EU-Europäische Emanzipation – Feindbildproduktion und Aufrüstung als neuer Integrationskitt?

EU-Europäische Emanzipation – Feindbildproduktion und Aufrüstung als neuer Integrationskitt?

EU-Europäische Emanzipation – Feindbildproduktion und Aufrüstung als neuer Integrationskitt?

Alexander Neu
Ein Artikel von Alexander Neu

In EU-Europa herrscht eine toxische Atmosphäre – eine Atmosphäre, die sich aus Unsicherheiten, Enttäuschung, Wut und einem daraus resultierenden Aktionismus in Form von trotzigem Widerstand, Aufrüstungsorgien und dem Willen, europäische Truppen in der Ukraine zur Absicherung des Friedens zu dislozieren, ausdrückt. Man könnte den Eindruck gewinnen, die EU habe nun nur noch eine Aufgabe und ihre Mitgliedsstaaten müssten daher noch enger zusammenrücken – quasi zur am Abgrund stehenden Schicksalsgemeinschaft, die verdammt ist, gegen den Rest der Welt die Fahne der Zivilisation aufrechtzuhalten. Von Alexander Neu.

So verfassten jüngst in der deutschen außen- und sicherheitspolitischen Community 18 Wissenschaftler einen Aufruf unter dem Titel „Einigt Euch!“ zur alternativlosen Notwendigkeit der Aufrüstung Deutschlands und Europas an die Parteien im Deutschen Bundestag. Unter anderem wird darin konstatiert:

„Getrieben werden die Veränderungen von dem Rückzug der USA als globaler und europäischer Ordnungsmacht (…). Insbesondere die Positionierung der USA unter Trump fordert Deutschland. Unter Trump entwickelt die USA ein antagonistisches Verhältnis zur Ukraine und Europa. (…) Europa und die Ukraine sind Verhandlungsmasse, über deren Köpfe hinweg entschieden wird. Washington wendet sich von der liberalen Ordnung ab hin zur Autokratie. Von einem Verbündeten und Schutzmacht werden die USA zu einem Sicherheitsrisiko für Europa.“

Ein von der Übermutter USA verlassenes, ja verstoßenes EU-Europa, das unfreiwillig der einzig verbliebene Hort der liberalen Weltordnung sei, einer Ordnung, die die Spitze und somit das Ende der zivilisatorischen Entwicklung in Anlehnung an Fukuyamas Theorie des „Ende der Geschichte“ darstellt – mehr geht einfach nicht. Und dieses EU-Europa plus Großbritannien müsse nun die Bürde der Verteidigung der freien und liberalen Welt allein tragen: „Amerika ist gegangen – Europa muss es ersetzen“, so der Titel des Beitrages eines Senior Research Fellow, Center for Geopolitics, Geoeconomics and Technology der „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik“ (DGAP). Und weiter: „Während die Trump-Administration Amerikas Glaubwürdigkeit und internationales Ansehen rapide zerstört, muss Europa seine reichlichen Ressourcen mobilisieren, um Amerika als globalen Führer zu ersetzen.“

EU-Europa sei nun in der unfreiwilligen Situation, es müsse sich mit aller Kraft nicht nur als eigenständiger Akteur der Weltpolitik behaupten, sondern sich vielmehr auch noch gegen Russland, China und sogar gegen den einst wichtigsten Verbündeten, den vom Kurs abgekommenen USA, wenden. Und die plötzliche Wendung gegen den einst großen Bruder speist sich aus einer tiefsitzenden Enttäuschung, ja einer enttäuschten, tatsächlich jedoch eher einseitigen Liebe. Diese Enttäuschung basiert auf gleich mehreren miteinander verknüpften Ebenen:

Erstens, der Wille der Trump-Administration zu einer wie auch immer aussehenden schnellstmöglichen Friedenslösung des russisch-ukrainischen Krieges, während man in Brüssel nach wie vor auf den Sieg der Ukraine setzt, ungeachtet der zähneknirschenden Zustimmung zu Trumps Waffenstillstandsoption an der Front.

Zweitens, diesen Willen, ohne und im Zweifel auch gegen EU-Europa, aber mit Russland durchzusetzen. Zugleich jedoch EU-Europa zum Zahlmeister des Wiederaufbaus der Ukraine zu degradieren, womit drittens D. Trump das Ende der transatlantischen Welt besiegeln und eine neue Weltordnung, aber ohne EU-Europa als Akteur, befördern würde. Großbritannien sowie EU-Europa und deren Führungsnationen und ehemaligen weltbestimmenden Kolonialmächte fielen damit erstmals seit Jahrhunderten als globale, ja sogar schlimmer noch als (mit)entscheidende Gestaltungsmächte des eigenen Kontinents weg.

Hinzu kommt viertens der Kollaps des westlichen Kitts, mithin des ideologischen Überbaus: Das etablierte Selbstverständnis, nach dem der Westen das „Gute“, den paradiesischen Garten, und der Rest der Welt das „Böse“, den Dschungel verkörpere, so auch R. Kagan, neokonservativer Politikberater und Publizist sowie Ehemann von Victoria Nuland (der Maidan-Architektin), in seinem in der außen-, sicherheits- und geopolitischen Community vielbeachteten Werk „Macht und Ohnmacht – Amerika und Europa in der neuen Weltordnung“.

Diese moralisch basierte und unterkomplexe, ja geradezu infantile, den Realitäten nicht gerecht werdende binäre Denkstruktur von „Gut“ und „Böse“ zerschellt spätestens an den neuen Realitäten des Multipolarisierungsprozesses und der realpolitisch ausgerichteten Hinwendung der USA auf diese neuen Realitäten.

Die daraus resultierenden Emotionen der Enttäuschung und Unsicherheiten sowie die damit einhergehenden beispiellosen Aufrüstungsforderungen stellen eine emotionale Überreaktion dar. Diese droht den Gründungsgedanken der europäischen Integration als ein beispielsetzendes und dauerhaftes Friedensprojekt in sein Gegenteil zu verkehren.

Man könnte den Eindruck gewinnen, dass das neue Selbstverständnis der unfreiwilligen Schicksalsgemeinschaft, der damit einhergehenden Feinbildproduktion sowie dem forcierten Aufrüstungswillen als neuer Integrationskitt EU-Europas hin zu einem eigenständigen Global-Player-Status in der Phase des weltweiten Epochenbruchs dienen soll.

Kurzer Rückblick: Europäische Integration als unvollendetes Friedensprojekt

Die Erkenntnis aus zwei Weltkriegen, die sich vor allem in Europa abspielten und diesen Kontinent zumindest in Mittel- und Osteuropa weitgehend zerstörten, war: „Nie wieder!“. Es blieb aber nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur bei dieser Erkenntnis des „Nie wieder!“. Vielmehr wurde erstmals die Axt an das Konzept des europäischen Nationalstaats gelegt. Es sollten gemeinsame, kontinuierliche und verbindlich wirkende Kooperationsstrukturen im zwischenstaatlichen Verkehr geschaffen werden, um die Gefahren eines erneuten Krieges in Europa zu vermindern: Die Geburtsstunde der europäischen Integration brach an, angefangen mit der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (auch „Montanunion“ genannt). Der Grund für genau diesen ersten Gemeinschaftsschritt war: Kohle und Stahl sind kriegswichtige und -entscheidende Rohstoffe für die Rüstungsproduktion und somit für die Kriegsführung.

Und tatsächlich konnte mit der europäischen Integration ungeachtet möglicher Defizite und Irrungen Eines und damit das Wichtigste verhindert werden: Ein erneuter Krieg zwischen den Mitgliedsstaaten. Ja, selbst die deutsch-französische Erbfeindschaft wurde überwunden, was tatsächlich ein Erfolg ist. Der Integrationsprozess auf dem europäischen Kontinent wurde hauptsächlich indes nicht nur nach dem Wunsch nach innereuropäischem Frieden begleitet, sondern auch nach dem Wunsch einer guten Nachbarschaft, der Lösung grenzübergreifender Herausforderungen, der Steigerung des wirtschaftlichen Wohlstandes durch die Schaffung eines Binnenmarktes, der Behauptung europäischer Werte sowie auch eines wachsenden Einflusses in der internationalen Politik.

Aber genau Letzteres wurde nie ambitioniert verfolgt. Angesichts der ideologischen Konfrontation fand die westeuropäische Außenpolitik immer unter dem Schirm der US-geführten NATO statt. Eine wirklich nationale oder damals EG-weite selbstständige Außen- und Sicherheitspolitik existierte de facto nicht. Wie auch immer man den weitgehenden Verzicht auf eine außen- und sicherheitspolitische Selbstständigkeit vor dem Hintergrund der bipolaren Weltordnung, geformt durch die beiden nuklearen Supermächte USA und UdSSR, bewerten mag, eines ist jedoch klar: Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation öffnete sich das Zeitfenster, Kontinentaleuropa – auch unter Einschluss post-sowjetischer Staaten – umfassend zu einigen und diesen Kontinent in welcher Integrationsdichte auch immer zu einem gesamteuropäischen Friedensprojekt und somit einem Leuchtturm in der Weltpolitik zu erheben. Die Grundlage hierfür bot die „Charta von Paris“, verabschiedet im November 1990, die ein neues Zeitalter ausrief – ein neues Zeitalter, das jedoch über die Papierform hinaus nie an Relevanz gewann.

Die westeuropäischen Staaten unterwarfen sich unter anderem aus Bequemlichkeit und ideologischer Einnistung (man hatte den Kalten Krieg mit der Führungsnation USA doch gewonnen und folgte daher dem Motto „never change a winning team“) weiterhin den globalpolitischen Vorstellungen („Neue Weltordnung“, ausgerufen von G. Bush sen.) der USA und betrachteten die NATO als alleinige Sicherheitsinstitution in und für Europa. Auch mit dem Lissaboner Vertrag, der umfassende Regelungen zur gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik schuf, ist tatsächlich keine Emanzipation EU-Europas zu beobachten gewesen. Im Gegenteil: Die Vernetzung von EU und NATO wurde vorangetrieben. Es galt immer: „NATO first“, wenn es um europäische Sicherheitsfragen ging. Auch die letzten Momente einer EU-europäischen außen- und sicherheitspolitischen Selbstständigkeit wurden Ende der 2000er-Jahre zu Grabe getragen.

Mit dem Beginn der Ukraine-Krise 2013/14 übernahmen die USA vollends die Regie. Was die US-Administration über EU-Europa so dachte, fasste die damalige Unterabteilungsleiterin im Außenministerium, Victoria Nuland, im Kontext des Maidan-Putsches in drei Worten komprimiert zusammen: „Fuck the EU“. Nun, wer keine Selbstachtung hat, der kann schlechterdings Respekt durch Dritte erwarten. Allerdings muss die These, wonach die politische Klasse in EU-Europa sich dem Druck aus Washington nur widerwillig unterwarf, angesichts der neuesten Entwicklungen in Form des Widerstandes EU-Europas gegen die USA auf den Prüfstand. Das transatlantische Verhältnis, so wie wir es seit Generationen kannten, basierte wohl nicht nur auf dem Vorzeigen US-amerikanischer Instrumente, sondern auch auf einem sehr bereit- und freiwilligen Verzicht auf außen- und sicherheitspolitische Souveränität sowohl der europäischen Nationalstaaten als auch EU-Europas.

Der unfreiwillige Sprung ins kalte Wasser

Der politische und massenmediale Mainstream war über Dekaden auf die transatlantische Ideologie geradezu konditioniert. Experten, die abweichende Sichtweisen und Sicherheitskonzepte vertraten, wurden totgeschwiegen oder diffamiert, bestenfalls als Naivlinge bezeichnet. Nein, die politischen Entscheider EU-Europas wollten von sich aus keine außen- und sicherheitspolitische Souveränität, keine Sicherheit von Europa für Europa. Dazu bedurfte es erst des harten Stoßes ins kalte Wasser durch den allmächtigen Bruder jenseits des großen Teiches in Form der Trump-Administration. So auch der deutsche Politikwissenschaftler H. Münkler in einem Interview:

„Die deutsche Politik – teils auch die europäische Politik insgesamt – war durch einen geringen Weitblick geprägt. Es herrschte ein naives Vertrauen: Die Amis würden das schon machen, wie sie es in der Vergangenheit immer wieder getan hatten. Der Gedanke, dass die USA dieser Rolle irgendwann überdrüssig werden könnten, wurde nicht zugelassen. (…).

Immer wieder wurde hierzulande auch über eine strategische Autonomie Europas geredet, aber das waren semantische Manöver, denen keine Taten folgten. Der politische Scheck war nicht von der Realität gedeckt, so lässt es sich zusammenfassen. Nun haben wir den Schlamassel. (…).

Die erste „Zeitenwende“ durch den russischen Überfall im Februar 2022 war noch die Reaktion auf ein regional überschaubares Ereignis. Was wir jetzt erleben, ist die „Zeitenwende 2.0“: die Auflösung des transatlantischen Westens als geopolitisch herausgehobener Akteur. Nun wird es wirklich ernst. Die Zeiten sind vorbei, in denen deutsche Politiker erklären konnten, dass sie am liebsten von hinten führen, und zwar durch das Schmieden von Kompromissen.“

Nun ist also die Hölle los in EU-Brüssel, Paris, Berlin und sogar London. Wo werde Europa bleiben in dem Prozess der globalen Neuordnung und gerade jetzt verlassen, ja geradezu verraten von den USA? Man sei auf eine solche Entwicklung nun wirklich nicht vorbereitet gewesen.

Und ja, wenn ich eines glaube, ist es genau das: Man war nicht vorbereitet, obschon sich die Welt nicht erst seit dem 28. Januar, dem Amtsantritt D. Trumps, verändert, sondern bereits seit den 2000er-Jahren in zunächst sehr langsamen Schritten. Man war nicht vorbereitet, weil man es nicht sein wollte. Man hielt an einem Weltbild fest, das spätestens mit dem Ukraine-Konflikt bei nüchterner Betrachtung real zu bröseln begann. Man konservierte ein Weltbild, dass sich in immer größeren und eigentlich unübersehbaren Schritten von der realen Welt entfernte. Man wurde Opfer der eigenen, der transatlantischen Ideologie. Ideologie statt Realpolitik bestimmt das politische Denken und Handeln EU-Europas. Und nun der tiefe Fall.

Und die Losungen ändern sich über Nacht: Nicht mehr USA, nicht mehr so sehr NATO, sondern europäische Selbstbehauptung, europäische Interessen, europäische Sicherheit – all das müsse nun nach dem „Verrat“ durch US-Präsident D. Trump von Europa selbstständig gesichert werden. Und schon werden die Preise dafür genannt: 800 Mrd., so die EU-Kommissionspräsidentin U. von der Leyen, wolle sie versuchen zu mobilisieren. Die „neue Koalition der Schuldenmacher“, bestehend aus CDU/CSU, SPD und Die Grünen, will alle anvisierten Militärausgaben, die oberhalb des BIP von einem Prozent liegen (derzeit rund 43 Mrd. €) von der Schuldenbremse „befreien“, heißt darüber hinaus gehende Ausgaben zu kreditieren.

Und damit die SPD, Die Grünen und die Bundesländer auch glücklich sind, sollen nochmals rund 500 Mrd. durch ein schuldenfinanziertes „Sondervermögen“ für den Ausbau der Infrastruktur locker gemacht werden, womit auch der deutsche Steuerzahler für den Augenblick milde gestimmt werden soll. Und all das entscheidet der bereits abgewählte Bundestag unter Führung von F. Merz, dem teuersten Bundeskanzler in spe aller Zeiten, da der neue Bundestag angesichts seiner Zusammensetzung nicht die notwendigen Mehrheiten für die dafür notwendigen Grundgesetzänderungen hätte. Kurzum: Massenhafte Verschuldungen der Haushalte sind plötzlich kein Problem mehr – Schuldenbremse ade, wenn es um militärische Rüstung geht.

In dem Bundeshaushalt 2025 sind bereits 33,2 Mrd. Euro Steuergelder allein an Bundesschuld zur Rückzahlung veranschlagt. Das macht fast sieben Prozent des gesamten Bundeshaushaltes aus. Dieser Posten ist der fünftgrößte Haushaltsposten. Die Verteidigungsausgaben im Einzelplan 14 belaufen sich auf 53,25 Mrd. Euro und machen den zweitgrößten Haushaltsposten mit knapp 11 Prozent-Anteil aus. Hinzu kommen weitere Militärausgaben, die in anderen Einzelplänen versteckt sind (Berechnung nach sogenannten „NATO-Kriterien“).

Wer die künftigen Schulden (euphemistisch „Sondervermögen“) zurückzahlen muss, ist klar: der Steuerzahler. Dafür werden künftig in anderen Ressorts wie Bildung, Gesundheit oder Familie gewaltige Einsparungen zu erwarten sein. Denn EU-Europa als auch militärisch ernstzunehmender Globalakteur ist das neue Integrationsprojekt – und das hat seinen Preis, den die EU-Europäer bereit sein sollen zu zahlen.

EU-Europa als Global Player?

Doch, wie tragfähig und nachhaltig ist ein Integrationsprojekt, dessen Kitt die behauptete Schicksalsgemeinschaft, die Feinbildproduktion und die Aufrüstungsorgie ist? Man sollte nicht übersehen, dass es sich bei der EU um ein sensibles, ja mehr noch fragiles Konstrukt, bestehend aus 27 Mitgliedsstaaten mit auch eigenen Vorstellungen und Interessen handelt. Lassen sich mittelfristig erscheinende zentrifugale Kräfte nur durch Feindbildnarrative einhegen? Werden nicht einige osteuropäische Staaten doch eher auf die Partnerschaft mit den USA setzen, zumal ihnen auch kulturell die US-Administration unter D. Trump mit Blick auf traditionelle Werte näherstehen als die liberal-individualistischen Vorstellungen Westeuropas?

Warum hat der ukrainische Präsident W. Selenskyj unmittelbar nach dem Ad-hoc-Ukraine-Gipfel der Europäer in London als Reaktion auf den zwei Tage zuvor stattgefundenen Eklat in Washington dann doch den Rohstoffdeal mit D. Trump vorgezogen und Waffenstillstandsverhandlungen unter US-Führung zugestimmt? Waren es nur viele warme Worte der Solidarität und eiserne Durchhalteparolen, aber wenig finanzielle und materielle Gaben, die die Europäer ihm lieferten und die ihn schließlich dazu veranlasst hatten, die Frage der Partner der Ukraine neu zu bewerten? Für die Europäer muss der Canossagang W. Selenskyjs zurück zu D. Trump ein Schlag ins Gesicht gewesen sein. Hat W. Selenskyj damit deutlich gemacht, dass ihm der US-amerikanische Spatz in der Hand (Waffenstillstandsverhandlungen unter US-Führung) sicherer erschien als die europäische Taube auf dem Dach (Sieg der Ukraine mit europäischer Unterstützung)?

Wird der möglicherweise anstehende wirtschaftliche Niedergang EU-Europas nicht auch zu sozialen Protesten in den EU-Mitgliedsstaaten führen, die die politischen Entscheider zu Kurskorrekturen zwingen werden? Jetzt wird gerade über den wirtschaftlichen Aufschwung dank Aufrüstung fabuliert, der tatsächlich stattfinden könnte – siehe die relative Stabilität der russischen Kriegswirtschaft. Aber dieser Ansatz ist ein Strohfeuer, er ist wirtschaftlich nicht nachhaltig, da Waffen statt Produktions- und Konsumgüter produziert werden.

Ich halte das neue Integrationsprojekt auf der Grundlage einer Feinbildproduktion und massiver Aufrüstung mit der Aussicht auf den Status eines künftigen Global Players Europa für wenig aussichtsreich:

Erstens hätte (EU-)Europa diesen Prozess wesentlich früher und ernsthafter angehen müssen, als der Leistungsdruck noch nicht so groß gewesen ist, liefern zu wollen, was man glaubt, nun liefern zu müssen. Nun soll im Zeitraffer nachgeholt werden, was in den 35 Jahren nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation und der Unterzeichnung der „Charta von Paris“ ideologisch motiviert verweigert wurde: die Selbstständigkeit Europas, was eben auch bedeutet: Sicherheit von Europa für Europa. Der Zeitrafferaspekt stellt indessen eine Quelle für eklatante Fehlentscheidungen dar. Das Militarisierungsprojekt und die Abwicklung des Friedensprojekts EU ist meiner Meinung nach eben diese Fehlentscheidung. Den politischen Entscheidern fällt offensichtlich nichts anderes ein als Aufrüstung und militärische Stärke. Der Begriff der Diplomatie ist hingegen aus dem außen- und sicherheitspolitischen Vokabular verbannt worden.

Zweitens stellt die Kohäsion eines Projektes, hier EU-Europas, auf der Grundlage von Feindbildern und Abgrenzung nach außen keine Nachhaltigkeit dar – zumindest dann nicht, wenn andere Integrationsfaktoren, wie beispielsweise gemeinsames Wirtschaftswachstum oder gesellschaftliche Zufriedenheit mit der EU, in den Hintergrund treten. Feindbildproduktion als Ersatzinstrument für die EU-Kohäsion wird nicht ausreichen.

Und drittens: Wer soll eine so große Staatengruppe wie die EU, die aus 27 Staaten mit unterschiedlichen ökonomischen, demographischen und sodann politischen Gewichten besteht, lenken? Eine EU-Bürokratie, an deren Spitze eine EU-Kommission steht, die über nur wenig demokratische Legitimation verfügt? Dies wäre ein Problem für eine Schicksalsgemeinschaft, die den Wert der Demokratie besonders hervorhebt. Ein Führungsduo, bestehend aus Frankreich und Deutschland? Deutschland ist wirtschaftlich stärker, Frankreich als Atommacht militärisch. Eine gute Ausgangsbasis für eine komplementäres Konzept. Aber kann das wirklich funktionieren? Wird es nicht einen Konkurrenzkampf darum geben, wer letztlich das Sagen hat? Und damit sind wir bei der letzten Nicht-Option: Es gibt in EU-Europa keine dominante Führungsmacht – auch nur annähernd vergleichbar mit den USA –, die das Konstrukt mit konsensfördernden Projekten zusammenhält und im Zweifel auch Druck ausübt, um die Geschlossenheit zu gewährleisten, wie einst die USA den politischen Westen geführt haben.

Meine These lautet: Die EU und/oder ihre Mitgliedsstaaten werden sich mittelfristig angesichts der oben genannten Probleme den Realitäten stellen und aufgrund mangelnder Kreativität für die Suche nach Alternativen sich auch den neuen USA unterwerfen. Das Verhältnis wird ein kühles und von den USA sehr dominantes sein. Die Frage ist nur, ob EU-Europa weitgehend geschlossen handeln wird oder ob die EU-Staaten einzeln um die Gunst der Trump-Administration buhlen werden, was das Ende der europäischen Integration bedeuten könnte. Aber nur geschlossen und im altbekannten Windschatten und unter den harten realpolitischen Bedingungen der Trump-Administration wird EU-Europa etwas Mitspracherecht bei der Gestaltung der Weltordnungspolitik eingeräumt werden. Die Alternative eines gesamteuropäischen sicherheitskollektiven Ansatzes im Sinne der „Charta von Paris“ steht in den europäischen Hauptstädten nach wie vor nicht auf der Agenda. Diese Umsetzung wäre aber wichtig, um EU-Europa die drohende Rüstungsspirale buchstäblich zu ersparen und eine zivile Gestaltungskraft zu verleihen, die sich auf wirtschaftliche und diplomatische Instrumente konzentriert.

Titelbild: Shutterstock / Anelo