Erich Vad: „Teile einer politischen, intellektuellen und medialen Klasse scheinen zum Krieg bereit“

Erich Vad: „Teile einer politischen, intellektuellen und medialen Klasse scheinen zum Krieg bereit“

Erich Vad: „Teile einer politischen, intellektuellen und medialen Klasse scheinen zum Krieg bereit“

Ein Artikel von Marcus Klöckner

„In Europa verschärft die Politik eine Situation, die nicht von Fakten abgedeckt ist“ – das sagt Erich Vad im Interview mit den NachDenkSeiten. Der Brigadegeneral a. D. warnt vor Gefahren einer europäischen Politik, die von Ideologie und Wunschdenken getrieben ist und sich von der Wirklichkeit verabschiedet. Vad, der in seinem Buch „Ernstfall für Deutschland: Ein Handbuch gegen den Krieg“ darlegt, was ein Krieg der NATO mit Russland für Deutschland und Europa bedeuten würde, fordert eine Abkehr von Illusionen und Kriegsrhetorik. Der ehemalige militärpolitische Berater von Bundeskanzlerin Merkel verdeutlicht: „Krieg setzt eine politische Entscheidung voraus. Und diese Entscheidung wird in Washington und Moskau gefällt werden und nicht Europa oder Deutschland.“ Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Marcus Klöckner: Medien sind voll von Berichten zum Krieg in der Ukraine. Oft ist von der Eskalation zu einem Krieg zwischen NATO und Russland zu hören. Viele fragen: Was passiert hier eigentlich? Was ist Ihre Antwort?

Erich Vad: Im Westen, in Europa, verschärft und eskaliert die Politik einen festgefahrenen Krieg in der Ukraine, in dem es keine militärische Lösung geben wird. Das ist gefährlich. Das kann zu dem führen, was man verhindern will: Krieg in und mit Europa. Andererseits: Nach Lage der Dinge wollen die USA und wohl auch Russland den Ukraine-Krieg beenden. Die diesbezüglichen Aussagen scheinen klar. Beide Staaten arbeiten mit Unterhändlern an Waffenstillstandsverhandlungen. Das lässt hoffen.

Sie meinen, wenn die USA und Russland sagen, der Krieg soll beendet werden, dann ist das auch so?

So ist es, und dies werden die Europäer trotz gegenläufiger politischer Rhetorik nicht beeinflussen können. Im Grunde genommen ist es so: Wirklich satisfaktionsfähig im Blick auf Krieg und Frieden in Europa und in der Ukraine sind nur die USA und Russland. Das gilt seit 1945, mittlerweile seit 80 Jahren. Putin wird dies am 9. Mai mit einer großen Militärparade auf dem Roten Platz zum Ausdruck bringen. Vielleicht ist Trump sogar dabei und beide Siegermächte des Zweiten Weltkrieges verdeutlichen gemeinsam, wer in Europa das Sagen hat.

Gleichzeitig schüren Medien und Politik bei uns Kriegsangst und reden von einem möglichen russischen Angriff auf die NATO und Europa. Einige sehen das in fünf Jahren auf uns zukommen, andere schon im Herbst dieses Jahres. Was halten Sie davon?

Viele Beobachter, Analysten und Experten machen den Fehler, laufende Entwicklungen so zu extrapolieren, dass es dem eigenen, erwarteten oder gewünschten Bild von der Lage entspricht. Das war auch in den letzten beiden Jahren des Krieges so, wenn regional und lokal begrenzte, erfolgreiche militärische Offensiven der Ukrainer medial gefeiert und als nachhaltig, sogar als die Gesamtlage verändernde, kriegsentscheidende und zum Sieg führende Entwicklungen abgebildet wurden. Dass hier, weit weg von der Realität, der Wunsch Vater des Gedankens war und ist, haben viele nicht bemerkt. Mittlerweile sieht auch der Laie, dass die militärische Lage für die Ukraine desaströs ist.

Das jetzt politisch und medial bemühte Narrativ ist es nun, dass die Russen, die gerade Mühe haben, den Donbass zu besetzen und nur sehr langsam vorrücken, auf dem besten Weg seien, die gesamte Ukraine zu besetzen, um dann die NATO und Europa anzugreifen. Das sind „Dominotheorien“, die gefährlich sind, die zu einer „self-fulfilling prophecy“ und damit zu fatalen Fehlentwicklungen führen können. Der zehn Jahre dauernde Vietnamkrieg der USA beispielsweise, der zur weitgehenden Zerstörung des Landes und zu rund drei Millionen Toten führte, ist auf eine solche Dominotheorie zurückzuführen. Solche Dominotheorien legitimierten zahlreiche andere offene und verdeckte Regime-Change-Operationen der USA in Lateinamerika, in Afrika und in Südostasien während des Kalten Krieges.

Ähnlich gilt das auch für kürzlich in den Öffentlich-Rechtlichen geäußerte Befürchtungen, aus dem im Herbst routinemäßig stattfindenden Sapad-2025-Militärmanöver Russlands mit Belarus heraus werde das Baltikum angegriffen, damit ein großer europäischer Krieg ausgelöst und dass wir so den letzten Sommer im Frieden verbringen würden.

Das schließen Sie aus?

Natürlich ist fast alles möglich, und ich nehme die Besorgnis der Anrainerländer sehr ernst. Man muss aber zugleich aufpassen, Panikmache zur besten ÖR-Sendezeit zu propagieren, und das auch noch während bereits laufender Waffenstillstandsvorgespräche. Natürlich gehen von russischen Militärmanövern gerade jetzt in Zeiten des Krieges eskalierende, politische Botschaften aus. Das war im vergangenen Jahr beim größten Militärmanöver der NATO seit Ende des Kalten Krieges „Steadfast Defender“ auch der Fall. Auch da haben – diesmal russische – Medien propagandistisch einen nahen Krieg herbeireden wollen. Das gehört zur sogenannten Informationsfront gewissermaßen dazu, wenngleich man aus Militärmanövern nicht zwingend ableiten kann, dass sie automatisch in den Krieg führen. Jeder Krieg setzt eine entsprechende politische Entscheidung voraus. Ich sehe es derzeit nicht, dass in Washington und Moskau, Riad oder in Dschidda ein großer Krieg, sondern dass eher ein baldiger Waffenstillstand politisch vorbereitet wird, was mich beruhigt.

Dennoch sollen deutsche Soldaten die „Welt retten“? Warum ist das so?

Das ist sehr überspitzt gefragt. In der Tat scheinen wir in Deutschland eine politische, intellektuelle und mediale Klasse zu haben, die in Teilen zum Krieg bereit ist, auch und vielleicht gerade deshalb, weil es sie nicht existentiell betrifft und sie solche Lagen überhaupt nicht realistisch einschätzen können. Erich Maria Remarque hat das einmal sehr schön auf den Punkt gebracht: „Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind. Besonders die, die nicht hingehen müssen.“

Zudem ist in Deutschland die Wehrbereitschaft außerhalb aktueller politischer Rhetorik stark unterentwickelt. Wir werden trotz des anstehenden Sondervermögens und der Gelder für Aufrüstung Jahre brauchen, bis die Bundeswehr einsatzfähig ist. Der jüngste Bericht der Wehrbeauftragten Eva Högl zeigt einmal mehr, wie es tatsächlich um die Bundeswehr bestellt ist. Nicht wenige Politiker, gerade solche, die sich besonders mit Kriegsrhetorik schmücken wollen, waren Wehrdienstverweigerer, die noch dazu früher als Politiker alles getan haben, um die Bundeswehr kurz und klein zu halten. Jetzt verbreiten sie eine Kriegshysterie, die mich bedenklich stimmt. Das kann ich nicht ernst nehmen, wenn sie in Politik und Medien den Krieg herbeireden, ohne die Fähigkeiten dazu zu haben.

In Deutschland wird gerade versucht, ein riesiges Aufrüstungsprogramm anzuschieben. Was wäre denn im Falle eines Krieges mit Russland? Sie haben ja ein Szenario in Ihrem Buch beschrieben.

Wenn der Ukrainekrieg eskalierte, hätten wir einen europäischen Krieg, und das heißt: Dann haben wir den Krieg im eigenen Land. Deutschland ist das Aufmarschgebiet und die logistische Drehscheibe für die NATO, und zwar sowohl mit als auch ohne die USA. Wir haben in Deutschland noch Dutzende wichtige amerikanische Militäreinrichtungen und Hauptquartiere, aus denen heraus weltweit Militäreinsätze sowie militärische und geheimdienstliche Operationen geführt werden.

Allein schon aufgrund unserer geografischen Lage wären Deutschland, aber auch Polen mittendrin. Deshalb: Krieg kann keine rationale Option für Deutschland sein. Wir müssen auf Abschreckung setzen. Das ist unsere Option als Ausdruck unserer vitalen Interessenlage: Es darf nicht zu einem Krieg im Zentrum Europas kommen. Wenn, dann hätten wir alles falsch gemacht – betrachtet aus unserer nationalen Interessenlage.

Die USA haben nie einen Krieg geführt, in dem sie Gefahr liefen, dass ihr Land zerstört worden wäre. Geographisch liegen die USA über 5.000 Kilometer weit weg von Europa. Ein europäischer Krieg oder sogar ein begrenzter Nuklearkrieg in Europa würde die USA nicht weiter tangieren und wäre aus US-Sicht eine rationale, einzuplanende Option. Aber Deutschland hat nicht die amerikanische Sicht, sondern die eigene Sicht zu beachten. Für uns stünde unsere Existenz auf dem Spiel. Bei einem Krieg in Europa würde unser Land so aussehen wie beim Ausgang des Zweiten Weltkrieges vor jetzt 80 Jahren, wenn nicht noch schlimmer.

Nur dass damals noch nicht wirklich Nuklearwaffen im Spiel waren.

Das stimmt. Bis 1942 lagen die deutschen und amerikanischen Nuklearplanungen in etwa auf gleicher Höhe. Gott sei Dank waren die USA schnell weiter, insbesondere deshalb, weil die Deutschen sich einen kräfteverzehrenden Vernichtungskrieg mit der Sowjetunion lieferten und schwerpunktmäßig auf Raketen und Marschflugkörper, also auf die V2 und V1 setzten und nicht prioritär auf die Atombombe, die die USA dann auf Hiroshima und Nagasaki abwarfen und damit den Zweiten Weltkrieg beendeten.

Deswegen muss es das oberste Prinzip deutscher Außen- und Sicherheitspolitik sein, einen Krieg durch militärische Abschreckung zu verhindern – nicht aus Gründen der Angst, der Feigheit oder des Pazifismus, sondern des rationalen Gefahrenbewusstseins und einer realistischen Beurteilung unserer geopolitischen Situation im Zentrum Europas und im Mittelpunkt eines künftigen europäischen Krieges.

Dessen ungeachtet steht neben der Wiedereinführung der Wehrpflicht das politische Großvorhaben „Kriegstüchtigkeit“ auf der Agenda. Wie stehen Sie dazu?

Gegen kriegstüchtige Streitkräfte habe ich per se nichts einzuwenden, denn eine Armee, die nicht kriegstüchtig ist, kann man sich sparen. Betrachten wir die Bundeswehr: Sie ist in einem desolaten Zustand. Das ist nicht nur eine Geldfrage, und das wird man durch diesen möglichen Geldsegen auch nicht von heute auf morgen beenden können. Eine kleine Pflanze wird nicht schöner dadurch, dass man 100 Liter Wasser auf sie kippt. Es wird Jahre dauern, bis wir unsere Streitkräfte wieder auf einem Niveau haben, wie wir es im Kalten Krieg besaßen. Dennoch: Der Forderung, dass wir mehr für unsere Verteidigung tun sollten, was die USA berechtigterweise seit Langem verlangen, schließe ich mich an.

Da hört man nun den Brigadegeneral a. D. sprechen (lacht). Den Begriff „kriegstüchtig“ halte ich für sehr problematisch. Er setzt sich aus dem positiv besetzten Wort „tüchtig“ und dem negativ besetzten Wort „Krieg“ zusammen. Tüchtig zu sein, das betrachten wir in unserer Gesellschaft als erstrebenswert. Aber „tüchtig“ für einen Krieg zu sein? Sollte es nicht darum gehen, dem grundgesetzlichen Friedensauftrag gerecht zu werden? Dazu braucht es keine Kanonen, sondern eher die Friedenspfeife, oder?

Ja, das ist richtig. Ich nehme das grundgesetzliche Gebot von Friedenspolitik aus Deutschland heraus wörtlich und ernst. Die Politik muss auf Frieden und Ausgleich ausgerichtet sein. Trotzdem und deshalb bedarf es einer starken Bundeswehr. Ich meine, beides schließt sich überhaupt nicht aus. „Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen“, war Devise während des Kalten Krieges. Das Motto stand über dem Kompanieblock der Freiherr-von-Boeselager-Kaserne in Munster, in der ich als junger Offizier mehrere Jahre diente. Wir brauchen eine neue Definition militärischer Abschreckung in Europa in Anlehnung an die Harmel-Doktrin, die immer in der Geschichte der NATO unsere raison d’etre war und weiterhin sein sollte. Nicht Bellizismus, Verweigerung von politischer Verständigung und rhetorische Aufrüstungsorgien, sondern militärische Abschreckung mit starken, einsatzfähigen Streitkräften in Verbindung mit Dialog, Interessenausgleich, Verständigung und Friedenspolitik.

Wir müssen so stark sein, dass keiner es wagt, uns anzugreifen – und das sind wir im Moment nicht. Daran müssen wir arbeiten, deshalb halte ich das für richtig.

Also doch: Feindbild Russland?

Nein. Bei dieser Ausrichtung brauche ich niemanden, auch Russland nicht als Feind. Dieses Herstellen eines Feindbildes halte ich für unvernünftig, ich bin schlicht dagegen. Es geht mir darum, prinzipiell gerüstet zu sein für den Fall eines Angriffs, egal, von wem er ausginge. Wir müssen uns in Deutschland und Europa besser schützen, und dazu gehört militärische Abschreckung; das aber nur in Verbindung mit einer Politik des Dialogs, des Interessenausgleichs, der Vertrauensbildung, der Abrüstung.

Interessenausgleich? Vertrauensbildung? Politik des Dialogs? Davon ist seit Jahren gegenüber Russland nicht viel zu sehen, oder?

Dieser Teil fehlt mir auch. Gründe dafür liegen aber auch in Russland, das einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg begonnen hat. In der ganzen Debatte in den letzten drei Jahren wurde in Deutschland wiederum auf Waffenlieferungen gesetzt, nicht auf Verhandlungen, nicht auf Dialog, ein politisches Ziel wurde nicht bestimmt; diese Komponenten wurden vernachlässigt. Das haben die USA jetzt gestoppt. Sie reden mit den Russen, sie wollen Waffenstillstand mit Ziel Frieden.

Sie haben, wenn ich mich richtig erinnere, selbst schon an einer Friedensdemonstration teilgenommen, oder?

Vor zwei Jahren habe ich in Berlin an einer von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht initiierten Demonstration teilgenommen und am Brandenburger Tor eine Rede gehalten. Die Frauenzeitschrift Emma war, abgesehen von einigen kleineren Interviews, die einzige Zeitschrift, die meine Rede dank einer klaren, vorbildlichen Haltung von Alice Schwarzer abdruckte. Dass ein Ex-General damals „nur“ in einer Frauenzeitschrift seine Position zum Ausdruck bringen konnte, wirkt merkwürdig und sagt etwas aus über Meinungsvielfalt in Deutschland, die der amerikanische Außenminister J. D. Vance während der Münchner Sicherheitskonferenz mit Fug und Recht kritisierte.

Erst letzte Woche habe ich in Österreich bei einem – im Gegensatz zu manchen deutschen Talk Shows – ausgewogenen TV-Talk über den Ukrainekrieg gesagt, dass ich jeden Satz dieser Rede damals, Satz für Satz, heute nochmals so sagen würde. Jede Aussage stimmt und hat sich bewahrheitet. Nur dank Emma ist das verifizierbar und nachlesbar. Dennoch habe ich als Folge meiner Teilnahme an dieser Demonstration viele Menschen, frühere Kollegen, die mir wohlgesinnt waren, verloren und angeblich meine „Reputation verspielt“, wie in einer seriösen Zeitung behauptet wurde. Ich wurde nach der Demo massiv als Putin- und Russlandversteher kritisiert und diffamiert.

Wie kam es überhaupt dazu, dass Sie damals an der Demo diese Rede gehalten haben?

Der Grund war: Das, was ich sagen wollte, konnte ich in keinem anderen Medium veröffentlichen. Emma hat mich zu Wort kommen lassen. Dafür bin ich heute noch dankbar, dass eine deutsche Frauenzeitschrift den Ex-General zu Wort kommen ließ.

Deutsche Medien sprechen nahezu geschlossen noch immer nicht von einem Stellvertreterkrieg in der Ukraine. Mir ist ein Artikel in einem großen Medium bekannt, wo das Kind beim Namen genannt wird: Stellvertreterkrieg. Ansonsten: Es wird geradezu geleugnet, dass wir es mit einem Stellvertreterkrieg zu tun haben. Wie sehen Sie das? Stellvertreterkrieg, ja oder nein?

Natürlich ist das ein Stellvertreterkrieg. Das sage ich seit zwei Jahren, ich wurde dafür heftig kritisiert. Inzwischen nicht mehr, weil klar geworden ist, dass sich die USA und Russland das geschundene Land [die Ukraine, Anm. d. Red.] politisch und wirtschaftlich bereits aufzuteilen beginnen. Stichwort: Rohstoffabkommen. Natürlich findet in der Ukraine ein legitimer Verteidigungskrieg der Ukrainer statt, der seine Vorgeschichte hat, der aus einem früheren, auch innenpolitischen Konflikt hervorgegangen ist und eben auch den politischen Charakter eines Stellvertreterkrieges zwischen den USA und Russland hat. Das wird nicht gern gehört.

Es ist vor allem ein Krieg zwischen den USA und Russland aufgrund einer Konkurrenz in einer bestimmten Region. Der Sachverhalt ist simpel: Die Russen haben dort andere Interessen als die Amerikaner. Wichtig ist es mir, Interessen der Staaten als strategische Rahmenbedingungen mehr in den Blick zu nehmen: Für die Russen ist es undenkbar, ihren Einfluss auf die Schwarzmeerregion, die Kontrolle über die Krim und die Landverbindung zur Krim über den Donbass zu verlieren, wo auch sehr viele ethnische Russen leben oder gelebt haben.

Das ist ähnlich wie bei der Kubakrise 1962. Kennedy konnte es nicht zulassen, dass die Sowjets auf Kuba militärisch Fuß fassten – ein No-Go aus amerikanischer Sicherheitsperspektive. Es bestand die Gefahr eines Nuklearkrieges. Die Amerikaner dulden es bis heute nicht, dass eine nichtamerikanische Macht in der Karibik, in Panama oder in Lateinamerika Fuß fasst. Ich habe amerikanischen Freunden das Dilemma der Russen so erklärt, dass sie es sich vorstellen müssten: Mexiko wolle Mitglied der Eurasischen Union von Putin werden, diskutierte mit denen über russische und chinesische Militärstützpunkte und hielte ständig Militärmanöver im Golf von Mexiko ab – so, wie es die Amerikaner vor dem Ukrainekrieg im Schwarzen Meer gemacht haben. Und das geopolitisch gefärbte und völkerrechtlich höchst zweifelhafte Gerede von Trump bezogen auf Kanada, Panama oder Grönland verrät deutlich, um was es im Kern auch im Ukrainekrieg geht.

Die Amerikaner haben sich in der Ukraine zu weit vorgewagt. Das und ihr Versuch, die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine durchzudrücken, war ein strategischer Fehler. Es hat nicht funktioniert. Jetzt hinterlassen sie ein Desaster, dass wir Europäer ausbaden wie schon in Afghanistan, Syrien, Libyen oder im Irak.

Und die Menschen in den Ländern auch … Ich möchte an dieser Stelle die „Warum-Frage“ stellen. Warum will Europa nun so massiv aufrüsten? Warum verschärft die europäische Politik ihre Rhetorik gegen Russland so stark? Warum dieser Konfrontationskurs? Die, wie es so heißt, „Eskalationsdominanz“ liegt doch letztlich bei Russland. Wie sehen Sie das?

Das ist richtig. Die Eskalationsdominanz im Ukrainekrieg lag und liegt bei Russland. Die Europäer benehmen sich angesichts der amerikanisch-russischen Verständigung wie pubertierende Kinder im Sandkasten, die bockig sind, dass sie nicht ihren Willen bekommen haben. Die Erwachsenen, das sind aktuell die Amerikaner und Russen, und die wollen offensichtlich aus dem Krieg raus. Da aber die Europäer in ihrer jetzigen Verfasstheit überhaupt keinen Krieg führen können, lässt mich das einigermaßen entspannt auf die Lage schauen.

Internationale Sicherheitspolitik war zu allen Zeiten gefährlich. Gefahren und Risiken bleiben auch jetzt, wo sich die beiden Mächte USA und Russland aufeinander zubewegen.

Titelbild: © Erich Vad Consulting München

Lesetipp: Erich Vad: „Ernstfall für Deutschland: Ein Handbuch gegen den Krieg“. Neu-Isenburg 2024, Westend Verlag, broschiert, 80 Seiten, ISBN 978-3864894923, 15 Euro.