In EU-Europa überschlagen sich die Forderungen nach massiven Erhöhungen der Rüstungsausgaben in bislang nicht gekannten Ausmaßen. Es wabern Zahlen von 700 Milliarden Euro im Raume, wohlgemerkt Steuergelder. Mit Ausnahme des BSW und der LINKEN fordern alle im Deutschen Bundestag sitzenden Parteien, das schon seinerzeit in Deutschland umstrittene Zwei-Prozent-Ziel des Bruttoinlandproduktes (BIP) für Militärausgaben werde noch lange nicht das Ende der Fahnenstange sein. Es bahnt sich hier eine Koalition der Aufrüstungsprotagonisten an. Von Alexander Neu.
Hintergrund ist zunächst die ultimative Forderung des US-Präsidenten Donald Trump, die europäischen NATO-Partner müssten fünf Prozent des BIP in die Militärhaushalte stecken. Hinzu kommt der Krieg Russlands gegen die Ukraine, der mittlerweile auch im Westen als Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und Russland als solcher nicht mehr ernsthaft bestritten wird. Der direkte Krieg zwischen der Ukraine und Russland als auch der Stellvertreterkrieg schaffen, sofern der geostrategische und historische Kontext aus dem Diskurs ausgeblendet wird, tatsächlich Unsicherheiten und lassen den gesellschaftlichen Wunsch nach militärischer Stärke EU-Europas nachvollziehbar erscheinen.
Mit der Friedensinitiative des US-Präsidenten Donald Trump in Form des Telefonats mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, dem Treffen der Außenminister beider Staaten ohne europäische und ukrainische Beteiligung in Saudi-Arabien, um die Friedensverhandlungen vorzubereiten, und dem Eklat im Weißen Haus zwischen dem US-Präsidenten und dem ukrainischen Präsidenten, demnach dieser eine Mitschuld an der Fortsetzung des Krieges trage, ist jedoch keine Entspannung in den europäischen Hauptstädten zu beobachten. Im Gegenteil: Es überschlagen sich nun die Forderungen nach wesentlich höheren Militärausgaben und Aufrüstungserfordernissen, da dieser Frieden, den Donald Trump und Wladimir Putin möglicherweise anvisierten, ein Diktatfrieden auf dem Rücken der Ukraine und EU-Europas sein würde.
Somit gilt seit Kurzem die unverrückbare Prämisse: Die USA sei kein zuverlässiger Schutzgarant mehr für Europa, die NATO stehe am Abgrund und Europa müsse nun selbstständig werden. Die anstehenden massiven Ausgaben für die Aufrüstung EU-Europas und der Ukraine seien deshalb alternativlos. Zumal Russland, so die als nahezu „gesichert“ verbreitete Erkenntnis, Europa zeitnah angreifen werde, wie sogenannte Militär- und Sicherheitsexperten, die bislang hinsichtlich des Ukraine-Krieges mit ihren Einschätzungen und Prognosen ebenso gesichert daneben lagen, nun den Diskurs in Deutschland voranzutreiben suchen.
Ob Moskau diese ihm unterstellten Absichten wirklich hat oder nicht, darüber kann man trefflich streiten, da niemand in die Köpfe der russischen Politikentscheider schauen kann. Und faktenorientiert betrachtet, muss man feststellen: Russland kämpft seit drei Jahren sehr verbissen und mit enormen personellen und materiellen Verlusten in der Ost-Ukraine um buchstäblich jeden Meter. Eine erfolgreiche Bodenoffensive schaut anders aus. Von einem Überrennen der ukrainischen Front kann nun wirklich bislang keine Rede sein. Und dann soll Russland also Polen oder gar Deutschland angreifen? Solche Thesen sind nun wirklich skurril. Und selbst wenn die russische Armee mit ihren konventionellen Waffenfähigkeiten bis zum Brandenburger Tor vorstieße, wie will Moskau die Territorien zwischen Kiew und Berlin kontrollieren angesichts der gesellschaftlichen Widerstände und der damit verbundenen Unwägbarkeiten? Dazu hat Moskau weder die finanziellen, materiellen, militärischen noch personellen Fähigkeiten. Und hier sind wir auch beim Kern der Analyse. Über welche finanziellen, personellen und somit auch militärischen Fähigkeiten verfügt die Russische Föderation im Vergleich zu EU-Europa?
Fähigkeiten
Im Jahre 2021 lagen die Militärausgaben der EU-Mitgliedsstaaten bei rund 214 Milliarden Euro. „Zwischen 2021 und 2024 stiegen die gesamten Verteidigungsausgaben der EU-Mitgliedstaaten um mehr als 30%. Im Jahr 2024 beliefen sie sich schätzungsweise auf 326 Mrd. €, was etwa 1,9% des BIP der EU entspricht“, so die Homepage des Europäischen Rates und des Rates der Europäischen Union. Die Formulierung „mehr als 30 Prozent“ ist sehr untertrieben, denn tatsächlich stellt die Steigerung von 214 Milliarden Euro auf 326 Milliarden Euro eine Steigerung von rund 52 Prozent dar. Und das ist noch lange nicht das Ende:
„Die EU und ihre Mitgliedstaaten sind entschlossen, angesichts der beispiellosen Bedrohungen und Sicherheitsherausforderungen, mit denen Europa derzeit konfrontiert ist, gemeinsam mehr und sinnvollere Ausgaben für die Verteidigung zu tätigen“, so die EU.
Die Militärausgaben der Russischen Föderation hingegen umfassen laut Statista im Jahre 2024 etwa 110 Milliarden Dollar, was angesichts des nahezu ausgeglichenen Wechselkurses rund 110 Milliarden Euro wären. Diese Militärausgaben entsprechen ca. sieben Prozent des russischen BIP. Vor Beginn der russischen Invasion in der Ukraine lag der Militärhaushalt im Jahr 2021 bei rund 66 Milliarden Dollar und machte laut Statista damit etwa 3,6 Prozent des BIPs Russlands aus. Damit wurde der russische Militärhaushalt im genannten Zeitraum um rund 66 Prozent erhöht.
Die Militärausgaben zwischen den EU-Mitgliedsstaaten und Russland lagen im Jahre 2021 in einem Verhältnis von 3,5 zu 1 – also für einen Euro, den Russland in sein Militär investierte, investierten die EU-Länder 3,50 Euro. Im Jahre 2024, also während des laufenden Krieges, änderte sich das Verhältnis nur marginal: Es lag bei etwa 2,9 (EU) zu 1 (Russland). Nun könnte man einwenden, die kaufkraftbereinigte Berechnung würde vernachlässigt. Laut einer Studie mit dem Titel „Russlands Wirtschaft am Wendepunkt“ der „Stiftung Wissenschaft und Politik“, einer außen- und sicherheitspolitischen Denkfabrik, würden die russischen Militärausgaben in Höhe von ca. 130 Milliarden Euro im laufenden Jahr kaufpreisbereinigt etwa 350 Milliarden Euro ausmachen – lägen mithin etwas über den Militärausgaben der EU. Angesichts dessen ist es angebracht, auch die personellen und materiellen Kräfteverhältnisse zwischen den EU-Ländern und der Russischen Föderation in ein Verhältnis zu setzen:
Da es schwierig ist, Quellen zur aktiven Personalstärke aller EU-Länder zu identifizieren, greife ich auf die Kategorie europäische NATO-Staaten zurück. Das Verfahren ist angesichts der weitgehenden Doppelmitgliedschaft von EU-Staaten und NATO-Staaten vertretbar. So befinden sich laut einer Greenpeace-Studie aus dem Jahre 2024 in den europäischen NATO-Staaten rund zwei Millionen Soldaten und in der russischen Föderation etwa 1,3 Millionen Soldaten im aktiven Dienst. Somit verfügen die europäischen NATO-Staaten über rund 700.000 aktive Soldaten mehr.
Auch im Bereich der konventionellen – also nicht nuklearen – Großwaffensysteme wie Schiffe, Kampfflugzeuge, Kampfpanzer und Artillerie liegen die europäischen NATO-Staaten teilweise deutlich quantitativ vor der Russischen Föderation. So nennt die Greenpeace-Studie, gestützt auf die Zahlen des „International Institutes for Strategic Studies“ (IISS) im Jahr 2024, folgende quantitative Kräfteverhältnisse:
- Kampfpanzer: 6.297 (europäische NATO-Staaten) zu 2.000 (Russische Föderation) – ein Verhältnis von ca. 3,1 zu 1.
- Artillerie: 15.399 (europäische NATO-Staaten) zu 5.399 (Russische Föderation) – ein Verhältnis von ca. 3 zu 1.
- Kampfhubschrauber: 421 (europäische NATO-Staaten) zu 348 (Russische Föderation) – ein Verhältnis von ca. 2 zu 1,2.
- Kriegsschiffe (Fregatten, Zerstörer, Kreuzer und Flugzeugträger): 140 (europäische NATO-Staaten) zu 33 (Russische Föderation) – ein Verhältnis von zu 4,2 zu 1.
- U-Boote: 73 (europäische NATO-Staaten) zu 50 (Russische Föderation) – ein Verhältnis von ca. 1,5 zu 1.
- Kampfflugzeuge: 2.073 (europäische NATO-Staaten) zu 1.026 (Russische Föderation) – ein Verhältnis von ca. 2 zu 1.
- Strategische Bomber: null (europäische NATO-Staaten) zu 129 (Russische Föderation) – ein Verhältnis 100 Prozent Überlegenheit der russischen Armee bei diesem Großwaffensystem.
Allerdings sagt die quantitative Messung noch nichts über die tatsächliche Einsatzbereitschaft des Personals, der Waffensysteme sowie deren Leistungsfähigkeit und Feuerkraft aus. Diese Komponenten sind ungleich schwerer zu messen. Dennoch besteht die landläufige Meinung, dass die westlichen High-Tech-Waffensysteme in der Qualität und der Menge den russischen überlegen sind. Dem steht wiederum entgegen, dass die Russische Föderation der erste Staat ist, der einsatzfähige Hyperschallraketen besitzt. Nur, der Vorteil in einem einzelnen konventionellen Waffensystem bei gleichzeitiger Unterlegenheit in den anderen Bereichen ist nicht ausreichend für einen militärischen Sieg.
Allerdings gewinnt nun ein anderes Waffensystem die Oberhand, das den modernen Krieg zu revolutionieren scheint: Kampfdrohnen – sie können ganze Verbände gepanzerter Kampffahrzeuge, Artillerie, Schiffe und geparkte Kampfflugzeuge außer Gefecht setzen. Großwaffensysteme im Wert von dreistelligen Millionenbeträgen können von Tausend-Euro-Drohnen zerstört werden. In der Ukraine können die Großwaffensysteme in manchen Frontbereichen gar nicht mehr eingesetzt werden ohne drohende Zerstörung, da der Himmel voll ist mit Kampfdrohnen. Die russischen sowie ukrainischen Erfahrungen im Einsatz von Kampfdrohnen sind wohl führend. Und es findet sicherlich seitens der Ukraine ein Wissens- und Erfahrungstransfer dieses neuartigen Waffensystems und seiner Einsatzformen in den Westen statt. Ein vergleichsweise günstiger Kampfdrohnenrüstungswettlauf steht an.
Allein vor dem Hintergrund der quantitativen Überlegenheit an Großwaffensystemen, aktiver Soldaten sowie der das Schlachtfeld verändernden günstigen Kampfdrohnen muss die Diskussion um eine massive Ausgabenerhöhung zu Aufrüstung vom Kopf auf die Füße gestellt werden.
Im Übrigen wäre die europäische Sicherheit und Stabilität nachhaltiger und wesentlich günstiger herbeizuführen, würde endlich die von allen Staaten im Helsinki-Vertragsraum ratifizierte „Charta von Paris“ auch mal umgesetzt. Denn dieses Sicherheitskonzept setzt auf gemeinsame, ungeteilte Sicherheit in Europa statt auf exklusive Sicherheit und somit ausgrenzende und geteilte (Un-)Sicherheit.
Hätten die europäischen Eliten dieses Sicherheitskonzept zur Grundlage der europäischen Friedensordnung Anfang der 1990er-Jahre verantwortungsvoll umgesetzt, so wären sowohl der Jugoslawien- als auch der Ukrainekrieg den Europäern und insbesondere den Menschen in diesen Ländern erspart geblieben. Hunderttausende Menschen hätte ihr Leben nicht verloren oder wären nicht den Rest ihres Lebens körperlich oder seelisch versehrt.
Titelbild: Shutterstock / Natallia Ustsinava
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