Michail Gorbatschow und das Ende des (ersten) Kalten Krieges

Michail Gorbatschow und das Ende des (ersten) Kalten Krieges

Michail Gorbatschow und das Ende des (ersten) Kalten Krieges

Leo Ensel
Ein Artikel von Leo Ensel

Vor 40 Jahren, am 11. März 1985, wurde mitten im Kältesten Krieg Michail Gorbatschow zum Generalsekretär der KPdSU gewählt. Als er am 25. Dezember 1991 als Präsident der Sowjetunion zurücktreten musste, war die Welt eine andere: Der Kalte Krieg war beendet, die drohende Atomkriegsgefahr zwischen den Supermächten gebannt, 80 Prozent der Nuklearsprengköpfe weltweit verschrottet und für Europa ein neues Zeitalter des Friedens und der Kooperation ausgerufen. – Was ließe sich daraus für ein konstruktives Ende der neuen Konfrontation lernen? Von Leo Ensel.

Das 21. Jahrhundert wird entweder ein Jahrhundert der totalen Verschärfung der todbringenden Krise oder ein Jahrhundert der moralischen Läuterung und spirituellen Genesung der Menschheit sein. Ihre umfassende Wiederbelebung. Ich bin überzeugt, dass wir alle – alle vernünftigen politischen Kräfte, alle spirituellen und ideellen Strömungen, alle Glaubensrichtungen – aufgerufen sind, diesen Übergang, den Sieg der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit zu ermöglichen. Damit das 21. Jahrhundert zum Jahrhundert der Wiedergeburt wird, zum Jahrhundert des Menschen.“
(Michail Sergejewitsch Gorbatschow)

Mitte der Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts befand sich die Welt im Kältesten Krieg. Zwei bis an die Zähne bewaffnete Supermächte, USA und Sowjetunion, und ihre Militärbündnisse, NATO und Warschauer Pakt, standen sich feindselig gegenüber. Das Misstrauen zwischen beiden Seiten war grenzenlos.

Welt am Abgrund

Mehrfach wäre es um ein Haar zu einem Atomkrieg aus Versehen gekommen. So in der Nacht vom 25. auf den 26. September 1983, als der Computer des sowjetischen Raketenabwehrsystems Serpuchow bei Moskau fünfmal hintereinander den Start einer amerikanischen Interkontinentalrakete meldete und der diensthabende Offizier, Oberstleutnant Stanislaw Petrow, die Nerven behielt und – wie sich später herausstellte, zu Recht – auf „Fehlalarm infolge eines Computerfehlers“ plädierte. Oder anderthalb Monate später, zwischen dem 7. und 11. November 1983, während der Kommandostabsübung „Able Archer 83“, als die NATO einen Atomkrieg so realistisch simulierte, dass der damalige höchst misstrauische Generalsekretär der KPdSU Jurij Andropov erst- und einmalig im Kalten Krieg sowjetische Bomberstaffeln in der DDR mit scharfen Nuklearsprengköpfen bestücken ließ.

In Europa bedrohten sich sowjetische und amerikanische Kurz- und Mittelstreckenraketen gegenseitig, beide deutsche Staaten waren vollgestopft mit Atomsprengköpfen – allein die alte Bundesrepublik wies mit 6.000 Atomsprengköpfen die größte Atomwaffendichte der Welt auf –, die meisten von ihnen wären im sogenannten „Ernstfall“ auf oder über deutschem Territorium explodiert. Die alte Bundesrepublik und die DDR waren das potenzielle Schlachtfeld der Supermächte. Im Kriegsfalle wäre hier kein Stein auf dem anderen geblieben.

Die Rüstungsspirale drehte sich in atemberaubendem Tempo, auf jede „Nachrüstung“ der einen folgte prompt eine „Nach-Nachrüstung“ der Gegenseite, die Vorwarnzeiten in Mitteleuropa betrugen zum Schluss nur noch rund vier Minuten. Beide Seiten hatten sich in eine „High-Noon-Situation“ mit brandgefährlichem ‚Selbstzündungsmechanismus‘ hineinmanövriert.

Gegen diesen „Rüstungswahnsinn“ – ein damals viel gebrauchtes und bezeichnenderweise längst in Vergessenheit geratenes Wort – bildete sich in Westeuropa eine breite, äußerst heterogene Friedensbewegung. Immer mehr Menschen gingen nach dem Motto „Der Frieden ist zu wichtig, um ihn nur den Generälen und Politikern zu überlassen!“ auf die Straßen, im Herbst 1983 waren es allein in Westdeutschland über eine Million. In der DDR wiederum konstituierten sich unabhängige Friedens- und Umweltgruppen unter dem Dach der Evangelischen Kirche. Das gemeinsame Nahziel aller Friedensinitiativen in West und Ost lautete „Keine Stationierung neuer Atomraketen in Europa!“, das mittelfristige Ziel war ein atomwaffenfreies Europa und das utopisch erscheinende Fernziel der Ausstieg aus der Logik des Wettrüstens und die Überwindung der Machtblöcke.

„Einer muss anfangen aufzuhören!“, so lautete eine etwas hilflose Parole. Und dann geschah ein Wunder.

Eine wahre „Zeitenwende“ für die ganze Welt

Eine Seite fing tatsächlich an, aufzuhören. Und es waren ausgerechnet unsere ‚Feinde‘ im vom damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan so bezeichneten „Reich des Bösen“! Das sklerotische kommunistische System begann – sämtlichen Erwartungen zum Trotz – tatsächlich, sich zu verändern. Ex oriente lux again. Es war, als hätte ein siebzigjähriger Tattergreis mit letzter Kraft noch einen Helden gezeugt. Auf einmal wurde es interessant, die Reden des Vorsitzenden der kommunistischen Partei zu verfolgen. Kein Phrasengedresche, keine Verkündigung letztgültiger Weisheiten mehr aus Moskau! Nun dominierten die Zauberworte Perestroika und Glasnost.

Und die neuen Machthaber hatten Humor. Statt von Breschnew-Doktrin war jetzt von der ‚Sinatra-Doktrin‘ die Rede: „I did it my way!“ Michail Gorbatschow, der neue Held auf der weltpolitischen Bühne: jung, energisch, womöglich sogar ehrlich, gut aussehend, offenes Gesicht, mit einer attraktiven klugen Frau an seiner Seite. Und lachen konnte er auch! Ein weiterer Zaubersatz machte die Runde: „Wir werden Euch etwas Schreckliches antun: Wir werden Euch des Feindes berauben!“

Und dann ging es Schlag auf Schlag. Gorbatschow machte Druck in Richtung Abrüstung. Mitte November 1985 kam es seit ewigen Zeiten wieder zu einer Gipfelkonferenz der Chefs der beiden Supermächte: US-Präsident Ronald Reagan und der KPdSU-Vorsitzende Michail Gorbatschow trafen sich in Genf. Das Treffen, das zunächst mit einem heftigen wechselseitigen Schlagabtausch begann, führte immerhin zu einem ersten greifbaren Ergebnis: Beide Seiten erklärten, ein Atomkrieg könne nicht gewonnen, dürfe daher auch nicht begonnen werden und keine Seite dürfe Überlegenheit anstreben. Und sie beschlossen, die Ende 1983 abgebrochenen Verhandlungen über atomare Mittelstreckenraketen in Europa wieder aufzunehmen. Damit war zwar noch kein Durchbruch in Richtung Abrüstung erzielt, aber der Grundstein für eine weitere Zusammenarbeit gelegt.

Das zweite Gipfeltreffen fand auf Initiative Michail Gorbatschows elf Monate später, im Oktober 1996, im isländischen Reykjavik statt. Es las sich zunächst wie ein Scheitern. Gorbatschow war Reagan sehr weit entgegengekommen: Er erklärte, bei den Verhandlungen über Mittelstreckenraketen in Europa auf die Einbeziehung britischer und französischer Atomraketen zu verzichten – an diesem Punkt waren bis dato die Verhandlungen stets gescheitert –, er stimmte Abrüstungskontrollen auf sowjetischen Boden zu und schlug Reagan nicht nur die Halbierung aller strategischen Atomwaffen, sondern sogar die Abschaffung sämtlicher Atomwaffen innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren vor! Die einzige sowjetische Bedingung: Die USA sollten auf die Entwicklung und Installierung ihres weltraumgestützten Raketenabwehrsystems (SDI) verzichten. Da Reagan zu diesem Schritt nicht bereit war, reisten beide Seiten zunächst unverrichteter Dinge wieder nach Hause.

Auf der anschließenden Pressekonferenz, die Gorbatschow allein absolvierte, gelang ihm ein genialer Coup: Er weigerte er sich schlicht, von einem Scheitern zu sprechen, und erklärte, das Treffen sei ein Durchbruch gewesen, weil man sich grundsätzlich auf eine Reduzierung der strategischen und Mittelstreckenraketen geeinigt habe. Dadurch geriet Ronald Reagan unter Druck, dem nichts anderes übrig blieb, als das Treffen nun ebenfalls als Durchbruch zu deklarieren.

Im Anschluss erlebten die Genfer Verhandlungen über Mittelstreckenraketen einen Aufschwung, und am 8. Dezember 1987 unterzeichneten beide Staatsmänner in Washington nichts weniger als den bedeutendsten Abrüstungsvertrag der Weltgeschichte: Der INF-Vertrag (er wurde am 1. Februar 2019 von Donald Trump gekündigt, Wladimir Putin zog einen Tag später nach) ermöglichte erstmals und einmalig die komplette Verschrottung einer gesamten Waffenkategorie, und zwar der allergefährlichsten: die Zerstörung sämtlicher landgestützter Raketensysteme einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern. Quantitativ machte die Sowjetunion dabei einen schlechten ‚Deal‘: Sie hatte 1.846 Raketen zu verschrotten, der Westen mit 846 genau tausend weniger. (Und nicht zuletzt dafür bezieht Gorbatschow bis auf den heutigen Tag Prügel von seinen im quantitativen ‚alten Denken‘ verhafteten russischen Landsleuten …) Aber Gorbatschow dachte in qualitativen Kategorien, und mit dieser Maßnahme war die akute Atomkriegsgefahr in Europa über drei Jahrzehnte lang – bis zur genannten Kündigung des INF-Vertrages – gebannt.

Und damit nicht genug: Der Vertrag machte den Weg frei für Abrüstungsmaßnahmen auch im strategischen Bereich. Insgesamt gelang es Michail Gorbatschow und Ronald Reagan, 80 Prozent aller Atomsprengköpfe weltweit zu vernichten. Im nunmehr wiedervereinten Deutschland wurden fast alle der über 6.000 in beiden deutschen Teilstaaten gelagerten Atomsprengköpfe abgezogen – um die 20 Sprengköpfe, sie werden gerade modernisiert, verblieben allerdings im Rahmen der „nuklearen Teilhabe“ im rheinland-pfälzischen Büchel –, was die sicherheitspolitische Lage Deutschlands erheblich verbesserte.

Das Ende des Kalten Krieges wurde anderthalb Monate nach der, ebenfalls durch Gorbatschow ermöglichten, deutschen Wiedervereinigung besiegelt. Im November 1990 trafen sich in Paris die Staats- und Regierungschefs aller europäischen Staaten – inclusive der Sowjetunion, der USA und Kanada – und unterzeichneten am 21. November ein epochales Dokument: Die „Charta von Paris“ erklärte den Kalten Krieg für beendet und rief für Europa ein Zeitalter des Friedens und der Zusammenarbeit aus. Ihr zentraler sicherheitspolitischer Satz lautete: „Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden.“ Die große Zukunftsvision des nun nicht mehr geteilten europäischen Kontinents war in der Formulierung Michail Gorbatschows das „Gemeinsame Haus Europa“.

Long time ago …

Das „Neue Denken“

Preisfrage: Was ließe sich aus dem glücklichen Ende des (aus heutiger Perspektive: ersten) Kalten Krieges für die heutige Situation, wo das „Gemeinsame Europäische Haus“ in Trümmern liegt und alle Seiten nicht nur erneut in einen kalten, sondern sogar in einen blutigen Stellvertreterkrieg verstrickt sind, lernen?

Vielleicht wären es ja die strikte Ächtung von Kriegen und Gewalt jedweder Art und der unbedingte Wille zu einer Lösung auf der Basis dessen, was Michail Gorbatschow „Neues Denken“ nannte und mit dem er – eine wahrhaft „Kopernikanische Wende in der Rüstungspolitik“ – nichts weniger als die Logik des Wettrüstens selbst besiegte hatte. Er hat es zwei Jahre vor seinem Tode in seinem politischen Testament nochmal folgendermaßen zusammengefasst:

„Im Mittelpunkt des Neuen Denkens stand die These vom Vorrang der universellen Interessen und Werte in einer zunehmend integrierten, interdependenten Welt. Das Neue Denken verleugnet nicht nationale, Klassen-, Unternehmens- und andere Interessen. Aber es rückt das Interesse an der Erhaltung der Menschheit in den Vordergrund, um sie vor einem drohenden Atomkrieg und einer Umweltkatastrophe zu bewahren. Wir haben uns geweigert, die weltweite Entwicklung als einen Kampf zwischen zwei gegensätzlichen Gesellschaftssystemen zu betrachten. Wir haben unser Sicherheitskonzept überarbeitet und uns die Entmilitarisierung der Weltpolitik zur Aufgabe gemacht. Daraus ergibt sich der Grundsatz der angemessenen Verteidigungsfähigkeit auf niedrigerem Rüstungsniveau.“

Wie überlebensnotwendig eine Rückkehr zu diesen Prinzipien gerade in der aktuellen Weltlage ist, das bedarf keiner weiteren Erläuterung. Gorbatschow schrieb im selben Text:

Keine Herausforderung oder Bedrohung, der die Menschheit im 21. Jahrhundert gegenübersteht, kann militärisch gelöst werden. Kein großes Problem kann von einem Land oder einer Gruppe von Ländern im Alleingang gelöst werden. Solange es Atomwaffen gibt, besteht die Gefahr eines Atomkriegs. Es kann kein anderes Endziel geben als die Abschaffung der Atomwaffen. Aber das Gerede von einer Welt ohne Atomwaffen – und alle Länder, einschließlich der USA, geben weiterhin Lippenbekenntnisse zu diesem Ziel ab – wird eine leere Phrase bleiben, wenn die derzeitige Militarisierung der Weltpolitik und des politischen Denkens nicht überwunden wird. Heute ist es besonders relevant, dass keine Seite militärische Überlegenheit anstreben darf.“

Nun liegt es an uns allen, gute Erben zu sein, wenn wir nicht alle im schlimmsten Falle im Atomblitz verdampfen wollen. Ein wunderschöner Satz dieses Ausnahmepolitikers und -menschen könnte uns dabei unterstützen:

Sieger ist nicht, wer Schlachten in einem Krieg gewinnt, sondern wer Frieden stiftet!“

Mit freundlicher Genehmigung von Globalbridge.

Titelbild: mark reinstein/shutterstock.com

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