanzierung durch Staatsverschuldung darf aber nicht die Finanzierung durch Steuern vergessen werden. Hier empfiehlt sich endlich die Wiedereinführung einer Vermögensteuer auf das Geldvermögen der privaten Haushalte, das bei rund neun Billionen Euro liegt, und die Erhöhung der Erbschaftsteuer- und Kapitalertragssteuersätze. Damit könnte man dann auch den Rentier als „funktionslosen Investor“ (Keynes), zumindest ein Stück weit, gesellschaftlich sanktionieren. Auch ist in Anbetracht der zukünftig riesigen Aufgaben in Deutschland ein teilweiser Verkauf der Goldbestände bei der Deutschen Bundesbank zu überlegen, ohne dass es am Markt wegen des zusätzlichen Angebots zu einem größeren Preisverfall kommt. Und da in der EU alle Mitgliedsstaaten vor ähnlichen Herausforderungen und Belastungen in ihren Volkswirtschaften und ihrer Haushalte stehen, wobei hier die Staatsverschuldung in vielen Ländern wesentlich höher ist als in Deutschland, muss die Europäische Zentralbank (EZB) den Leitzins wieder auf null stellen. Dies alleine schon deshalb, weil ansonsten die Vermögenden von der Staatsverschuldung mit hohen Zinsen profitieren und weil niedrige Zinsen zu privaten Investitionen anregen, die neben den öffentlichen Ausgaben ebenso notwendig sind.
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