33 Monate Abstellgleis: Bahngewerkschaft zieht sich mit Endlostarifvertrag aus dem Verkehr

33 Monate Abstellgleis: Bahngewerkschaft zieht sich mit Endlostarifvertrag aus dem Verkehr

33 Monate Abstellgleis: Bahngewerkschaft zieht sich mit Endlostarifvertrag aus dem Verkehr

Ein Artikel von Ralf Wurzbacher

So lange mussten Eisenbahner noch nie auf ihr Lohnminus warten. Möglich machen es ihre Beschäftigtenvertreter von der EVG. Die letzte Stufe des mit der DB vereinbarten Tarifvertrags zündet im Dezember 2027, womit der Sturzflug unter die Inflationsrate programmiert ist. Die Führung findet’s trotzdem stimmig und preist sich für „Beschäftigungssicherung“. Die allerdings könnte sich noch schneller verflüchtigen als die Kaufkraft ihrer Klientel, dann, wenn Friedrich Merz die Bahn zerschlägt. Das wäre dann irgendwie doppelt bitter. Von Ralf Wurzbacher.

Das finale Votum war nur noch Formsache. Am Dienstag gab der 61-köpfige Bundesvorstand der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) mit satter Mehrheit grünes Licht für einen Tarifabschluss, der seinesgleichen sucht. Quälend lange 33 Monate, bis Ende 2027, wird das in der Nacht auf Sonntag zwischen der EVG-Tarifkommission und der Führung der Deutschen Bahn (DB) vereinbarte Vertragswerk Gültigkeit haben. Bei der Inflation an Großkrisen, die in jüngerer Zeit über Land und Leute hereingebrochen sind, kann man fast sicher sein: Der Kontrakt wird seinen für die Belegschaften geldwerten Wert rasch eingebüßt haben, oder anders: Die betroffenen 192.000 Beschäftigten steuern auf kräftige Reallohnverluste zu.

Aber Funktionäre wären keine, würden sie nicht die schlimmste Schlappe noch als Erfolg verkaufen. „Das Gesamtergebnis stimmt“, ließ Co-Verhandlungsführerin Cosima Ingenschay verlauten. In einer Bekanntmachung vom Sonntag rapportiert sie die Endloslaufzeit eher pflichtschuldig, versehen mit dem Hinweis: „Der Arbeitgeber hatte 37 Monate gefordert.“ Na dann, herzlichen Glückwunsch – liebe DB-Bosse. Die verbuchen den Punkt erwartungsgemäß unter „Planungssicherheit“. Nur auf dieser Basis seien „die vereinbarten Lohnerhöhungen und die Verlängerung der Beschäftigungssicherung möglich“ gewesen, teilte Personalvorstand Martin Seiler mit. Und fürs Phrasenschwein: „Unsere Mitarbeitenden machen jeden Tag einen tollen Job. Es ist uns wichtig, diese besondere Leistung auch in herausfordernden Zeiten zu würdigen.“

Leute fühlen sich verarscht“

Hunderte Kommentare auf dem EVG-Facebook-Account zeugen von wenig Dankbarkeit. „Schämt Euch“, heißt es da, oder: „Mal wieder ein Schlag ins Gesicht. Danke EVG für diese Enttäuschung.“ Ein User ätzt: „Sehr geehrte Tarifkommission, zur Feier Ihres Sieges in der Tarifverhandlung dürfen Sie sich gerne bei mir Brunnenwasser und ein Kanten altes Brot abholen, eine Sendung per Post kann ich mir im Hinblick auf eine Gehaltserhöhung unter der Inflationsmarke leider nicht mehr leisten.“ Gleich etliche Gewerkschafter wollen ihren Mitgliedsausweis abgeben: „Ich denke mal, die Kündigung von mir kommt dann demnächst.“ Ein EVG-ler, der anonym bleiben will, findet im Gespräch mit den NachDenkSeiten drastische Worte: „Der Großteil der Leute fühlt sich verarscht!“

Eine Laufzeit in dieser Größenordnung ist ihm noch nie begegnet, weder im eigenen Laden noch anderswo. Statista hat über alle Branchen hinweg die durchschnittliche Vertragsdauer zwischen 2000 und 2023 erfasst. Zuletzt waren es 23,3 Monate, 2018 sogar 26,5 Monate. Denkbar also, dass es in Einzelfällen über 30 Monate hinausgegangen ist. Aber ganz bestimmt nicht bei der Bahn. Wie auch? „Es gibt einen Bundesvorstandsbeschluss, dass 24 Monate das Maximum sind“, bemerkte der Gewerkschafter. Davon wollten die Verantwortlichen diesmal nichts wissen. In der DB-Tarifrunde hat sich die EVG die Festlegung auf eine Höchstlaufzeit einfach verkniffen. „Zeitenwenden“ erfordern offenbar besondere Maßnahmen, bis hin zum Bruch der eigenen Statuten.

Nichtangriffspakt

Die „Zeitenwende“ bei der Bahn heißt „Generalsanierung“, in deren Rahmen 40 Streckenabschnitte auf insgesamt 40.000 Kilometern mit mehrmonatigen Vollsperrungen instandgesetzt werden sollen. Eine erste Etappe soll nach den Vorgaben des „Konzernsanierungsprogramms S3“ bis Ende 2027 geschafft sein. Damit, so stellte DB-Manager Seiler stolz fest, umfasse der Tarifvertrag den „vollen Zeitraum“ von S3. Soll heißen: Die Beschäftigten müssen kürzer treten, damit die Bahn ungestört ihre marode Infrastruktur in Schuss bringen kann, die sie in Jahrzehnten systematisch und vorsätzlich heruntergewirtschaftet hat, um die Bilanzen zu schönen und die Vorstandsgehälter und -Boni immer höher aufzutürmen.

Der Kontrakt ist aber nicht nur ein Nichtangriffspakt zur Freude der Bahn, die sich fast drei Jahre lang nicht mit lästigen Streiks herumärgern muss. Einen Gefallen tut die EVG damit auch der Politik, speziell der künftigen Bundesregierung, für die die „Bahnsanierung“ von zentraler Wichtigkeit sein wird. Unter einem möglichen Kanzler Friedrich Merz (CDU) wird der noch integrierte Konzern absehbar aufgespalten in die Bereiche Fahrbetrieb und Infrastruktur, „für mehr Wettbewerb“ und, um das Unternehmen zu „verschlanken“, wie im Wahlprogramm der Union zu lesen ist. Dafür soll das Netz künftig „gemeinwohlorientiert“ vom Steuerzahler unterhalten werden, während allerlei Privatbahnen neben einer vielleicht schon bald privaten Deutschen Bahn die Gewinne einfahren. Das Vorhaben, das auch FDP und Grüne verfolgen, kann man den Menschen jedoch nur mit dem Versprechen beibiegen, dass die Züge dann auch wieder verlässlich rollen. Hierzu leistet die EVG schon jetzt ihren Beitrag.

Demoskopen am Verhandlungstisch

Drollig: Erst Anfang Februar hatte eine 1.500-Mann-Delegation der EVG mit einer Demonstration gegen die „Zerschlagungsfetischisten“ vorm Bundeskanzleramt und der DB-Zentrale in Berlin Krach geschlagen. „Wir sind Europas größte Eisenbahngewerkschaft. Gemeinsam werden wir uns entschieden dagegenstemmen – mit der geballten Kraft unserer 185.000 Mitglieder“, polterte der EVG-Vorsitzende Martin Burkert. Fraglich bloß, ob seine demoralisierten Truppen da mitziehen werden, beziehungsweise, ob das überhaupt gewünscht wäre. Besagter NDS-Informant begreift eine Gewerkschaft als „kollektive und solidarische Kampforganisation, die das Maximale für die Beschäftigten herausholen muss“. Als es aber um die Frage ging, ob man für mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen kämpfen wolle, habe die Gewerkschaftsführung abgewiegelt und „einfach behauptet, für einen Streik wäre ja sowieso keiner zu haben“.

Tatsächlich hat der Geschäftsführende Vorstand (GV) die jüngste Tarifrunde bereits vorab zu einer reinen Kuschelveranstaltung moderiert. Sehr deutlich ließ man durchblicken, dass eine zügige und friedliche, also kampflose Lösung priorisiert wird. Dafür hat man die Verhandlungen eigens vorgezogen, obwohl der bestehende Tarifvertrag noch bis 31. April gültig ist. Und siehe da: Nur drei Wochen nach dem Auftakt und in gerade einmal drei Gesprächsrunden ist man sich handelseinig geworden. Dabei folgte der Hoppladihopp-Kurs der Sprachregelung, noch vor der Bundestagswahl fertig werden zu müssen – wegen der Ungewissheiten, wie es danach weitergeht, und eben der Sorge, eine unionsgeführte Koalition könnte die Bahn alsbald zerschlagen und zum großen Jobkiller avancieren. Die Angst ist durchaus berechtigt. Aber rechtfertigt die politische Großwetterlage ein Verhandeln mit Samthandschuhen unter Rücksichtnahme auf Eventualitäten, die möglicherweise einmal wahr werden könnten. Oder anders: Entscheiden jetzt schon die Demoskopen über mehr oder weniger Lohn?

Jobsicherheit über alles

Die Gewerkschaftsspitze behauptet freilich, das Allerwichtigste herausgeholt zu haben: eine Beschäftigungssicherung bis Ende 2027. Dieses Ziel war aber niemals offiziell formuliert worden. Mit sogenannten „Blitzaktionen“ hatte man im Vorfeld in den Betrieben sogar extra ein Stimmungsbild eingeholt, was den Mitgliedern unter den Nägeln brennt. „Da wurde gefragt, mehr Geld oder mehr Freizeit. Niemand wollte was von Jobsicherheit hören“, sagte der Insider. Die EVG selbst verbreitete dazu: „Angesichts steigender Lebenshaltungskosten wurde eine deutliche Lohnerhöhung als notwendig erachtet, um die Attraktivität der Arbeitsplätze zu sichern.“ Aber irgendwann habe es dann „ohne Ansage einen Strategiewechsel gegeben“, schilderte der EVG-ler, „plötzlich stand der Erhalt der Arbeitsplätze über allem“.

Hintergrund ist wohl eine angelaufene Entlassungswelle bei der Frachtsparte DB-Cargo. Die Gesellschaft ist akut insolvenzbedroht und soll mit einem harten Sanierungskurs zurück aufs Gleis gebracht werden. Gelingt das nicht, was wahrscheinlich ist, dürfte die EU-Kommission in naher Zukunft die Veräußerung der Bahn-Tochter verordnen, nach französischem Vorbild. Dieser Tage wurden zahlreiche Beschäftigte, darunter Lokführer und Auszubildende, in einem Betrieb in Mitteldeutschland Knall auf Fall auf die Straße gesetzt. Der dort geltende Tarifvertrag der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) enthält keine Klausel zur Beschäftigungssicherung, was betriebsbedingte Kündigungen möglich macht. Vielleicht ist der raue Umgang auch ein Wink der Konzernchefs an die EVG. „Gebt acht, dass Euch das nicht auch passiert.“

Unwürdiger Abschluss“

Dieses Los bleibt den EVG-Belegschaften vorerst erspart, bis Ende 2027. Wobei selbst das nicht ausgemacht ist. Für DB-Cargo seien Öffnungsklauseln vereinbart worden für den Fall, dass die geplante Restrukturierung nicht hinhaut, hielt der Insider fest. „Cargo wird doch sowieso abgewickelt, die große Sicherheit ist dann ebenso passé. Und bei einer Zerschlagung der Bahn wäre ohnehin alles unsicher.“ Sein Urteil und das vieler seiner Mitstreiter geht deshalb so: „Die Einkommensentwicklung wird geopfert für die Hoffnung auf einen sicheren Job, die sich aber schon bald zerschlagen kann.“

Und zu welchem Preis? Regulär Beschäftigten winken 6,5 Prozent mehr Lohn, Schichtarbeitern 9,1 Prozent, dazu kommt eine Einmalzahlung von 200 Euro im April. Für EVG-Mitglieder gibt es außerdem eine „Erholungsbeihilfe“ von insgesamt 468 Euro. Aber das Allermeiste wird eben in drei Stufen ausgezahlt. Die erste echte Gehaltserhöhung von zwei Prozent erfolgt im Juli dieses Jahres, die zweite von 2,5 Prozent ein Jahr darauf. Auf den letzten Zuschlag von noch einmal zwei Prozent müssen die Kollegen dann bis Dezember 2027 warten. Faktisch werden sie damit über nahezu drei Jahre mit einem Plus von 4,5 Prozent abgespeist, während die Preise für Lebensmittel, Strom, Gas, Benzin und Sozialversicherung in der Zwischenzeit eifrig weiterklettern dürften. Angesichts der turbulenten Weltlage und der kriselnden deutschen Wirtschaft sei „das ein Abschluss, der es nicht würdig ist, Abschluss genannt zu werden“, befand ein Leidtragender bei Facebook.

McDonald`s bietet mehr

Die größten Verlierer sind die Angehörigen der Funktionsgruppen 2, 4 und 6. Denen wurde schon bei der Tarifrunde 2023 eine Anpassung an die höheren Entgeltstrukturen zum 1. April 2025 zugesagt. Jetzt müssen sie darauf noch 34 Monate warten. „Das größte Versagen ist aber, dass Gebäudereiniger bei DB Services nur den Branchenmindestlohn bekommen“, beklagte der Informant. „Das ist heftig. Selbst bei McDonald’s und Burger King gibt es einen Scham-Cent mehr als Mindestlohn.“

In einen großen politischen Zusammenhang hat die Initiative „Sagt Nein! Gewerkschafterinnen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden“ den EVG-Abschluss gesrückt. „33 Monate Laufzeit bedeuten 33 Monate Friedenspflicht, also Arbeitskampfverbot beziehungsweise Verzicht“ und „den Tod jeder betrieblichen gewerkschaftlichen Basisbewegung“.

Dazu verweisen die Aktivisten auf die im „Grünbuch Zivil-Militärische Zusammenarbeit“ (ZMZ) identifizierte Bedeutung der Deutschen Bahn als Kritische Infrastruktur (KRITIS). Die gelte es laut Grünbuch und im Licht der Bemühungen um eine allgemeine „Kriegsertüchtigung“ vor „antimilitaristischen Aktionen und Streiks doch noch vorhandener klassenautonom handelnder Belegschaftsteile und Betriebsräte“ zu schützen.

Ob die DB- und EVG-Oberen so weit gedacht haben, sei dahingestellt. Dass ihre Vereinbarung einen starken politischen Anstrich hat, ist derweil unbestreitbar. Vor Verhandlungsbeginn hatte Vizechefin Cosima Ingenschay noch erklärt: „Wir lassen nicht zu, dass unsere Kolleginnen und Kollegen zum Spielball der Politik werden.“ Genau – das erledigt die Gewerkschaftsführung schon selbst.

Titelbild: Martin Lehmann/shutterstock.com

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