„Die Niederlage des Siegers“ – das neue Buch von Jacques Baud

„Die Niederlage des Siegers“ – das neue Buch von Jacques Baud

„Die Niederlage des Siegers“ – das neue Buch von Jacques Baud

Norman Paech
Ein Artikel von Norman Paech

Nun, da US-Präsident Trump darangehen will, gemeinsam mit dem begeisterten Ministerpräsidenten Israels, Netanjahu, den Gazastreifen endgültig von den Palästinenserinnen und Palästinensern zu säubern und nach den bewährten Kriterien der Immobilienbranche für seine Klienten herzurichten, herrscht in der westlichen Welt plötzlich Überraschung und Empörung. Eine Rezension von Norman Paech.

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Das ist zumindest so verlogen, wie der Umgang mit diesem zum Völkermord entarteten Krieg seit dem 7. Oktober 2023 verlogen ist.

Denn die Vertreibung der Bewohner und den Umbau – nicht Wiederaufbau – des Streifens zu einer internationalen Handels- und Tourismusexzellenz konnte man schon länger in Plänen der Regierung in Jerusalem und von sogenannten Thinktanks lesen. Überraschen sollte ebenfalls nicht die Brutalität, mit der Trump die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung ohne die Chance einer Rückkehr durchsetzen will und dabei die Nachbarstaaten Jordanien und Ägypten unter Druck setzt. Netanjahus Strategie, den Krieg gegen den Gazastreifen so lange hinauszuziehen, bis Trump als neuer Präsident der USA neben und hinter ihm steht, ist offensichtlich aufgegangen. Die NATO-Verbündeten, die einzigen Staaten, die einen gewissen Einfluss auf Trump ausüben könnten, verharren selbst in Schockstarre durch die Verordnungsflut Trumps, mit der er die alten Verträge und Abreden umstürzt. Der Völkermord ist noch nicht beendet, und schon scheint er durch die neue Katastrophe der totalen Vertreibung in Vergessenheit zu geraten.

In dieser Situation ist es gut, in ein Buch hineinzuschauen, welches mit großem und faktenreichem Realismus die vergangenen anderthalb Jahre des Krieges dokumentiert und analysiert: Jacques Baud, „Die Niederlage des Siegers – Der Hamas-Angriff – Hintergrund und Folgen“, Westend Verlag, 2024. Der Autor des Buches war bisher der Öffentlichkeit eher bekannt durch ein Buch über Putin und seine detaillierten und illusionslosen Analysen des Kriegsgeschehens in den östlichen Provinzen der Ukraine. Dazu war er als ehemaliger Geheimdienstler in Schweizer Diensten und als Beauftragter der UNO in der Ukraine zweifellos prädestiniert. In seinem neuen Buch über den Gaza-Krieg mögen ihm die Arbeit und Erfahrungen auf dem ukrainischen Kriegsschauplatz die notwendige Nüchternheit und Distanz zum grauenhaften Geschehen verschafft haben, die für eine objektive Analyse notwendig ist.

Baud beginnt mit dem historischen Kontext der Palästinafrage und setzt sich damit deutlich gegen die übliche Behandlung des Überfalls der Hamas in den Medien und Politik ab, die den Ausbruch aus dem hermetisch abgeriegelten Streifen als vollkommen überraschendes und unvorhersehbares Terrorverbrechen einer kriminellen Terrorbande eingeordnet hat. Er geht bis 1948 zurück und diskutiert die zentralen Fragen der Aufteilung Palästinas, der ungeklärten Grenzen, der Jerusalemfrage, des Rechts auf Rückkehr und auf Widerstand. Erst aus diesem historischen Hintergrund lässt sich erklären, warum und wie es zu diesem furchtbaren Ausbruch am 7. Oktober 2023 gekommen ist. Eine jahrzehntelange Unterdrückung, die nicht erst 1967 begann, musste zum palästinensischen Widerstand führen, der immer wieder in Aufständen mit offener Gewalt kulminierte, ob die Intifadas 1987 bis 1993 und 2000 bis 2004 oder jüngst im Oktober 2023.

Baud diskutiert diesen Widerstand nicht in den engen Klammern von Gewalt und Terror, sondern blickt auf den völkerrechtlichen Rahmen, der auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts der Völker diesen „Widerstand mit allen Mitteln“ in zahlreichen Resolutionen für rechtmäßig erklärt (S. 40 ff.). Terror und Gewalt gegen die Zivilbevölkerung sind zweifellos Völkerrechtsverbrechen, aber die nüchterne Brille des Völkerrechts ermöglicht ihm einen anderen Blick auf die Hamas und die anderen Widerstandsbewegungen in Gaza (S. 108 ff., S. 174 ff.). Bei aller Distanz zu den gesellschaftlichen Vorstellungen dieser Bewegungen erkennt er in ihnen die legitimen Organisationen des Widerstands und der Befreiung – offensichtlich eine Zumutung für die hiesigen Medien und Politik.

Seine strategisch analytischen Arbeiten in Osteuropa für den Schweizer Nachrichtendienst befähigten Baud offensichtlich auch, die Voraussetzungen, Ziele und den Ablauf der Operation Al-Aqsa-Flut mit nüchterner Distanz und vielen untergegangenen und unterdrückten Informationen zu erörtern (S. 203 ff.). So waren die letztlich freigelassenen Soldatinnen im Militärkibbuz Nahal Oz gefangen genommen worden – also keine Geiseln, sondern Kriegsgefangene nach dem Humanitären Völkerrecht. Während der Angriff auf das Festival Supernova zweifelsfrei ein Kriegsverbrechen war, entpuppten sich die lange durch die Presse getriebenen Erzählungen über 40 enthauptete Babys, das in den Ofen gesteckte Baby, die aufgeschlitzte Frau und die zahlreichen Vergewaltigungen als Lügen, deren Widerruf nie erfolgte oder im Sande verlief, die Entmenschlichung der Palästinenser und ihres Kampfes in den Augen der Öffentlichkeit aber verfestigte.

Desgleichen unterzieht Baud die israelische Reaktion seit dem 8. Oktober 2023, die Operation Eiserne Schwerter, einer detaillierten und umfangreichen Untersuchung (S. 257-358). Sie reicht von den Zweifeln an der Angemessenheit der Strategie und der schlecht ausgebildeten Truppe über die Rolle der israelischen Hasbara bis zur Kritik an der Rechtfertigung durch das Recht auf Selbstverteidigung und am Einsatz von Hunger, Vertreibung und Gewalt. Baud zögert nicht, die ganze Strategie des Krieges und die Brutalität ihres Umsatzes mit den in der deutschen Diskussion weitgehend verpönten Begriffen der ethnischen Säuberung und des Völkermordes zu markieren.

Der Autor wendet die Aufmerksamkeit zum Schluss auf die Nachbarstaaten und ihre gefährliche territoriale Nähe zu Israel, die kriegsträchtige Auseinandersetzung mit der Hisbollah im Libanon und die Anwesenheit der USA im Nahen Osten (S. 363 ff.) Er kritisiert deutlich die Abwesenheit der europäischen Diplomatie und eine „arabische Welt, die ihre Brüder vergessen hat“ (S. 419) Wenn er schließlich fragt, warum wir uns ständig irren und von Misserfolg zu Misserfolg uns der Realität verweigern, muss man zurückfragen, stimmt denn das? So wie Henry Kissinger bis zu seinem Tod der Überzeugung war, dass der Vietnamkrieg ein Erfolg war, da er die Ausweitung des Kommunismus nach Westen stoppte, so könnten die USA und ihre Vasallen darauf verweisen, dass sie gemeinsam mit Israel gegen die Ausdehnung und Stärkung des US-kritischen arabischen Lagers stehen. Insbesondere in der kommenden Auseinandersetzung mit China brauche man einen bündnissicheren Nahen Osten, der am besten durch ein militärisch, technologisch und ökonomisch starkes Israel garantiert werde. Das könnte sich allerdings als Irrtum erweisen, ist jedoch derzeit noch die Grundlage der Strategie Trumps und der europäischen Vasallen, die ihm nolens volens folgen. Der Titel des Buches „Die Niederlage des Siegers“ ist daher gut gewählt. Netanjahu und Trump könnten den Vernichtungsfeldzug zu Ende führen und Gaza exekutieren. Es wäre dennoch eine Niederlage nicht nur für die Palästinenser, sondern vor allem für die israelische Gesellschaft, die länger nachwirken könnte als der 7. Oktober.

Jacques Baud: Die Niederlage des Siegers. Westend Verlag, Neu-Isenburg 2024, Taschenbuch, 488 Seiten, ISBN 978-3864894688, 32 Euro

Titelbild: Africa Stock / Shutterstock

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