Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (ECHR) in Strasbourg nennt in einem aktuellen Urteil das Verhalten der ukrainischen Polizei und Feuerwehr am 2. Mai 2014 in Odessa als eine Ursache für den Tod von 48 Menschen. Sechs Menschen waren bei einer Straßenschlacht zwischen Maidan- und Anti-Maidan-Akivisten umgekommen und 42 Menschen bei einem Feuer in und vor dem Gewerkschaftshaus von Odessa. In den Jahren 2016 bis 2018 waren beim ECHR sieben Klagen von 28 Bürgern eingegangen. 25 der Kläger hatten Angehörige beim Brand im Gewerkschaftshaus verloren. Ein Bericht von Ulrich Heyden (Moskau).
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Zwar erwähnt das Gericht in seiner Pressemitteilung auch „russische Propaganda“ als einen Grund für die Gewalt in Odessa. Aber der Hauptgrund für die große Zahl der Toten ist nach Meinung des Gerichts das unprofessionelle Verhalten der ukrainischen Behörden, die bei sachgemäßer Auswertung aller Geheimdienst- und öffentlich zugänglichen Hinweise hätten davon ausgehen müssen, dass es am 2. Mai 2014 in Odessa zu Gewalt kommen würde, sich aber nicht entsprechend darauf vorbereiteten.
Diese Erkenntnis ist nicht neu. Dass sie jetzt – elf Jahre nach den schrecklichen Ereignissen – von einem Gericht in der EU offiziell vertreten wird, ist zu begrüßen. Das Gericht entschied, dass die Ukraine den Klägern Entschädigungen für umgekommene und verletzte Angehörige zahlen müsse.
Lieber spät als nie
Es gibt Fehler, die nie bereut werden, und Fehler, die mit elf Jahren Verspätung immerhin durch ein Gericht benannt werden. Zur ersten Kategorie gehört der Aufbau der Bundesrepublik unter Mitwirkung führender Kader des NS-Regimes. Zur zweiten Kategorie gehört das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.
Bei einer früheren Entscheidung des Gerichts hätte viel Leid verhindert werden können. Man stelle sich vor, die ukrainischen Justizorgane hätten wegen Drucks aus Strasbourg sofort nach dem 2. Mai 2014 Ermittlungen eingeleitet und diese zügig zu Ende geführt. Die Eskalation im ukrainischen Bürgerkrieg hätte gebremst werden können. Doch weil der Westen zu dem Verhalten der ukrainischen Behörden schwieg, eskalierte der Bürgerkrieg in der Ukraine. Nicht wenige Männer aus Odessa schlossen sich nach den Ereignissen um das Gewerkschaftshaus den Aufständischen in Lugansk und Donezk an.
Zwar hatten schon im November 2015 Beobachter des Europarates, die nach Odessa gefahren waren, einen Bericht vorgelegt, in dem sie die ukrainischen Behörden wegen schleppender Ermittlungen zum 2. Mai 2014 kritisierten. Dieser Bericht fand sogar ein Echo in den deutschen Medien. Doch der Bericht wirkte eher wie eine Beruhigungspille. Der Öffentlichkeit wurde suggeriert, alles sei unter Kontrolle. Aber die ukrainischen Behörden zogen ihre Ermittlungen immer weiter hinaus und der deutsche Mainstream schwieg.
Die Richter: „Unbegründete, große Zeiträume von Untätigkeit“
In dem Urteil des Europäischen Gerichtes für Menschenrechte (ECHR) vom 13. März 2025 werden die verantwortlichen ukrainischen Justiz- und Sicherheitsorgane nun einer noch schärferen Kritik unterzogen.
Grundlegende Regeln der Ermittlung, der Beweissicherung und der zügigen Bearbeitung wurden nicht eingehalten, stellt das ECHR in seinem Urteilsspruch fest. Die Behörden hätten bei den Untersuchungen zu den Ereignissen am 2. Mai 2014 „große Zeiträume von unbegründeter Inaktivität und Stagnation zugelassen“. Die Ermittlungen seien verschleppt worden, sodass Strafverfahren – jetzt, elf Jahre nach den Ereignissen – wegen Verjährung ins Leere laufen könnten.
Was passierte am 2. Mai 2014?
Am 2. Mai 2014 versammelten sich mittags auf dem Kathedralen-Platz von Odessa Fußballfans, Skinheads und Angehörige von Maidan-Hundertschaften aus Kiew, Charkow und anderen Städten. Sie wollten angeblich in einem Marsch für „die Einheit der Ukraine“ zu einem Fußballspiel marschieren. Die Teilnehmer waren zum Teil mit Helmen und Schlagstöcken ausgerüstet. Einzelne führten auch Schusswaffen mit sich. Kurz nach Beginn des Marsches stellten sich den Nationalisten (das ECHR nennt sie in ihrer Pressemitteilung „Einheits-Aktivisten“) Teilnehmer eines Anti-Maidan-Marsches in den Weg, die befürchteten, die Nationalisten könnten weiter zum Gewerkschaftshaus ziehen, vor dem es ein Anti-Maidan-Zeltlager gab und dieses angreifen.
Während der Straßenschlacht wurden sechs Menschen durch Schüsse getötet. Es handelte sich um vier Anhänger des Anti-Maidan und zwei Anhänger des Maidan.
Aufgeputscht durch die Straßenschlacht zogen die Nationalisten dann weiter zu dem Zeltlager vor dem Gewerkschaftshaus. Mehrere Anti-Maidan-Aktivisten, die sich dort versammelt hatten, flüchteten ins Gewerkschaftshaus und verbarrikadierten sich. Das ECHR schreibt in seiner Pressemitteilung, „die Maidan-Aktivsten steckten die Zelte an. Eine Gruppe von prorussischen Protestlern auf dem Dach des Gebäudes warfen Molotow-Cocktails auf die Menge vor dem Gebäude; die Pro-Einheit-Aktivisten antworteten, indem sie Molotow-Cocktails auf das Gebäude warfen.“
Das Gewerkschaftshaus fing an zu brennen, aber die Feuerwehr habe sich – so das ECHR -, obwohl ihr Stützpunkt nur einen Kilometer entfernt lag, „um 40 Minuten verspätet und die Polizei machte keine Anstalten, Menschen aus dem (brennenden) Gebäude schnell und sicher zu retten.“ Erst ab 20:30 Uhr hätten Feuerwehrleute mit Leitern Menschen aus dem Gewerkschaftshaus evakuiert.
„Die Polizei verhaftete 63 Anti-Maidan-Aktivisten, die sich noch in dem Gebäude oder auf dem Dach befanden.“ Die Festgenommenen seien zwei Tage später „nach einem Sturm von mehreren Hundert Anti-Maidan-Demonstranten auf die örtliche Polizei-Station“ entlassen worden, schreibt das ECHR. Festgenommene Maidan-Anhänger werden vom Gericht nicht erwähnt und die hat es tatsächlich auch nicht gegeben.
Im Urteilsspruch des ECHR heißt es:
„Das Gericht kam zu dem Schluss, dass die entscheidenden Behörden nicht alles machten, was sie hätten tun müssen, um Gewalt zu verhüten und sie nach dem Ausbrechen zu stoppen, dass sie nicht rechtzeitig Rettungsmaßnahmen für die zur Verfügung stellten, die vom Feuer im Gewerkschaftshaus gefangen waren.“
Ärzte und Angehörige hatten Angst zu sprechen
Anstatt die Plätze von Odessa, auf denen es am 2. Mai 2014 gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Maidan- und Anti-Maidan-Anhängern gab, abzusperren, „war die erste Maßnahme der lokalen Behörden, Reinigungs- und Wartungs-Dienste auf diese Plätze zu schicken. Die erste Inspektion wurde erst nach zwei Wochen durchgeführt und brachte keine bedeutsamen Ergebnisse.“
Ich hatte im Juli 2014 selbst als Journalist in Odessa zu dem Brand recherchiert. Zeugenbefragungen durch Journalisten waren damals faktisch nicht möglich. Ich wollte Krankenhäuser besuchen, in denen die Überlebenden des Massakers behandelt wurden. Viele hielten mich davon ab. Sie argumentierten, ich würde die Ärzte in Gefahr bringen. Denn jedes Interesse für die Überlebenden konnte von den ukrainischen Behörden als „Unterstützung der Separatisten“ ausgelegt werden.
Die Überlebenden, die Angehörigen der Toten, die Ärzte und Pfleger, sie alle hatten Angst, mit mir zu sprechen. Der „Rechte Sektor“ hatte schon damals unbeschränkte Macht in Odessa. Alle Oppositionellen hatten Angst, in seine Fänge zu geraten. Alle paar Tage wurde Personen wegen des Verdachts von Separatismus verhaftet. 2015 befanden sich in Odessa deshalb 100 Personen in Gefängnissen.
Keine Auswertung der Fotos und Videos von Todesschützen
In der Pressemitteilung des ECHR wird außerdem kritisiert, dass das umfangreiche Foto- und Videomaterial über die Ereignisse am 2. Mai 2014 in Odessa von den örtlichen Justiz-Behörden nicht ausgewertet wurde. Dabei gäbe es Videos und Fotos, auf denen zu sehen ist, dass „Personen während der Auseinandersetzungen schossen und die Feuer-Opfer vor dem Gewerkschaftshaus angriffen“.
In dem Urteil des Gerichts wird auch erwähnt, dass einer Klägerin der Leichnam ihres Vaters nicht ausgehändigt wurde. „Nur Dank der Intervention des Leiters der UN-Beobachtungs-Mission wurde der Leichnam von Frau Vyacheslavovas Vater zur Beerdigung freigegeben.“ Der Leichnam sei „grundlos und unrechtmäßig“ vorenthalten worden, schreibt das Gericht in seiner Mitteilung.
Was das Gericht in seiner Bewertung auslässt, ist der politische Kontext der Ereignisse in Odessa am 2. Mai 2014. Der gerade erst an die Macht gekommenen Regierung in Kiew ging es darum, mit Gewalt eine Ausbreitung der Besetzungen von Verwaltungsgebäuden durch Aufständische, wie sie es in Charkow, Lugansk und Donezk gegeben hatte, mit allen Mitteln zu stoppen.
Der Leiter des ukrainischen Sicherheitsrates, Andrij Parubi, war am 30. April 2014 nach Odessa gereist und hatte dort an Maidan-Kontrollposten vor der Stadt schusssichere Westen verteilt. In Ferienlagern rund um die Stadt wurden Maidan-Aktivisten einquartiert.
Vieles deutete darauf hin, dass die Fußballfan- und Maidan-Hundertschaften aus Kiew und Charkow mit dem Ziel nach Odessa gefahren waren, die vorwiegend prorussische Bevölkerung von Odessa durch eine brutale Aktion so einzuschüchtern, dass niemand mehr den Kopf hebt. (Zum Ablauf des 2. Mai 2014 in Odessa und zu den Hintergründen informiert auch mein Film „Lauffeuer“.)
Die Reaktion auf das Urteil in der Ukraine
Die ukrainische Nachrichtenagentur Unian informierte ihre Leser über das Urteil des ECHR mit folgenden Sätzen:
„Es geht um die Ereignisse, die mit den Angriffen prorussischer Separatisten aus dem sogenannten ‚Anti-Maidan‘ auf die Teilnehmer einer proukrainischen Demonstration begannen, die dann zu dem Brand im Gewerkschaftshaus führten, bei dem mehrere Anhänger des Anti-Maidan verbrannten.
Das Gericht hat anerkannt, dass die Ereignisse zum großen Maße durch die russische Propaganda hervorgerufen wurden. Gleichzeitig betonte das Gericht, dass es von Seiten der Ukraine Überschreitungen gab, weshalb Entschädigungen gezahlt werden sollen.“
Der Sprecher des russischen Präsidenten: „Ein Schimmer der Vernunft“
In den russischen Medien wurde breit über das Urteil des ECHR berichtet. Einer der Vorsitzenden des Koordinationsrates für die Integration der „neuen Regionen“ in Russland, Wladimir Rogow, erklärte gegenüber Ria Novosti, „es ist ein außerordentlicher Vorfall, dass der Westen beginnt, juristisch die Schuld des Kiewer Regimes anzuerkennen, welche nach dem Staatsstreich 2014 die Macht in der Ukraine an sich gerissen hat“.
Der Sprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow, kommentierte das Urteil des Europäischen Gerichts zurückhaltend. „Sie haben sich sehr verspätet. Aber es sieht nach einem Schimmer der Vernunft aus.“ Weiter erklärte Peskow, „um das zu bestätigen, sind noch andere Äußerungen nötig“.
Wer weitere Informationen zum Brand im Gewerkschaftshaus und den Straßenkämpfen am 2. Mai 2014 in Odessa benötigt, dem möchte ich das Odessa-Kapitel in meinem Buch „Ein Krieg der Oligarchen“ S. 69-110 (Papyrossa, 2015) empfehlen, sowie meinen Film „Lauffeuer“ ( bei Leftvision) und den Film von Wilhelm Domke-Schulz „Remember Odessa“.
Titelbild: Ulrich Heyden
Wider das Vergessen: Odessa 2. Mai 2014 – Aufklärung durch Augenzeugen nicht überall erwünscht
Offener Brief von Oleg Musyka an „Bild”-Journalist Julian Röpcke