30 Jahre Lügen über den Nahen Osten suchen uns heim

30 Jahre Lügen über den Nahen Osten suchen uns heim

30 Jahre Lügen über den Nahen Osten suchen uns heim

Ein Artikel von: Redaktion

Der „Krieg gegen den Terror“ des Westens baut auf einer Serie von Täuschungen auf. Die sollten uns weismachen, dass unsere Staatenlenker den islamistischen Extremismus zerschlagen, wo sie ihn doch tatsächlich fütterten. Sagt der freie britische Journalist Jonathan Cook, der jahrzehntelang im Nahen Osten gelebt hat, im folgenden Artikel, hier auf Deutsch übersetzt von Susanne Hofmann.

Die Story: Haben Sie vor 30 Jahren geglaubt, als man Ihnen erzählte, dass die Osloer Abkommen dem Nahen Osten Frieden bringen würden? Dass sich Israel endlich aus den Palästinensergebieten zurückziehen würde, die es jahrzehntelang besetzt hatte, die brutale Unterdrückung des palästinensischen Volkes beenden und zulassen würde, dass dort ein palästinensischer Staat errichtet würde? Dass die schwelende Wunde für die arabische und muslimische Welt endlich geschlossen werden würde?

Die Realität: Tatsächlich raubte Israel während des Osloer Friedensprozesses mehr palästinensisches Land denn je und weitete den Bau illegaler jüdischer Siedlungen so rasch wie nie aus. Israel verhielt sich noch repressiver als zuvor, errichtete Gefängnismauern rund um Gaza und die Westbank und hielt die Besatzung weiterhin auf aggressive Weise aufrecht. Und im Jahr 2000 „sprengte“ Ehud Barak, der damalige israelische Premierminister, um mit den Worten eines seiner wichtigsten Berater zu sprechen, die von den USA unterstützten Verhandlungen von Camp David.

Wochen später, während die besetzten Palästinensergebiete vor Wut schäumten, drang der Oppositionsführer Ariel Scharon mit eintausend israelischen Soldaten in die al-Aksa-Moschee in Jerusalem ein – einer der heiligsten Orte der Muslime weltweit. Das brachte das Fass endgültig zum Überlaufen und löste einen Aufstand der Palästinenser aus. Diesen walzte Israel mit vernichtender militärischer Gewalt nieder und bewirkte damit, dass das Volk nunmehr seine Unterstützung der säkularen Fatah-Führung entzog und sich der islamistischen Widerstandsgruppe Hamas zuwandte.

Auf längere Sicht diente Israels zunehmend brutale Behandlung der Palästinenser und seine allmähliche Übernahme der al-Aksa-Moschee – unterstützt vom Westen – dazu, die dschihadistische Gruppe al-Qaida weiter zu radikalisieren und die öffentliche Rechtfertigung für den Angriff auf die Zwillingstürme von New York zu liefern.

Die Story: Haben Sie 2001 nach dem 11. September geglaubt, als man Ihnen erzählte, dass der einzige Weg, die Taliban daran zu hindern, al-Qaida in Afghanistan Unterschlupf zu gewähren, darin bestünde, dass die Amerikaner und Briten dort einmarschieren und sie aus ihren Höhlen „räuchern“? Und dass der Westen in dem Zuge auch die afghanischen Mädchen und Frauen aus der Unterdrückung befreien würde?

Die Realität: Sobald die ersten US-Bomben fielen, erklärten sich die Taliban dazu bereit, der US-Marionette Hamid Karzai die Macht zu überlassen, sich aus der afghanischen Politik herauszuhalten und al-Qaida-Chef Osama bin Laden an ein vereinbartes Drittland auszuliefern. Die USA marschierten trotzdem ein, besetzten Afghanistan 20 Jahre lang, töteten mindestens 240.000 Afghanen, überwiegend Zivilisten, und gaben rund zwei Billionen US-Dollar dafür aus, ihre im Land verhasste Besatzung dort zu halten. Die Taliban wurden stärker denn je und vertrieben 2021 die US-Armee aus dem Land.

Die Story: Haben Sie 2003 daran geglaubt, als man Ihnen erzählte, dass der Irak Massenvernichtungswaffen hat, die Europa binnen Minuten zerstören könnten? Dass der irakische Staatschef Saddam Hussein der neue Hitler sei und dass er sich mit al-Qaida zusammengetan habe, um die Zwillingstürme zu zerstören? Und dass die USA und Großbritannien aus diesen Gründen keine andere Wahl hätten, als präventiv in den Irak einzumarschieren, selbst wenn die UN sich weigerten, den Angriff zu autorisieren?

Die Realität: Jahrelang war der Irak scharfen Sanktionen unterworfen nach Saddam Husseins törichter Entscheidung, in Kuwait einzumarschieren und die Ordnung in der Golfregion durcheinanderzuwirbeln. Diese hatte zum Ziel, den Erdöl-Fluss in den Westen zu sichern. Die USA antworteten mit ihrer eigenen militärischen Machtdemonstration und dezimierten die irakische Armee. In den 1990er-Jahren verfolgte man eine Eindämmungspolitik und errichtete ein Sanktionsregime, das geschätzt mindestens eine halbe Million irakischer Kinder das Leben kostete – ein Preis, den die damalige US-Außenministerin Madeline Albright bekanntermaßen als „es wert“ bezeichnete.

Saddam Hussein musste sich auch einem Programm rotierender Waffeninspektionen durch UN-Experten unterwerfen. Die Waffeninspektoren kamen zu dem Schluss, dass es mit ziemlicher Sicherheit keine verwendbaren Massenvernichtungswaffen im Irak gab. Der Bericht, nach dem Saddam Hussein gegen Europa losschlagen und es innerhalb einer halben Stunde treffen konnte, war eine Falschmeldung, welche die britischen Geheimdienste zusammengeschustert hatten. Und die Behauptung, dass Saddam Verbindungen zu al-Qaida hätte, wurde nicht nur durch keine Beweise gestützt, sondern war offensichtlicher Unsinn. Saddams in höchstem Maße weltliches, wenngleich brutales Regime stand in diametralem Gegensatz zum religiösen Eifer von al-Qaida, den es fürchtete.

Die US-britische Invasion und Besatzung und der grausam spalterische Bürgerkrieg, der dadurch zwischen den Sunniten und den Schiiten entfesselt wurde, sollte realistischen Schätzungen zufolge mehr als eine Million Iraker töten und weitere vier Millionen aus ihren Häusern vertreiben. Der Irak wurde zum Rekrutier-Becken für den islamischen Extremismus und führte zur Schaffung eines neuen, weit nihilistischeren sunnitischen Rivalen zu al-Qaida namens Islamischer Staat. Diese Politik bestärkte auch die Macht der schiitischen Mehrheit im Irak, welche die Macht von den Sunniten übernahm und eine engere Allianz mit dem Iran schloss.

Die Story: Haben Sie 2011 geglaubt, als man Ihnen erzählte, dass der Westen den Arabischen Frühling unterstützte, um die Demokratie in den Nahen Osten zu bringen, und dass Ägypten – der größte arabische Staat – an der Spitze des Wandels stehe, indem es seinen autoritären Präsidenten Hosni Mubarak stürzte?

Die Realität: Mubarak war vom Westen drei Jahrzehnte lang als Ägyptens Tyrann aufgebaut worden und erhielt von Washington Milliarden an „Entwicklungshilfe“ – de facto Bestechungsgelder, damit er die Palästinenser im Stich ließ und zu den Konditionen des Camp-David-Abkommens Frieden mit Israel hielt. Doch die USA wandten sich widerwillig von Mubarak ab, nachdem sie zur Einschätzung gelangt waren, dass er den wachsenden Protesten im Land nicht standhalten konnte. Diese gingen von revolutionären Kräften aus, die vom Arabischen Frühling losgetreten worden waren. Dabei handelte es sich um eine Mischung aus säkularen liberalen und islamischen Gruppen unter der Führung der Muslimbruderschaft. Weil sich die Armee zurückhielt, gingen die Protestierer als Sieger hervor. Die Muslimbruderschaft gewann die Wahlen, um die neue demokratische Regierung zu stellen.

Hinter den Kulissen indes festigte das Pentagon die Bande zu den Resten des alten Mubarak-Regimes und dem neuen Anwärter auf die Krone, General Abdel Fattah el-Sisi. Darüber beruhigt, dass keine US-Repressalien drohten, startete el-Sisi schließlich einen Coup, um 2013 Ägypten zurück zu einer Militärdiktatur zu führen. Israel machte seinen Einfluss geltend, damit el-Sisis Militärdiktatur weiterhin Milliarden an jährlichen US-Hilfen erhielt.

An der Macht errichtete Sisi die gleichen repressiven Machtstrukturen wie Mubarak, zertrümmerte die Muslimbruderschaft und stellte sich an Israels Seite, um Gaza mit einer Blockade zu erdrosseln, die der Isolierung der Hamas, Palästinas Version der Muslimbruderschaft, diente. Damit leistete er dem islamischen Extremismus weiter Vorschub, und der Islamische Staat begründete ein Standbein auf dem Sinai. Währenddessen bekräftigten die USA, dass ihr Einsatz für den Arabischen Frühling und die Demokratiebewegungen im Nahen Osten nicht existierten.

Die Story: Haben Sie geglaubt, als man Ihnen ebenfalls 2011 sagte, dass der libysche Diktator Muammar Gaddafi eine schlimme Bedrohung für seine eigene Bevölkerung darstelle und seinen Soldaten gar Viagra gegeben habe, um Massenvergewaltigungen zu begehen? Dass der einzige Weg, die normalen Libyer zu schützen, eine Bombardierung des Landes durch die NATO, angeführt von den USA, Großbritannien und Frankreich, sowie die direkte Unterstützung oppositioneller Gruppen zum Sturz Gaddafis sei?

Die Realität: Die Vorwürfe gegen Gadaffi entbehrten wie die gegen Saddam Hussein jeden Beweises, wie eine Untersuchung des britischen Parlaments fünf Jahre später, im Jahr 2016, ergab. Doch der Westen brauchte einen Vorwand, um den libyschen Staatschef loszuwerden, den man als Bedrohung westlicher geopolitischer Interessen sah. Eine Veröffentlichung von US-Diplomaten-Depeschen durch Wikileaks zeugt von Washingtons Beunruhigung angesichts von Gadaffis Bemühungen, eine Art Vereinigte Staaten von Afrika zu erschaffen, um die Ressourcen des Kontinents zu kontrollieren und eine unabhängige Außenpolitik zu entwickeln. Libyen, im Besitz von Afrikas größten Ölvorkommen, bildete einen gefährlichen Präzedenzfall, bot Russland und China neue Verträge zur Erdölfelderschließung an und verhandelte bestehende Verträge mit westlichen Ölfirmen zu weniger günstigen Bedingungen neu. Gadaffi schloss auch engere militärische und ökonomische Verbindungen zu Russland und China.

Die Bombardierung Libyens durch die NATO sollte nie dazu dienen, die Bevölkerung dort zu schützen. Nach Gadaffis Sturz überließ man das Land sofort sich selbst. Es entstand ein gescheiterter Staat mit Warlords und Sklavenmärkten. Teile Libyens wurden zur Hochburg des Islamischen Staates. Westliche Waffen, die man „Rebellen“ hatte zukommen lassen, stärkten letzten Endes den IS und beförderten die spalterischen Blutbäder in Syrien und im Irak.

Die Story: Haben Sie geglaubt, als man Ihnen wiederum ab 2011 sagte, demokratische Kräfte stünden bereit, Syriens Diktator Bashar al-Assad zu stürzen, und dass das Land am Rande einer Revolution nach Muster eines Arabischen Frühlings stehe, die das syrische Volk befreien würde?

Die Realität: Zweifellos führte Assads Herrschaft – zusammen mit Dürre und Ernteausfällen infolge klimatischen Wandels – im Jahr 2011 zu wachsenden Unruhen in Teilen Syriens. Richtig war außerdem, dass Assads Regierung, wie andere säkulare arabische Regime, die auf der Herrschaft einer Minderheitensekte beruhen, auf brutalen Autoritarismus angewiesen war, um seine Macht über andere, größere Sekten zu halten. Doch das ist nicht der Grund, weshalb Syrien in einen blutigen Bürgerkrieg gestürzt wurde, der über 13 Jahre tobte und Akteure von Iran und Russland bis Israel, der Türkei, al-Qaida und den IS mit hineinzog. Das lag vor allem an Washington und Israel, die wieder einmal ihre geostrategischen Interessen verfolgten. Das wirkliche Problem für Washington war nicht Assads Autoritarismus – die stärksten US-Verbündeten der Region waren ausnahmslos autoritär – es lag an zwei anderen entscheidenden Faktoren.

Zum einen gehörte Assad der alawitischen Minderheit an, einer schiitischen Sekte, die jahrhundertelang mit dem dominanten Islam sunnitischer Prägung in der Region im Clinch lang. Der Iran war ebenfalls schiitisch. Iraks schiitische Mehrheit war an die Macht gelangt, nachdem Washington 2003 das sunnitische Regime Saddam Husseins vernichtet hatte. Und schließlich war auch die libanesische Hisbollahmiliz schiitisch. Zusammen bildeten die Genannten das, was Washington immer öfter als „Achse des Bösen“ bezeichnete.

Zum anderen teilte Syrien eine lange Grenze mit Israel und war der geographische Hauptkorridor, der den Iran und den Irak mit den Guerrillatruppen der Hisbollah-Miliz im Norden von Israel, im Libanon verband. Über Jahrzehnte hatte der Iran Zehntausende immer leistungsstärkere Raketen und Geschosse in den Südlibanon nahe der Nordgrenze Israels geschmuggelt. Dieses Arsenal diente während dieser Zeit als Abwehrschirm, der Israel davon abhielt, in den Libanon einzumarschieren und ihn zu besetzen, wie sie es jahrelang getan hatten, bevor es Hisbollah-Kämpfer im Jahr 2000 dazu zwangen sich zurückzuziehen. Das Arsenal diente aber auch dazu, Israel davon abzuhalten, nach Syrien einzumarschieren und den Iran anzugreifen.

Wenige Tage nach dem 11. September zeigte ein Pentagon-Beamter dem hochrangigen US-General Wesley Clarke ein Dokument, in dem die Antwort der USA auf den Anschlag auf die Zwillingstürme dargelegt war. Die Vereinigten Staaten wollten sieben Länder in fünf Jahren „zerlegen“. Bemerkenswert: Der Großteil der Zielländer waren die Schia-Hochburgen im Nahen Osten – Irak, Syrien, Libanon und Iran. Die Täter vom 11. September waren, nota bene, Sunniten und stammten vorwiegend aus Saudi-Arabien. Iran und seine Verbündeten hatten sich Washingtons Bemühungen widersetzt, – und wurden dabei zunehmend offen von den sunnitischen Staaten, insbesondere den ölreichen Golfstaaten unterstützt – Israel als regionalen Hegemon zu installieren und ihm widerstandslos zu erlauben, die Palästinenser als Volk auszulöschen

Israel und Washington bemühen sich übrigens derzeit aktiv, diese Ziele zu erreichen. Und Syrien war für die Umsetzung ihres Planes immer entscheidend. Deshalb haben die USA als Teil der Operation Timber Sycamore auch heimlich riesige Mengen Geld in die Ausbildung ihrer früheren Feinde von al-Qaida gepumpt, um eine Anti-Assad-Miliz zu bilden. Diese nahm sunnitische Dschihadisten aus der Region auf und bemächtigte sich der Waffen aus gescheiterten Staaten wie Libyen. Die Golfstaaten unterstützten den Plan finanziell, die Türkei, Israel und Großbritannien halfen militärisch und mit ihren Geheimdiensten.

2024 gerieten Assads Hauptverbündete schließlich in eigene Schwierigkeiten: Russland steckte in einem von der NATO geführten Stellvertreterkrieg in der Ukraine fest, während Teheran zunehmend in Bedrängnis geriet aufgrund der israelischen Angriffe auf den Libanon, Syrien und den Iran selbst. Just in diesem Moment eroberte HTS – eine al-Qaida-Truppe, der man ein neues Image verpasste – Damaskus im Handumdrehen und zwang Assad zur Flucht nach Moskau.

Wenn Sie all diese Stories geglaubt haben und immer noch dem Glauben anhängen, dass der Westen alles dafür tut, den islamischen Extremismus und einen angeblichen russischen Imperialismus in der Ukraine zu bändigen, dann glauben Sie wahrscheinlich auch, dass Israel Gaza dem Erdboden gleichgemacht, alle Krankenhäuser dort zerstört hat und die gesamte 2,3 Millionen Menschen umfassende Bevölkerung hungern lässt, bloß um „die Hamas zu vernichten“, obwohl die Hamas immer noch aktiv ist.

Sie glauben wahrscheinlich auch, dass der Internationale Gerichtshof Unrecht daran tat, Israel den Prozess zu machen mit dem Vorwurf, es begehe in Gaza einen Genozid. Sie glauben wahrscheinlich auch, dass selbst die bedächtigsten israelischen Holocaust-Experten falsch lagen, als sie zu dem Schluss kamen, dass Israel unbestreitbar in ein Stadium des Völkermordes eingetreten sei, als es die „Sicherheitszone“ von Rafah zerstörte, in die es einen Großteil der Gaza-Bevölkerung getrieben hatte. Und Sie glauben vermutlich, dass alle großen Menschenrechtsgruppen falsch lagen, als sie Ende letzten Jahres nach ausführlichen Recherchen – um sich vor Verleumdungen durch Israel und seine Apologeten zu schützen – zu dem Schluss kamen, dass Israels Verwüstung von Gaza alle Merkmale eines Genozids aufweise.

Zweifellos werden Sie auch glauben, dass Washingtons langgehegter Plan für eine umfassende globale Dominanz gutherzig ist und dass die USA nicht den Iran und China als nächstes im Blick haben.

Wenn dem so ist, dann werden Sie weiterhin alles glauben, was man Ihnen weismachen will – selbst wenn wir uns, den Lemmingen gleich, über die Klippe stürzen, denn diesmal wird es ja sicher alles ganz anders ausgehen.

Titelbild: Anas-Mohammed/shutterstock.com