Wer von der Selbstverzwergung Europas spricht, leidet unter Größenwahn

Wer von der Selbstverzwergung Europas spricht, leidet unter Größenwahn

Wer von der Selbstverzwergung Europas spricht, leidet unter Größenwahn

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Seit in den USA eine neue Regierung an der Macht ist, die das Motto „America first“ etwas anders als ihre Vorgängerregierungen definiert, herrscht bei den Falken in Europa nackte Panik. Europa sei geopolitisch nun auf sich allein gestellt, doch die „Selbstverzwergung“ der letzten Jahre habe dazu geführt, dass die neuen Schuhe noch eine Nummer zu groß seien. Mehr Geld für die Rüstung, so die dahinterstehende Logik, und dann klappt es bald auch wieder mit der Rolle als Weltmacht – diesmal sogar ohne die USA. Wer so spricht und denkt, beleidigt die Geschichte und zeigt wenig Fantasie, wie eine bessere Zukunft aussehen könnte. Europa, oder besser dessen Staaten, sind spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg keine Weltmächte mehr und es wäre nicht nur für die Europäer, sondern für die gesamte Welt auch besser, wenn sich daran nichts ändert. Ein Kommentar von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Das letzte „europäische Jahrhundert“ war nicht das 20., sondern das 19. Jahrhundert. Das britische Empire und das Empire français beherrschten weite Teile der Welt, Russland expandierte gen Asien. Historiker datieren das Ende dieser Periode auf die Jahre 1917 bis 1919. Durch die russische Revolution entstand mit der Sowjetunion eine neue Großmacht, deren Machtzentrum zwar geographisch ebenfalls in Europa lag, die aber ansonsten eher als Gegenspieler der Imperialmächte des „alten Europas“ gelten kann. Deren globaler Einfluss nahm rapide ab, während mit den USA eine ehemalige europäische Kolonie sich zur zweiten Weltmacht mauserte. Der Zweite Weltkrieg markierte die Wachablösung. Spätestens seit der Unabhängigkeit Indiens war Großbritannien geopolitisch nurmehr eine Regionalmacht, die Befreiungskriege in Indochina und Algerien stutzen dann auch die „Grande Nation“ Frankreich geopolitisch zurück. Deutschland war nie eine Weltmacht, auch wenn der Größenwahn der wilhelminischen Ära und des Nationalsozialismus viele Deutsche dies denken ließen.

Will man ein Ereignis nennen, das das Ende des jahrhundertelangen europäischen Anspruchs, eine Weltmacht zu sein, markiert, so war dies wohl die Suezkrise 1956/1957, als Großbritannien und Frankreich an der Seite Israels ihre imperialistischen Interessen am Suezkanal gegen die ehemalige Kolonie Ägypten zwar militärisch verteidigten, aber letztendlich politisch den Krieg verloren, da sowohl die USA als auch die Sowjetunion wirtschaftlichen und militärischen Druck aufbauten. Diese neue weltpolitische Ordnung sollte die nächsten Jahrzehnte anhalten. Der Wettbewerb zweier Supermächte beherrschte den Globus und diese beiden Supermächte waren die USA und die Sowjetunion, das „alte Europa“ spielte dabei keine dominierende Rolle.

Stattdessen übte sich Europa im Selbstbetrug. Sowohl Großbritannien als auch Frankreich trauerten den „guten alten Zeiten“ ihrer Imperien hinterher und führten sich bisweilen immer noch als Weltmächte auf, ohne dies jedoch zu sein. Deutschland war zweigeteilt, der Westen legte in diesen Jahren eine bemerkenswerte wirtschaftliche Entwicklung hin, wurde „Exportweltmeister“, spielte aber als eigenständiger Akteur auf der Weltbühne keine nennenswerte Rolle. Man setzte zwar zeitweilig, beispielsweise durch Brandts Ostpolitik, durchaus Akzente, reihte sich aber ansonsten ebenso wie Frankreich und Großbritannien der Hegemonialmacht USA unter, während die osteuropäischen Staaten sich der Hegemonialmacht Sowjetunion unterordneten. Ein Europa, das als Weltmacht global und autark seine Interessen vertritt, gab es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Will man also den Begriff „Selbstverzwergung“ verwenden, so muss man zeitlich schon sehr weit bis in die Zeit der Auflösung der alten Kolonialreiche zurückgreifen.

Der europäische Selbstbetrug geht jedoch noch darüber hinaus. Da wäre noch die ökonomische Ebene, die vor allem in Deutschland Triebfeder des Größenwahns war. Es gab sie, die Zeiten, in denen deutsche Unternehmen ein globaler Akteur waren. Doch diese Zeiten sind vorbei. Schaut man sich heute die Liste der 100 weltgrößten börsennotierten Unternehmen an, findet man mit SAP (an Stelle 47) und Siemens (an Stelle 91) gerade mal zwei deutschen Unternehmen. Und auch auf EU-Ebene sieht dies nicht viel besser aus; nur zwei europäische Unternehmen sind unter 20 größten Unternehmen der Welt zu finden. Nimmt man nicht die Marktkapitalisierung, sondern den Umsatz als Maßstab, sieht es mit fünf deutschen Unternehmen unter den Top 100 kaum besser aus. Chinesische und amerikanische Unternehmen dominieren die Weltwirtschaft. Deutschland und sogar die EU sowie Großbritannien sind ökonomisch bestenfalls Mittelmächte.

Geopolitisch wiegt der europäische Selbstbetrug jedoch noch schwerer. Spätestens seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Entstehen einer multipolaren Weltordnung war Europa nie ein eigenständiger Akteur, sondern hat sich am Rockzipfel der USA als deren Juniorpartner, man könnte es auch kritischer als „Vasall“ bezeichnen, durch die globale Manege zerren lassen. Dies wurde jedoch nie so kommuniziert. Beim völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf den Irak war es ja beispielsweise eine „Koalition der Willigen“ und keine „Koalition der US-Vasallen“, die in imperialistischer Tradition ferne Länder unterworfen hat – wobei man die damalige Weigerung der Regierungen Schröder und Chirac als letztes Aufbäumen europäischer Mächte gegen den US-Hegemon werten könnte. Der wohl größte Erfolg der USA in dieser Hinsicht war es jedoch, über Lenkung des politischen Diskurses und der öffentlichen Debatte die Europäer glauben zu machen, sie träten nicht als Vasallen, sondern als eigenständige Akteure auf. Der Ukrainekrieg war wohl der Höhepunkt dieses (Selbst-)Betrugs. Die USA trugen massiv zum Ausbruch dieses Krieges bei und nun sind die Europäer mit so viel Verve bei der Sache, dass sie selbst nach dem Koordinatenwechsel in Washington nicht wahrhaben wollen, dass dies nicht ihr Krieg, sondern der Krieg der USA ist.

Nun tut Europa so, als sei es ein Teenager, der von seinen Eltern auf die Straße gesetzt wurde, und versteht die Welt nicht mehr. Und in gewisser Weise ist das Bild ja nicht einmal falsch. Europa muss nun – ob es will oder nicht – erwachsen werden. Es sollte sich dabei aber nicht an den USA orientieren und schon gar nicht in altem Größenwahn schwelgen und Weltmachtansprüche verfolgen. Die Zeiten imperialer Reiche sind vorbei, das werden auch die USA noch merken. China ist bereits eine Weltmacht, Indien wird als größtes Land der Welt folgen und generell ist die Wachstumsdynamik abseits des Westens bemerkenswert. Was die Welt nicht braucht, ist ein weiterer Akteur mit Großmachtphantasien, der mit seiner Ideologie global missionieren geht, sich überall einmischt und sich selbst dabei für das Maß aller Dinge hält.

Anstatt sich totzurüsten, sollte Europa nun zunächst einmal seine eigenen Interessen herausarbeiten und definieren. Dazu ist eine umfassende Bestandsaufnahme nötig. Das klingt profan, ist es aber nicht, hat allen voran die EU in den letzten Jahrzehnten doch stets die Interessen der USA als die eigenen Interessen missinterpretiert. Wenn dies geschehen ist, wird man wohl erkennen, dass Größenwahn hier ein schlechter Berater ist und Europa viel mehr damit gedient sein dürfte, wenn es seine Rolle im Konzert der Weltmächte harmonisch einnimmt. Es gibt keinen Grund, unseren Nachbarn Russland oder gar die neue ökonomische Supermacht China als Feind zu sehen; es gibt aber auch keinen Grund, die zweite ökonomische und militärische Supermacht USA als Feind zu sehen. Europa sollte sich stattdessen an die gute Formel Willy Brandts erinnern – „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein“. Nur wenn Europa dieses Motto beherzigt, wird der Kontinent eine gute Zukunft haben.

Generell sollte man dabei auch endlich den Denkfehler „Groß ist gut“ über Bord werfen. Gut ist, was die Menschen glücklich und zufrieden macht. Europa muss seine Interessen, welche immer das am Ende auch sein werden, nicht an der letzten Ecke des Globus mit militärischer Gewalt durchsetzen. Wir müssen lernen, endlich diplomatisch zu denken und unsere Interessen im Einvernehmen mit anderen Mächten zu optimieren. Nicht die USA oder China, sondern Finnland, Dänemark und Island sind laut einschlägigen Untersuchungen, die man freilich mit Vorsicht genießen sollte, die glücklichsten Länder der Welt. Als Erfolgsmodelle können sicher auch die kleine Schweiz, das kleine Neuseeland oder das noch kleinere Singapur gelten – Länder, die ihre Interessen nicht mit Gewalt global anderen Ländern aufzwingen, die vergleichsweise klein sind und sich im Großen und Ganzen recht zivilisiert mit ihren Nachbarn auseinandersetzen. Unsere Falken würden diese Länder wohl Zwerge nennen. Wenn Europa sich also wirklich „selbstverzwergen“ sollte, wäre das per se ja nichts Schlimmes. Ein Zwerg zu sein, ist nur dann schlimm, wenn man gleichzeitig unter Größenwahn leidet.

Titelbild: Macrovector/shutterstock.com

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!