Ein Gespräch mit Manuel Azuaje Reverón von der neuen linken Strömung “Comunes” über Perspektiven der Opposition gegen die Regierung von Nicolás Maduro, zunehmende Repression, schwer einschätzbare soziale Dynamiken in der venezolanischen Bevölkerung und das komplexe Verhältnis zu den USA. Das Interview führte Jan Kühn.
Ohne überprüfbare Wahlergebnisse wurde Nicolás Maduro am 10. Januar erneut als Präsident Venezuelas vereidigt. Wie bewerten Sie die aktuelle Situation, und was erwarten Sie für die kommende Amtszeit?
Mit der Vereidigung Maduros am 10. Januar hat in Venezuela eine De-facto-Regierung begonnen. Diese stützt sich vor allem auf Gewalt, auf eine enge Allianz mit den militärischen und polizeilichen Kräften. Genau diese Polizeikräfte haben die Repression durchgeführt, um die nach den Präsidentschaftswahlen am 28. Juli geäußerte Unzufriedenheit zu unterdrücken.
Doch es muss auch gesagt werden, dass diese Regierung durch eine äußerst enge Verbindung mit den wirtschaftlichen Eliten sowie mit nationalem und transnationalem Kapital abgesichert wird. Diesen wurde in den letzten Jahren die Ausbeutung venezolanischer Ressourcen überlassen – darunter sogar US-Unternehmen wie Chevron. Das ist eine klassische Allianz, die sich stark von dem unterscheidet, was man sich unter einer oft als “links” bezeichneten Regierung vorstellt.
Diese Beziehungen könnten sich jetzt noch vertiefen, da die Regierung keine Verpflichtungen mehr gegenüber der Bevölkerung hat. Sie muss weder Löhne erhöhen noch Sozialpolitik betreiben, denn letztlich schuldet sie den Menschen nichts.
Dass diese Regierung an der Macht bleibt, bedeutet einen tiefgreifenden Wandel im politischen Leben Venezuelas. Es schränkt die Möglichkeiten ein, Politik im grundlegendsten Sinne zu betreiben – sich zu organisieren, an Versammlungen teilzunehmen, öffentlich zu sprechen, Aktivitäten zu veranstalten oder Menschen für eine politische Organisation zu gewinnen.
In den Tagen vor dem 10. Januar geschah etwas, das in dieser Form bisher nicht vorgekommen war: Die Regierung richtete ihren repressiven Apparat gegen das Bündnis Frente Democrático Popular und insbesondere gegen drei ihrer sichtbarsten Sprecher. Der ehemalige Präsidentschaftskandidat Enrique Márquez wurde festgenommen, María Alejandra Díaz und ihre Familie werden verfolgt, und Juan Barreto wurde faktisch unter Hausarrest gestellt – obwohl es keine gerichtliche Anordnung gibt. Vor seinem Haus stehen Polizisten, die ihm unmissverständlich mitteilen, dass er seine Wohnung nicht verlassen darf.
Die Menschen haben nun spürbar Angst. Sie scheuen sich davor, sich Organisationen anzuschließen oder offen ihre Meinung zu äußern. Das ist der eng begrenzte Spielraum, in dem wir uns jetzt bewegen.
Auch der Nationale Wahlrat (CNE) ist de facto entmachtet. Dieses unabhängige Organ, das für die Organisation von Wahlen und die Festlegung von Wahlkalendern zuständig ist, hat seine Befugnisse faktisch verloren. Es scheint, als ob die Nationalversammlung, die Legislative, sich selbst die Zuständigkeiten des CNE zuspricht.
Die Regierung strebt Gespräche an, um die Wahltermine für dieses Jahr festzulegen. Wahrscheinlich wird sie versuchen, Druck auf die Oppositionsparteien auszuüben, die derzeit Bürgermeister- oder Gouverneursposten innehaben. Diese Parteien könnten gezwungen sein, die Wahlergebnisse anzuerkennen und sich der Exekutive zu unterwerfen, um ihre Positionen zu behalten und unter den gegebenen Bedingungen weiter teilnehmen zu können.
Das würde jedoch bedeuten, die Bevölkerung im Stich zu lassen. Denn die allgemeine Wahrnehmung ist, dass dies der falsche Weg ist. Angesichts der fehlenden Legitimität der letzten Präsidentschaftswahlen würde die Ansetzung neuer Wahlen, ohne diese Problematik vorher zu klären, auf großen Widerstand in der Bevölkerung stoßen. Gleichzeitig stehen die Parteien vor einem Dilemma: Sie wollen diese Machtpositionen nicht verlieren. Das ist in etwa die Situation, in der wir uns momentan befinden[1].
Sie haben keinerlei Zweifel daran, dass ein Wahlbetrug begangen wurde?
Die Ergebnisse, die der Wahlrat bekannt gegeben hat, entsprechen weder dem, was die Menschen erlebt haben, noch dem, was in den Straßen und Wahllokalen tatsächlich geschah. Zudem wurden die Mechanismen zur Überprüfung dieser Ergebnisse nicht eingehalten, wodurch es weder Legitimität noch Nachprüfbarkeit gibt.
Mit der Zeit haben selbst einige Mitglieder des PSUV im Privaten in zynischer Weise eingeräumt:
„Ja, wir haben diese Wahlen gestohlen, aber wir mussten es tun, weil es strategisch notwendig war, um zu verhindern, dass die Rechte an die Macht kommt.”
Das ist inzwischen Teil der offiziellen Rhetorik der Regierung und von Nicolás Maduro selbst, der sagt, dass bürgerliche Wahlen eine Farce seien und dass solche Wahlen nie wieder stattfinden dürften. Stattdessen solle ein anderes Wahlsystem eingeführt werden. Dies zeigt schrittweise ein faktisches Eingeständnis darüber, was bei diesem Prozess wirklich geschehen ist.
Die Menschen wissen, was passiert ist. Deshalb gingen sie am Tag nach der Wahl auf die Straße – aus dem klaren Bewusstsein heraus, dass die Ergebnisse, die ihnen präsentiert wurden, in keiner Weise mit dem übereinstimmten, was sie in ihren Stadtvierteln gesehen hatten. Besonders beeindruckend war, dass in Gegenden, in denen der Chavismus früher dominierte, nun Niederlagen zu verzeichnen waren. Das wurde am Abend des 28. Juli sehr deutlich. Es kam zu einem Ausbruch der Empörung, weil die Menschen die Wahrheit kannten.
Das Wahlergebnis der Opposition wurde letztlich zu einem symbolischen Resultat. Es ist jedoch problematisch, diese Ergebnisse anzuerkennen, da auch sie nicht den angemessenen Überprüfungsmechanismen unterzogen wurden.
Wir haben betont, dass die Wiederherstellung der venezolanischen Verfassung bedeutet, die Schritte zu gehen, die die Verfassung selbst vorgibt. Es geht nicht darum, darüber zu streiten, ob mein Ergebnis oder dein Ergebnis korrekt ist, sondern darum, die Verfassung anzuwenden und die notwendigen Prüfmechanismen umzusetzen. Außerdem gibt es kein Verfallsdatum dieser Verpflichtung – es ist nicht so, dass die Vereidigung Maduros im Januar bedeutet, dass diese Diskussion sinnlos geworden ist.
Wir haben vorgeschlagen, eine Wahrheitskommission für die Wahlen einzurichten. Diese Kommission soll international sein, mit nationalen Vertretern und der Teilnahme aller politischen Parteien. Ziel ist es, die Verfahren festzulegen, denn theoretisch sollten die Wahlurnen mit den Stimmzetteln, die Protokolle der Wahlmaschinen und die Wählerlisten vorhanden sein. Die Überprüfung ist möglich, zumindest wenn die Materialien nicht vernichtet wurden.
Nach den Präsidentschaftswahlen 2018 versuchte die Opposition mit Unterstützung der USA und vieler europäischer Länder, eine Parallelregierung in Venezuela zu etablieren, mit Juan Guaidó als angeblichem Präsidenten. Werden sie diesmal etwas Ähnliches versuchen?
Das ist eine Möglichkeit, aber die Bevölkerung lehnt diesen Weg im Allgemeinen ab. Das venezolanische Volk ist sich sehr bewusst, welche Strategien gescheitert sind. Die Tatsache, dass Edmundo González nicht im Ausland vereidigt wurde, zeigt deutlich, dass dies vorerst nicht der eingeschlagene Weg sein wird. Die Menschen haben auch klar erkannt, dass dieser Ansatz mit Guaidó nicht funktioniert hat.
Darüber hinaus versteht die Bevölkerung, dass diese Strategie zu erheblichen Korruptionsskandalen geführt hat. Ein kleiner Teil der Opposition hat sich in dieser Zeit bereichert, indem er in öffentlichen Korruptionsaffären die ihnen zur Verfügung gestellten Ressourcen missbrauchte. Diese Form der Politik hat es einigen Oppositionsgruppen ermöglicht, von der Existenz der Maduro-Regierung in Venezuela zu profitieren, während sie selbst in New York, Miami oder Spanien leben, unterstützt durch finanzielle Mittel und Ressourcen. Sie führen ein Leben in Opulenz, das niemand aus der venezolanischen Bevölkerung kennt.
Das führt zu erheblichen Problemen, da sich die politischen Optionen erschöpfen und die Menschen zunehmend frustriert sind. Sie vertrauen der hegemonialen Opposition immer wieder und erleben wiederholt Misserfolge und Enttäuschungen. Das stärkt natürlich die Regierung, weil es den Eindruck vermittelt, dass es keine politische Alternative gibt. Gleichzeitig treibt es die Menschen dazu, sich radikalere und gewaltsamere Optionen vorzustellen, wie etwa militärische Interventionen.
Wie erklärt sich, dass nach vielen Jahren mit soliden Mehrheiten für den Chavismus nun eine Mehrheit für den Kandidaten der Rechten gestimmt hat?
María Corina Machado, die tatsächlich die Wahlkampagne der Opposition anführte, ist in gewissem Maße das Ergebnis von Maduros Politik. Die Regierung hat zugelassen, dass sie so weit kommt, und man könnte denken, dass es Teil ihrer Strategie war, durch Antagonismus und Polarisierung eine extreme Oppositionskandidatur zu fördern, um dadurch mehr Stimmen für sich zu gewinnen. Diese Strategie ist allerdings gründlich gescheitert.
Man muss anerkennen, dass das venezolanische Volk in der Lage ist, die Konsequenz von Machado zu erkennen, selbst wenn sie extrem ist. Ihre radikale Haltung war über die Zeit hinweg konsistent, und die Menschen wissen das zu schätzen.
Zudem war die von Machado angeführte Wahlkampagne sehr erfolgreich. Auch wenn ihre politischen Positionen uns nicht gefallen mögen, muss man das anerkennen. Sie schaffte es, das Land zu bereisen, obwohl die Regierung ihr zahlreiche Hindernisse in den Weg legte. Doch jedes dieser Hindernisse wurde von ihr überwunden, was eine epische Erzählung schuf – sie erreichte Orte, durchbrach Polizeisperren und dergleichen. Dadurch gelang es ihr, insbesondere in den von der Maduro-Regierung enttäuschten Bevölkerungsgruppen die Popularität ihrer Kampagne zu stärken. Für viele wurde sie zur Option, um Maduro zu stürzen, und zusammen mit Edmundo González repräsentierte sie eine Alternative, die als realistisch gewinnbar wahrgenommen wurde.
Die Menschen in Venezuela haben ein sehr ausgeprägtes Gespür für strategisches Wählen. Sie wählen nicht irgendwen, sondern setzen auf Kandidaten, die eine Gewinnchance haben. Es gibt kaum dritte Optionen, die langfristig Stimmen sammeln, denn die Menschen wollen ihre Stimme nicht verschwenden.
Die Strategie der Regierung, eine antagonistische Figur zu erschaffen, um durch Polarisierung Stimmen zu gewinnen, hat historisch oft funktioniert. Dieses Mal jedoch nicht. Das Problem dieser Wahl bestand darin, dass die Menschen zwischen einer bekannten Realität – der Regierung, die sie täglich erleben – und einer ungewissen Alternative wählen mussten. Machado könnte als Präsidentin alles Mögliche tun. Das ist jedoch nur hypothetisch. Die Realität, die die Menschen kennen, ist das, was die Regierung tatsächlich tut.
Betrachtet man den Regierungsplan, den Maduro seit 2018 umgesetzt hat, bleibt Machado kaum noch etwas, was sie neu einführen könnte. Maduro hat privatisiert, die Gehälter ruiniert, öffentliche Angestellte entlassen und linke Parteien verfolgt. All diese Dinge hat die Regierung nach und nach umgesetzt.
Was könnte Machado also Neues bringen? “Mit dem Imperialismus gemeinsame Sache machen!”, wird gesagt. Aber sehen wir uns an, was passiert: Chevron wurde unsere Ölindustrie überlassen. Die venezolanische Ölindustrie wird im Grunde von vier Amerikanern in einer transnationalen Unternehmenszentrale kontrolliert. Die Schwerindustrie in Guyana, Sidor und andere wurden an transnationale Firmen privatisiert, ohne dass wir wissen, wie diese Prozesse abliefen – völlig intransparent.
Machado ist eine Bedrohung für Dinge, die möglicherweise passieren könnten, aber Maduro setzt sie de facto bereits um.
Man muss auch berücksichtigen, dass die Regierung bis zu diesem Zeitpunkt alles unternommen hatte, um den politischen Spielraum für die Linke zu schließen. Sie entzog allen linken Parteien des Polo Patriótico[2], die Kritik an der Regierung übten, die Kontrolle über ihre Parteien. Sie verfolgte Gewerkschaftsführer – fast 300 Arbeiter sind inhaftiert. Viele Menschen mussten das Land verlassen. Welche Optionen bleiben in einem solchen Dilemma noch?
Ein Teil der Bevölkerung glaubt inzwischen, dass ein Sturz Maduros eine politische Neukonfiguration ermöglichen könnte, die vielleicht Raum für politische Aktivitäten schafft. Aktuell ist Politik nicht möglich – es gibt Drohungen, Verfolgungen und Einschränkungen.
Als Strömung positioniert sich Comunes als linksgerichtet und agiert innerhalb eines breiteren Bündnisses, das sich von der traditionellen Polarisierung zwischen einer oppositionellen Bewegung mit Unterstützung der USA und einer Regierung, die sich als antiimperialistisch bezeichnet, distanziert. Wie gehen Sie mit dieser Situation um, ohne der Rechten in die Hände zu spielen?
Es gibt zwei Instanzen mit unterschiedlichen Handlungsspielräumen. Die Frente Democrático Popular versteht sich als breites Bündnis, das ein zentristisches politisches Lager formen soll. Es präsentiert sich als eine dritte politische Option, die alle Sektoren einlädt. Dadurch hat es einen größeren Handlungsspielraum.
Die Anwesenheit von Enrique Márquez ist ein gutes Beispiel dafür. Obwohl er in den 1990ern Mitglied einer linken Partei war, kommt er historisch aus der Opposition. Er war nie Teil des Chavismus, sondern stand immer in der Opposition. Das ist eine neue Situation, dass sich dissidenter Chavismus mit Personen aus der traditionellen Opposition zusammenschließt.
Dieser Ansatz ermöglicht es dem Bündnis, viel breitere Allianzen zu schmieden, die nicht die Strategien der extremen Opposition wie des “Maricorinismus” teilen, aber einen politischen Raum der Mitte schaffen wollen.
Comunes hingegen definiert sich offener als eine linke Strömung. Das bringt Grenzen mit sich und ist auch Teil interner Diskussionen: Sprechen wir von der Linken für die Linke oder für das gesamte Land? Uns ist sehr bewusst, wie stark die Ablehnung gegenüber linker Rhetorik derzeit ist, weil die Menschen die Linke und Sozialismus mit Maduro, Autoritarismus und gescheiterten Modellen verbinden.
Unsere Debatte dreht sich darum, wie wir politische Räume schaffen können, die das gesamte Land ansprechen. Die Verteidigung der nationalen Souveränität, der natürlichen Ressourcen, des Rechts auf Arbeit und auf Lohn sowie mit der Forderung nach kostenloser, universeller Bildung sind Themen, die in der Bevölkerung nach wie vor großen Rückhalt haben.
Es ist notwendig, eine kohärente politische Option zu schaffen. In der venezolanischen Politik gibt es viele inkohärente Politiker, die heute das eine sagen und morgen etwas anderes. Das führt zu einem tiefen Misstrauen der Bevölkerung, weil sie sehen, dass solche Politiker ihre Konsistenz aufgeben, um einen Sitz oder ein Bürgermeisteramt zu behalten.
Das Bündnis Frente Democrático Popular und Comunes müssen daran arbeiten, eine kohärente Politik zu entwickeln, die langfristig Bestand hat. Es erfordert auch Geduld, um eine glaubwürdige und vertrauenswürdige politische Kraft aufzubauen. Es geht darum, einen Raum zu schaffen, in dem die Menschen sich sicher fühlen, um für ihre politischen und sozialen Rechte zu kämpfen.
Ein weiteres Problem venezolanischer politischer Organisationen ist ihre Kurzfristigkeit. Nicht kurzfristig zu handeln bedeutet, nicht gleich bei der erstbesten Gelegenheit eine Möglichkeit zu ergreifen, um zwei Abgeordnete oder eine Bürgermeisterschaft zu erhalten. Jetzt ist nicht die Zeit dafür; es ist Zeit, mit politischer Geduld langfristig aufzubauen. Das ist schwierig, weil die Menschen ungeduldig werden, wenn politische Optionen zu schnell scheitern.
Vielleicht werden wir nie eine mehrheitliche politische Kraft, aber das ist ungewiss. Machado hatte vor zehn Jahren auch nur drei Prozent der Stimmen und schaffte es, eine politische Kraft zu bündeln. Sie füllte ein Vakuum, das entstand, und wenn dieses Vakuum wieder entsteht, muss es eine politische Option geben, die darauf vorbereitet ist, es zu füllen.
Es ist wichtig, zu überlegen, wie diese Option aussehen soll, denn gemäß der Realität finden moderate politische Zentren bei der Bevölkerung oft wenig Anklang. Es braucht zwar zentristische Räume, um politische Verhandlungen zu führen, aber gleichzeitig ist es notwendig, eine politisch tragfähige und radikalere Option zu schaffen – nicht radikal im Sinne von Antikapitalismus oder Antiimperialismus, sondern radikal im Einklang mit den Forderungen der Bevölkerung.
Die Regierung Maduro präsentiert sich stets als antiimperialistisch und deutet zugleich an, dass Verhandlungen mit der neuen Trump-Regierung möglich wären. Wie schätzen Sie die Perspektiven der Beziehungen Venezuelas zur neuen Trump-Regierung ein?
Die Regierung hat eine antiimperialistische Rhetorik, doch nicht nur die Verhandlungen in Doha[3] haben gezeigt, dass sie bereit ist, ihren Antiimperialismus aufzugeben, sondern auch, Ressourcen wie Öl zu Bedingungen zu überlassen, die für den venezolanischen Staat äußerst ungünstig sind und der eigenen Ölpolitik unter Chávez widersprechen.
Dieser Antiimperialismus ist oft nichts weiter als eine leere Phrase. Maduro würde sich nichts mehr wünschen, als von den USA mit offenen Armen empfangen zu werden und in Ruhe arbeiten zu dürfen, selbst wenn dies bedeutet, den USA entgegenzukommen. Das tut er bereits, indem er die Kontrolle über die Ölpolitik abtritt.
Der US-amerikanische Imperialismus ist jedoch nicht der einzige Akteur. Auch die Logik des transnationalen Kapitals hat in Venezuela Einzug erhalten, etwa durch chinesische oder indische multinationale Konzerne, denen kürzlich Unternehmen wie Sidor verkauft wurden. Diese Konzerne verfolgen eine extrem arbeiterfeindliche und repressive Politik – und die Regierung steht ihnen dabei zur Seite.
Es hat nichts Antiimperialistisches, wenn ein multinationales Unternehmen in Zusammenarbeit mit dem Staat einen Gewerkschafter verhaften lassen kann, um die Bildung einer Gewerkschaft zu verhindern. Wir kennen viele Beispiele für diese Praxis.
Bezüglich Trumps Positionierung lehnen wir imperialistische Interventionen und ausländische Gewaltlösungen für venezolanische Konflikte grundsätzlich ab. Militärische Invasionen oder die Verhängung von Sanktionen sind keine Lösungen. Sanktionen schaden der Bevölkerung und haben zudem die Bildung großer Mafia-Strukturen ermöglicht. Sie haben ein Umfeld geschaffen, das der Regierung erlaubte, mit dem Anti-Blockade-Gesetz die wenigen verbleibenden Kontrollmechanismen abzubauen.
Dieses Gesetz hat dazu geführt, dass große Vermögen entstehen konnten, weil es keinerlei Transparenz gibt. Es wird keine öffentliche Rechenschaft darüber abgelegt, wie Unternehmen privatisiert oder wie Öl verkauft wird, da versucht wird, die Sanktionen zu umgehen. Diese Sanktionen wurden ausgenutzt, um enorme Reichtümer zu schaffen.
Die Bevölkerung und auch die Politiker wissen, dass diese Sanktionen letztlich als Scharnier für eine bestimmte Art von Politikern dienten. Deshalb lehnen wir sie ab. Letztlich verarmen sie die Bevölkerung und stärken die Position der Regierung.
Niemand weiß jedoch genau, welche Politik Trump verfolgen wird. Es wäre durchaus möglich, dass er sich in bestimmten geopolitischen Verhandlungskontexten mit Maduro arrangiert. Für Biden war Maduro der perfekte Partner: Er hatte verhandelt, das Land „befriedet” und ermöglicht die Ausbeutung des Öls ohne Konflikte. Er sorgt durch repressive Kontrolle für ein vermeintlich “ruhiges” Land und lädt offen transnationale Konzerne und private Investitionen ein.
Es bleibt abzuwarten, ob Trump die bestehenden Widersprüche verschärft oder einen Weg einschlägt, der es ihm ermöglicht, weiterhin von der Öl- und Rohstoffexportpolitik Venezuelas zu profitieren. Diese Politik begünstigt nicht nur das Kapital im Ölsektor, sondern auch das Kapital im Allgemeinen.
Welche Auswege gibt es aus dieser Situation?
Ich denke, entscheidend wird die soziale Dynamik sein. Mit so wenig Legitimität zu regieren, ist äußerst schwierig. Es ist komplex, eine Regierung aufrechtzuerhalten, die nicht nur extrem unpopulär ist, sondern auch weiterhin unpopuläre Maßnahmen umsetzt. Die Lohnpolitik ist weiterhin unpopulär, ebenso wie die Politik im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen. Es ist eine äußerst belastende Mischung aus Illegitimität, Repression und unpopulären Maßnahmen, die die Bevölkerung hart trifft.
Das Konfliktpotenzial ist aktuell unterdrückt, weil die Repression nach dem 28. Juli sehr hart war. Aber von jetzt an wird es äußerst schwierig werden. Diese Regierungsfähigkeit – oder deren Mangel – wird entscheidend dafür sein, ob die Regierung gezwungen sein wird, Verhandlungen einzugehen. Sollte sie es schaffen, trotz der Unzufriedenheit eine gewisse Stabilität und Regierungsfähigkeit zu erreichen, könnte sie möglicherweise ihre De-facto-Amtszeit durchziehen. Doch das wird schwierig, denn das Niveau der Unzufriedenheit ist hoch und brodelt unter der Oberfläche.
Man kann die Bevölkerung zwar kurzfristig unterdrücken, sodass sie aus Angst zu Hause bleibt, aber nicht über Jahre hinweg. Es gibt eine Art Zeitbombe in Bezug darauf, wie die Menschen auf bestimmte Ereignisse reagieren könnten.
Wenn das Land zudem durch äußere Einflüsse wirtschaftlich erdrückt wird, könnte dies ebenfalls Veränderungen herbeiführen. In den letzten Jahren ist die Grenze zwischen der Regierung und den Unternehmern zunehmend verschwommen. Viele Regierungsmitglieder und ihre Familien sind mittlerweile selbst Unternehmer. Sie haben wirtschaftliche Interessen und Unternehmen, die sie aufrechterhalten wollen. Wenn das Land für diese Geschäfte untragbar wird, könnte sie das in ein Dilemma bringen, in dem sie zwischen ihren wirtschaftlichen Interessen und der Macht wählen müssen. Dieses Dilemma könnte durch internen oder externen Druck entstehen und zu Widersprüchen innerhalb der Regierung führen, da ein Teil ihrer Führung auf die Rentabilität des Kapitals fokussiert ist.
Die kommende Phase wird viel Organisation erfordern. Es müssen politische Strukturen geschaffen werden, um standzuhalten, Widerstand zu leisten, sich zu organisieren und die Menschen zu mobilisieren. Früher oder später werden wieder Proteste für höhere Löhne oder gegen schlechte Dienstleistungen entstehen. Diese soziale Kraft zu organisieren, um für Rechte, politische Veränderungen und die Demokratisierung des Landes zu kämpfen, ist ein grundlegender Weg.
Wenn es gelingt, eine Kraft aufzubauen, die diese Unzufriedenheit bündelt und Druck auf die Regierung ausübt – für den Schutz politischer und sozialer Rechte und für die Demokratisierung – könnte das ein Weg sein. Es ist ein komplizierter Weg, voller Bedrohungen und mit einer Perspektive auf mittlere bis lange Sicht, aber er liegt auf dem Tisch.
Sollte die Regierung irgendwann gezwungen sein zu verhandeln, wird sie wahrscheinlich direkt mit den USA verhandeln, so wie es bei den letzten Verhandlungen vor den Wahlen geschah. Solche Verhandlungen könnten zu einer Zwischenlösung führen. Es gibt gemäßigtere Organisationen, die glauben, dass dies ein gangbarer Weg sein könnte – auf eine Verhandlung zu warten und eine moderate Option als glaubwürdige Alternative vorzuschlagen. Es könnte sein, dass diese Alternative weder María Corina Machado noch Edmundo González heißt, sondern eine moderatere Person ist.
Als linke Organisationen müssen wir uns jedoch den Menschen verpflichten. Wir müssen uns mit ihren Hoffnungen und Wünschen verbinden und präsent sein, damit sie einen Raum finden, in dem sie sich artikulieren, organisieren und beteiligen können.
Im Kern gibt es in diesem Land ein Klima der Unzufriedenheit. Das war bereits 1989 beim Caracazo der Fall, ebenso am 28. und 29. Juli und bei anderen Gelegenheiten. Wenn kein Intellektueller einen Cent auf eine Volksrevolte wetten würde, geschehen sie doch. Und sie geschehen aus konkreten Gründen – wegen einer Fahrpreiserhöhung oder einer falschen politischen Entscheidung. Sie geschehen unerwartet, und das könnte auch jetzt wieder passieren, weil die Unbeliebtheit der Regierung weiterhin besteht.
Manuel Azuaje Reverón ist Professor für Filmanalyse und Filmgeschichte an der Universidad Experimental de las Artes sowie für Philosophie der Geschichte und sozioökonomische Formationen an der Universidad Central de Venezuela (UCV). Er ist aktiv in der neuen linken Strömung Comunes und dem Bündnis Frente Democrático Popular.
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Foto: Manuel Azuaje Reverón, Quelle: privat
Dieses Interview erschien zuerst auf Amerika21.
Titelbild: Shutterstock / tanitoast
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[«1] Inzwischen hat der CNE den Termin für Parlaments- und Gouverneurswahlen auf den 27.April festgesetzt. Der Vorschlag hierfür war vom Parlament nach Diskussionen mit 37 Vertretern oppositioneller Parteien und der vier Gouverneure, die der Opposition angehören, ausgearbeitet und dem CNE vorgelegt worden
[«2] Der Polo Patriótico (Patriotischer Pol) war ein Bündnis aus Parteien, die bei Wahlen die Kandidatur des Chavismus unterstützten
[«3] In Doha (Katar) fanden 2023 direkte geheime Verhandlungen zwischen der venezolanischen und der US-Regierung statt. Sie mündeten im Barbados-Abkommen, das Garantien für die Wahlen im Gegenzug zur Lockerung von Sanktionen enthielt