„Corona-Schicksale“ – so lautet der Titel eines gerade erschienenen Buches, das sich durch Kurzgeschichten der Corona-Zeit annimmt. Der Kulturjournalist Eugen Zentner hat die Zeit der Maßnahmenpolitik akribisch beobachtet und liefert damit ein Werk gegen das Vergessen ab. Im Interview mit den NachDenkSeiten bietet er einen Einblick in seine literarische Arbeit und hofft darauf, dass ein „Denkprozess in Gang“ gesetzt wird. „Auch ich habe das Gefühl, dass die Ereignisse rund um die Corona-Politik noch nicht verarbeitet sind“, sagt Zentner und merkt an: „Viele Menschen wollen eine Aufarbeitung, sehen aber, dass sich da auf institutioneller Ebene nichts tut.“ Von Marcus Klöckner.
Marcus Klöckner: Zum Beginn der Corona-Krise hatten viele Bürger große Angst – Angst davor, nicht genügend Toilettenpapier zu Hause zu haben. Was dann folgte, dürften wir alle noch vor Augen haben. Die Italiener horteten Wein, die Deutschen Klopapier. Zu Beginn Ihres Buches taucht die – wie soll man es nennen – „Toilettenpapier-Angst“ auf. Darüber kann man schmunzeln. Ihr Buch setzt sich aber mit etwas auseinander, das wenig Anlass zum Lachen bietet: die Corona-Schicksale. Was ist Ihr Beweggrund, sich der Thematik anzunehmen?
Eugen Zentner: Die Corona-Zeit war eine so prägende Zeit, verbunden mit so viel Leid, so vielen würdelosen Verstößen gegen die Menschlichkeit, mit so vielen politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen, dass sie in die Literatur gehört. Sie muss auch in dieser Form verarbeitet und der Nachwelt überliefert werden, damit die zukünftigen Generationen einen authentischen Eindruck von dem Wahnsinn bekommen, den sehr viele Menschen in den frühen 2020er-Jahren erlebten. Bestenfalls bringt eine literarische Auseinandersetzung mit den Corona-Schicksalen einen Denkprozess in Gang. So etwas darf nie wieder passieren.
Nun haben Sie kein Sachbuch geschrieben, sondern Sie haben Kurzgeschichten im Romanstil verfasst. Warum dieser Weg?
Romanstil ist nicht ganz richtig. Es ist literarische Prosa, aber kein Roman, sondern eben Kurzgeschichten, also ein anderes Genre innerhalb der gleichen literarischen Gattung. Eine Kurzgeschichte unterscheidet sich vom Roman dadurch, dass sie kürzer ist und eine Situation darstellt, in die die Leser hineingeworfen werden. Warum habe ich diesen Weg gewählt? Weil ich mich für Literatur interessiere und der Meinung bin, dass das Thema Corona bislang literarisch nur spärlich behandelt wurde. Und da ich selbst schreibe, wollte ich einen eigenen Beitrag dazu leisten.
Wer auf diese Weise das Thema beleuchtet, hat bestimmt viel in der Corona-Zeit beobachtet. Ist das so bei Ihnen?
Ja, ich habe viel gesehen, im Prinzip wie alle Maßnahmenkritiker. Auch ich war auf Demonstrationen, sprach mit vielen Menschen, führte Streitgespräche mit Maßnahmenbefürwortern, bekam aus den sozialen und alternativen Medien mit, wie Menschen ausgegrenzt, strafrechtlich verfolgt, diffamiert, denunziert und verprügelt wurden. Da ich auch als Kulturjournalist tätig bin, sprach ich mit sehr vielen Künstlern, die wegen der harten Einschränkungen sprichwörtlich um ihre Existenz kämpfen mussten, weil sie von null auf gleich nicht mehr auftreten durften und damit Einnahmen verloren.
Was gehört zu Ihren eindringlichsten Beobachtungen?
Zu den eindringlichsten Beobachtungen gehört wohl die Polizeigewalt auf den Demonstrationen. Wie rücksichtlos und brachial die Beamten gegen friedliche und teils betagte Demonstranten vorgingen, war einfach erschreckend. Es war völlig unverhältnismäßig, und man hatte in manchen Momenten den Eindruck, sie wären von der Politik wie wilde Hunde auf die Menschen losgelassen worden. Und bei manchen hatte man das Gefühl, dass sie es gerne taten.
Wann haben Sie sich entschieden, dieses Buch zu schreiben? Oder anders gefragt: Gab es einen speziellen Anlass?
Einen speziellen Anlass gab es nicht. Weil die Corona-Krise und die vielen Ereignisse in dieser Zeit auch mich aufgewühlt hatten, wollte ich das irgendwie verarbeiten. Die ersten Kurzgeschichten entstanden im Sommer 2021, als die ganze Angelegenheit noch frisch war. Ich wollte literarisch das darstellen, was nicht nur ich, sondern große Teile der Gesellschaft gesehen, gehört und erlebt hatten. Und das war ja nicht wenig. Mit der Zeit entstanden weitere Kurzgeschichten. Als ich schließlich einen Verlag fand, beschloss ich, sie in einem Band zu bündeln.
Wie ist die Machart der Geschichten? Wovon handeln sie? Im Inhaltsverzeichnis lese ich Überschriften wie: „Nur Verschwörungstheorien“, „Journalistisches Wahrheitsspiel“ oder „Weihnachtspiks“.
Es geht um Themen wie Denunziation und gesellschaftliche Ausgrenzung, um Vereinsamung und berufliche Zwangslagen, um polizeiliche und häusliche Gewalt. Geschildert werden diese Schicksale aus der Innenperspektive der Figuren, von Pflegern, Journalisten, Rentnern und unterschiedlichen Bürgern, die auf jeweils andere Art und Weise zu Opfern oder Leidtragenden der Maßnahmenpolitik werden. Das, was in den Kurzgeschichten passiert, wird dargestellt durch die Wahrnehmungsprozesse der Figuren, durch deren Gedanken, Empfindungen und Gefühle. In der Fachsprache nennt man diese Technik „Erlebte Rede“. Erzähler und Figur verschmelzen. Es spricht der Erzähler, aber man glaubt, die Figur zu hören. Das erzeugt den Effekt der Unmittelbarkeit, sodass die Leser praktisch alles miterleben. Viele werden wohl darin auch sich selbst erkennen, weil sie möglicherweise in ähnlichen Situationen waren und vielleicht die gleichen Gefühle und Gedanken hatten wie die Figuren.
Nur ein Beispiel, weil Sie die Kurzgeschichte „Nur Verschwörungstheorien“ erwähnt haben. Darin versucht ein Supermarkt-Mitarbeiter, seinem Kollegen zu erklären, dass die vermeintliche Pandemie aufgeblasen ist, scheitert aber an der Komplexität, die das Thema hat. Es kann einfach nicht in einem oder zwei Sätzen behandelt werden, weil es sehr viele Aspekte gibt, weil es sehr viel Wissen voraussetzt, über das nicht jeder verfügt. In einer solchen Situation waren sicherlich viele Maßnahmenkritiker, wenn sie ihren Standpunkt in einem Streitgespräch erläutern wollten und dabei gegen eine Wand stießen.
Würden Sie uns bitte exemplarisch einen Einblick in eine Ihrer Geschichten geben? Was erzählen Sie?
Das mache ich an den beiden anderen Kurzgeschichten, die Sie erwähnt haben. In „Journalistisches Wahrheitsspiel“ geht es um einen freiberuflichen Journalisten, der einen Bericht über eine Demonstration gegen die Corona-Politik schreiben soll. Dabei gerät er in einen inneren Konflikt. Einerseits weiß er, was sein Chefredakteur erwartet: nämlich eine negative Darstellung der Demonstranten. Auf dieser Folie schreibt er den Bericht, wird sich aber bewusst, dass er dabei gegen journalistische Standards verstößt. Das gefällt ihm nicht, dafür hat er nicht diesen Beruf erlernt, aber er will auch nicht länger als Freiberufler in prekären Verhältnissen arbeiten. Und aus dieser Situation kommt er nicht heraus, wenn er Berichte schreibt, die der Meinung des Chefredakteurs bzw. des Mediums widersprechen. Diese Figur ist in dem Kurzgeschichtenband speziell: Sie ist Täter und Opfer zugleich, Opfer von Umständen, die über die Corona-Krise hinausgehen, aber in der Corona-Krise zum Nährboden für unmoralisches Handeln wurden.
In „Weihnachtspiks“ geht es entlang der Impfagenda um die gesellschaftliche Spaltung, die bis in den familiären Bereich reicht. Die Geschichte thematisiert, wie Familienmitglieder aufgrund unterschiedlicher Ansichten nicht miteinander Weihnachten feiern können, wobei die medial befeuerte Angst dabei eine sehr große Rolle spielt.
Die Tage habe ich auf der Plattform X Folgendes gelesen: „Ich muss zwischendrin einfach feststellen: Ich habe das, was bei Corona mit der Welt und der Gesellschaft passiert ist, noch nicht wirklich verarbeitet. Dass man kaum noch darüber spricht, macht es nicht leichter.“ Das sind die Worte eines Nutzers der Plattform. Meine Beobachtung ist: So empfinden viele. Was passiert ist, war und ist so schwerwiegend, so weitreichend, dass man nicht so tun darf, als sei doch jetzt alles gut, weil es ja vorüber ist. Wie sehen Sie das?
Corona wurde vor allem medial überlagert von anderen Themen, von Ukraine- und Gaza-Krieg, von Migrations- und Klimapolitik, von Inflation und Deindustrialisierung. Diese Themen bestimmen die Schlagzeilen. Die Medien lenken immer die Wahrnehmung in eine bestimmte Richtung und prägen dadurch das kollektive Bewusstsein. Auch ich habe das Gefühl, dass die Ereignisse rund um die Corona-Politik noch nicht verarbeitet sind. Viele Menschen wollen eine Aufarbeitung, sehen aber, dass sich da auf institutioneller Ebene nichts tut. Das führt zur Frustration und Resignation. Mein Buch ist ein Versuch, das Thema wieder ins Gespräch zu bringen und vor allem diejenigen für die menschlichen Schicksale zu sensibilisieren, die noch immer denken, dass die Maßnahmen richtig waren.
Was waren für Sie die schlimmsten Erlebnisse?
Das schlimmste Erlebnis war tatsächlich der generelle Freiheitsverlust. Nicht mehr zu Veranstaltungen oder in Restaurants gehen zu können, nicht mehr selbst entscheiden zu dürfen, ob man Maske tragen wollte oder nicht, ob man sich impfen lassen wollte – all das war schon eine prägende Erfahrung im negativen Sinne. Nicht weniger leicht zu ertragen war die Ausgrenzung im Zuge der 2G-Politik. Während geimpfte oder genesene Personen am sozialen Leben teilnehmen durften, musste man an der Seitenlinie zuschauen. Da fühlte man sich wie ein Mensch zweiter Klasse. Ich hoffe, so etwas nie mehr erleben zu müssen.
Titelbild: Cryptographer/shutterstock.com
Lesetipp
Eugen Zentner: Corona-Schicksale. München 2025, massel Verlag, 1. Edition, Taschenbuch, 150 Seiten, ISBN 978-3-948576-20-2, 16,90 Euro. Erscheinungstermin: 28. Februar 2025