Ulrike Guérot: Ist der Frieden für Europa „zu langweilig“ geworden? – Teil 2

Ulrike Guérot: Ist der Frieden für Europa „zu langweilig“ geworden? – Teil 2

Ulrike Guérot: Ist der Frieden für Europa „zu langweilig“ geworden? – Teil 2

Ein Artikel von Marcus Klöckner

Ulrike Guérot hat einen Verdacht. Könnte es sein, dass für Europa der Frieden „zu langweilig“ geworden ist? Im NachDenkSeiten-Interview mit Marcus Klöckner spricht die Politikwissenschaftlerin von einem „Verrat“ Europas an seiner eigenen Identität. Der Umgang Europas mit dem Krieg in der Ukraine lässt Guérot zu einer Fundamentalkritik an der europäischen Politik ansetzen. „Ich hatte“, sagt die Bestsellerautorin, „zu Kriegsbeginn die Hoffnung, in ganz Europa würde die blaue Fahne mit den zwölf gelben Sternen und einer Friedentaube gehisst“. Doch „stattdessen hingen in Windeseile an allen öffentlichen Gebäuden ukrainische Fahnen“. Guérot spricht von der „politischen und zivilisatorischen Kapitulation Europas“. Ein Interview unter anderem über die aktuellen, durch die USA bedingten Entwicklungen, die Rede von J. D. Vance, das politische Großvorhaben Kriegstüchtigkeit und was man dagegen tun kann: „Wenn jeder sich da wehrt, wo er ist, müsste ein Krieg eigentlich ganz schnell vom Tisch sein.“ Den ersten Teil können Sie hier auf den NachDenkSeiten lesen.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Dieser Tage hat der neue US-Verteidigungsminister Pete Hegseth das Folgende gesagt: „Aber wir müssen zunächst erkennen, dass die Rückkehr zu den Grenzen der Ukraine von vor 2014 ein unrealistisches Ziel ist. Die Verfolgung dieses illusorischen Ziels wird den Krieg nur verlängern und mehr Leid verursachen.“ Was sagen Sie dazu?

Dass das Ergebnis jener schon erwähnten Verhandlungen vom April 2022, die vom Westen torpediert wurden, noch nahe an den ukrainischen Grenzen von 2014 gewesen wäre. Es wäre für die Ukraine damals eine überaus vorteilhafte Lösung gewesen, aus heutiger Sicht geradezu paradiesisch. Und man stelle sich vor, wie viele Soldaten dem Tod oder der dauerhaften Kriegsverletzung entgangen wären, hätte man den Krieg schon im April 2022 beendet. Dieser Krieg hat jedenfalls schon einmal zwei Jahre zu lange gedauert, und profitiert haben nur Rheinmetall und die amerikanische Rüstungsindustrie. Vor allem für die ukrainische Bevölkerung muss es beklemmend sein, das zu realisieren.

Trump hatte frühzeitig gesagt, dass er den Krieg in der Ukraine beenden wolle. Viele freuen sich nun darüber. Ein schnelles Kriegsende wäre sicherlich sehr erstrebenswert und Grund zur Freude. Dennoch: Ist es so einfach? Hegseth hat auch Folgendes gesagt: „Es werden keine US-Truppen in die Ukraine entsendet.” Allerdings: „Alle Sicherheitsgarantien müssen durch europäische und nichteuropäische Truppen unterstützt werden.” Wie verstehen Sie das? Das heißt doch im Grunde genommen, dass also Truppen, Soldaten in die Ukraine zur Friedenssicherung gesendet werden sollen. Wie auch immer dann die offizielle Bezeichnung sein wird: Am Ende würden so europäische Soldaten – vermutlich auch deutsche – in der Ukraine stehen, das heißt auf einem Boden, wo gerade noch Krieg geführt wurde. Auch wenn diese Truppen keine „NATO-Truppen“ wären: Das erinnert etwas an einen Taschenspielertrick. Im Endeffekt wären plötzlich offiziell Soldaten aus NATO-Ländern in der Ukraine. Was passiert hier? Würden Sie das für unsere Leser bitte einordnen?

In der Tat ist es ein Taschenspielertrick: Die USA ziehen sich zurück (sie haben ja strategisch und ökonomisch alles bekommen, was sie durch den Krieg erreichen wollten, vor allem die deutlich erhöhte Abhängigkeit Europas von den USA!), aber Europa bzw. die NATO soll in der Verantwortung für die militärische Sicherung der Grenzen zu Russland und des geplanten Friedensabkommens bleiben. Ich persönlich halte davon gar nichts! Ich bin entgeistert über die kopflosen europäischen Kommentare auf der Münchener Sicherheitskonferenz zu Trumps Telefongespräch mit Putin und der Absicht von Verhandlungen und habe dies am Samstag auf einer Friedensdemo in München auch geäußert.

Fast scheint es, als möchte Europa den Krieg gegen Russland und mithin die Spaltung des europäischen Kontinents allein weitertreiben: Man möge sich stattdessen bitte an die europäische Geschichte, Napoleon oder die Wehrmacht erinnern!

Alle reden jetzt von Grenzsicherung und „Korridoren“, in denen europäische Truppen patrouillieren und Sicherheit garantieren sollen. Für mich führt eine solche Politik nur in eine Sackgasse! De facto verschieben wir die Berliner Mauer, über deren Fall wir 1989 doch so glücklich waren, nur um 1.362 Kilometer nach Osten und beginnen das gleiche Spiel einer Block-Konfrontation mit Russland.

Was wäre ein richtiger Ansatz?

Die EU bzw. Europa müsste meines Erachtens genau das Gegenteil machen: Es müsste, wie damals nach dem Zweiten Weltkrieg, die Grenzzäune abreißen und zum Beispiel ein europäisch-russisches Jugendwerk nach dem Vorbild der deutsch-französischen Aussöhnung gründen.

Das Problem scheint aber auch, dass es aufseiten der baltischen Staaten noch immer große Reserviertheit gegenüber Russland gibt – um es zurückhaltend zu formulieren.

Den baltischen Staaten müsste geholfen werden, ihre einstigen Traumata mit dem stalinistischen Russland zu überwinden und auf die europäische Philosophie der Versöhnung umzuschwenken. Kein Land sollte in Europa das Recht haben, seine Traumata auf ganz Europa zu übertragen. Das aber ist es, was derzeit im Grunde passiert, denn die Politik der EU steht, auch personell, unter massivem Einfluss der baltischen Staaten. Ich wünsche mir hier mehr Dialog und Austausch und ganz konkret kulturelle Arbeit, um diese Traumata aufzulösen, die derzeit die ganze europäische Politik blockieren.

Es gibt ein großartiges Buch von Laurent Gaudet, „Nous, l’Europe. Un Banquet des Peuples“, das auch in deutscher Übersetzung vorliegt. In diesem Buch, einem Epos, steht der schöne Satz, dass es gemeinsames Wissen und gemeinsame Geschichte in Europa ist, dass wir alle zugleich Opfer und Schlächter waren: C’est ce que nous partageons, c’est ce nous étions tous victime et bourreau … Kein Land in Europa hat darum das Recht auf eine Opferrolle, aus der sich dauerhaft und konsequent nur eine europäische Politikoption ableiten lässt, die politisch zementiert werden muss. Das gilt auch für die europäische Politik mit Blick auf Russland.

Das ist leicht gesagt – aber wahrscheinlich gar nicht so einfach umzusetzen.

Es gibt eine Theatergruppe um den französischen Regisseur Roland Auzet, der aus dem Epos von Gaudet ein hervorragendes Theaterstück gemacht hat, mit rund 40 Schauspielern aus ganz Europa. Wenn wir statt Geldern für die NATO und Waffen Geld dafür aufbringen könnten, um dieses Theaterstück an alle europäischen Schulen zu bringen, würden wir meines Erachtens eine wichtige, länderübergreifende Diskussion über Ursprünge und Folgen des Ukraine-Krieges sowie die Zukunft Europas beginnen können, vor allem unter jungen Leuten. Wir wissen in Europa, dass alles mit Kultur anfängt und erst gegenseitiges Verständnis Versöhnung und Gemeinsamkeit möglich macht. Frieden schafft man durch Völkerverständigung, nicht durch „Korridore“ und mit Waffen und Stacheldraht gesicherte Grenzen!

Wir sollten auch in die bundesdeutsche Geschichte schauen und analysieren, warum eigentlich Konzepte für ein neutrales Deutschland damals gescheitert sind, z.B. nach dem Angebot durch die Stalin-Note von 1952. Es gibt derzeit eine rege historische Forschung darüber, dass es seit 1949 eigentlich ein amerikanisches Ansinnen war, ein neutrales Deutschland, dass sich mit Russland versteht, zu verhindern und vor allem Deutschland in eine Politik der „Westbindung“ zu treiben und dadurch eben abhängig zu machen, unter anderem durch Strategien der Deindustrialisierung Deutschlands, wie wir sie derzeit ganz konkret erleben. Dazu gibt es eine Vielzahl an guten Analysen.

Diese „Westbindung“ erweist sich heute als Abhängigkeitsfalle für ganz Europa, vor allem mit Blick auf die Ausgestaltung einer multipolaren Weltordnung. Europa hat derzeit kaum eine Chance, als eigenständiger Pol in einer multipolaren Welt zu agieren. Dabei sind wir der Kontinent, der seit dem Westfälischen Frieden von 1648 weiß, dass Frieden z.B. durch ein Gleichgewicht der Mächte – und nicht durch unipolare Ambitionen! – gesichert wird, und wir sind seit Talleyrand oder Fürst Metternich der Kontinent der Diplomatie und der Verhandlungskunst.

Genau dies könnte und sollte ein emanzipiertes, souveränes und postatlantisches Europa in die Ausgestaltung einer multipolaren Welt einbringen! Was Europa jetzt tun sollte, anstatt „militärische Korridore“ zu sichern, ist, über ein neutrales Europa in der multipolaren Welt nachzudenken, eine Art europäische Schweiz! In so einer Zukunft könnte sich die ganze Vielfalt und das historische Erbe Europas entfalten! Ich persönlich glaube nicht an hegemoniale Ansprüche von Putin oder Russland, und an ein militärisches Ausgreifen von China glaube ich auch nicht. Die Empirie der Geschichte spricht dagegen. Das Aggressionspotenzial der Staaten, die in unserer beschränkten Sichtweise außerhalb der „regelbasierten Ordnung“ stehen, wird meines Erachtens überschätzt. Europas Chance liegt im Hände-Ausstrecken in die multipolare Welt hinein, nicht darin, im Bett der USA mit den Amerikanern zu kuscheln in der Hoffnung, dass ein bisschen ihrer MAGA-Energie auf uns abstrahlt und uns dauerhaft rettet oder schützt.

Wie sieht es nun mit Deutschland und anderen europäischen Staaten aus? Wie sehen Sie die Reaktionen auf die US-Politik?

Wie bereits ausgeführt: Durch den Überraschungscoup des Telefonates von Trump mit Putin einige Tage vor der Münchener Sicherheitskonferenz und der Vorbereitungen von Verhandlungen zwischen Russland und den USA in Saudi-Arabien ist Europa oder die EU de facto enthauptet worden. Konsequenterweise rennt es jetzt kopflos wie ein Huhn herum. Es ist eine Tragödie für Europa, wenn es nicht eine Tragikomödie wäre!

Wie werden die USA in Zukunft unter Trump mit Europa umgehen?

Nicht zimperlich! Das kündigt sich durch die Zollpolitik an. Die transatlantische Allianz ist zu einer Zwangsjacke für Europa geworden. Es wäre eine wichtige Aufgabe, darüber eine breite Diskussion in ganz Europa zu beginnen. Die Wahlen am 23. Februar bieten dafür ja eigentlich eine gute Gelegenheit, außer dass diese Gelegenheit nicht genutzt wird. Dass die Merz-CDU atlantisch aufgestellt ist, ist ja klar. Aber auch die AfD scheint mir schlecht beraten in ihrem derzeitigen Überschwang und ihrer Euphorie gegenüber Donald Trump. Der Weg eines emanzipierten Europas – der einzige, durch den sich die wirtschaftlichen, sozialen und strategischen Verhältnisse in Europa wirklich dauerhaft ändern würden – kann so jedenfalls nicht begangen werden!

Sorge bereitet mir, dass dieser Trend ein europäischer ist. Fast könnte man sagen, dass die sogenannten populistischen Parteien in ganz Europa – fast alle außer Viktor Orban – schon transatlantisch infiltriert oder unterwandwert werden, noch bevor sie an die Macht kommen. Dabei haben sie programmatisch einmal ganz anders angefangen. Der Front National in Frankreich zum Beispiel, heute das Rassemblement, aber auch die österreichische FPÖ waren zum Beispiel in ihrer Anfangsphase sehr sozial, antikapitalistisch, anti-imperial, anti-EU, anti-USA und auch anti-Israel, wenn man das etwas lapidar so formulieren möchte, hatten also eigentlich „linke“ Positionen. Das hat sich unter Marine Le Pen seit 2011 schlagartig geändert: Sie ist jetzt für die EU, für den Euro, fliegt ständig nach New York und Israel und das Rassemblement, vor allem die jungen Nachwuchspolitiker dort wie etwa Jordan Bardella, sind so transatlantisch ausgerichtet, wie es für das einst gaullistische Frankreich, das immer eine Äquidistanz zwischen den USA und Russland suchte, wirklich auffällig ist. Dasselbe gilt für die FPÖ, die derzeit die österreichische Diskussion über einen NATO-Beitritt Österreichs mitmacht, oder für Georgia Meloni in Italien. Nur deswegen, also aufgrund ihres Schwenks auf transatlantische Positionen, darf ihre Fratelli d’Italia in der EU-Kommission mit einem Vize-Präsidenten so einflussreich sein. Frau von der Leyen umgeht hier geschickt die Brandmauer, die die CDU doch eigentlich auf nationaler Ebene fordert.

Politisch heißt das, dass es in ganz Europa derzeit keine nennenswerte politische Kraft – ja, nicht einmal eine Diskussion darüber! – zu geben scheint, die die Politik eines emanzipierten Europas und einer europäischen Friedensordnung mit Russland in einer zukünftigen, multipolaren Welt auch nur thematisiert; nicht einmal die sogenannten populistischen Parteien, die ja eigentliche eine „Alternative“ bieten wollen. Für Europa scheint mir das zu diesem Zeitpunkt einer viel bemühten „Zeitenwende“ nahezu verhängnisvoll. Eigentlich heißt es, dass Europa genau diese Zeitenwende verpasst! In Europa „wendet“ sich derzeit strukturell gar nichts …

Jetzt gab es aber auch die Rede von J. D. Vance auf der Sicherheitskonferenz. Und es gibt wohl das Vorhaben von Trump, Abrüstungsgespräche mit Russland und China einzuleiten. Es ist noch nicht so einfach, die neue politische Ausrichtung der USA genau zu erfassen? Was sind Ihre Gedanken?

Nun, die Rede von J. D. Vance war ja sehr umstritten. Sie wurde gemeinhin als übergriffig gewertet, und ihr Inhalt, der ja ein schwerer Vorwurf war, wurde empört zurückgewiesen: J. D. Vance hatte den Europäern im Kern abgesprochen, dass es noch Meinungsfreiheit und Demokratie in Europa gebe. Ich persönlich halte es mit Oscar Wilde: Good friends stubb you in the front. Gute Freunde sagen dir die Wahrheit ins Gesicht und stechen dir nicht den Dolch in den Rücken. Gerade diejenigen, die sonst immer an den amerikanischen Lippen hängen, wollten jedoch partout nicht verstehen, was J. D. Vance denn mit dem Verlust von Meinungsfreiheit und Demokratie in Europa meinen könnte. Dabei ist das wirklich nicht schwer zu verstehen, wenn man z.B. auf die Einschränkungen der Meinungskorridore und den Demokratieabbau in der Bundesrepublik in den letzten Jahren schaut, z.B. durch fragwürdige Straftatbestände wie etwa „Delegitimierung des Staates“ und Ähnliches. Die Renitenz vor allem von Deutschland, hier Selbstkritik zuzulassen, ist tatsächlich befremdend.

Europa wurde immer als großes Friedensprojekt in der Öffentlichkeit verkauft. In der Ukraine sind auf beiden Seiten Hunderttausende Soldaten auf dem Schlachtfeld getötet worden, sind heute verstümmelt oder traumatisiert. Von dem Leiden der Angehörigen ganz zu schweigen. Drei Jahre läuft dieser Krieg nun schon. Politiker versuchen, der Öffentlichkeit zu erklären, dass es nicht anders geht. Wie sehen Sie das? Wo ist die Diplomatie?

Ja, jeder der inzwischen rund 500.000 Gefallenen ist einer zu viel. Darum haben wir auf der Friedensdemo in München auch eine Schweigeminute eingehalten, denn noch hat sich niemand vor diesen toten Soldaten verneigt. Es ist mir ein Rätsel, wie ausgerechnet Europa, das 70 Jahre die Erzählung von „nie wieder Krieg“ aufrecht gehalten hat, das Schülerkohorten zu den Soldatenfriedhöfen im Elsass gekarrt hat, das früher in Schulen den Film „Die Brücke“ gezeigt hat und das noch 2014 – also vor nur zehn Jahren! – mit viel Pomp die Erinnerung an 100 Jahre Erster Weltkrieg begangen hat, wie ausgerechnet dieses Europa und seine Gesellschaften wieder so einen Anflug von Kriegslüsternheit haben konnte, anstatt besonnen zu reagieren. Fast so, als ob der Friede zu langweilig geworden sei. Die Geschwindigkeit, mit der die Russophobie mobilisiert werden konnte – „der Russe ist wieder da“ – hat mich nachgerade erschrocken.

Ich muss zugeben, ich dachte, das heutige Europa sei davor gefeit. Ich dachte, Europa sei doch der Kontinent, auf dem jeder in der Schule das berühmte Liebknecht-Zitat gelernt hätte „Für den Kapitalismus sind Krieg und Frieden Geschäft und nichts als Geschäft“. Und ich hatte zu Kriegsbeginn die Hoffnung, in ganz Europa würde die blaue Fahne mit den zwölf gelben Sternen und einer Friedentaube gehisst. Stattdessen hingen in Windeseile an allen öffentlichen Gebäuden ukrainische Fahnen, und man konnte kaum mit der Kreditkarte etwas kaufen, ohne eine Zwangsspende für die Ukraine zu machen. Diesen Verrat an der europäischen Hymne – Beethovens 9. Sinfonie „Alle Menschen werden Brüder“ – und mithin an seiner ureigenen Identität wird Europa meines Erachtens bitter bereuen und obendrein teuer bezahlen, z.B. damit, dass es jetzt zwar Diplomatie geben wird, aber ohne Europa. Was bleibt von Europa, wenn es einen seiner Wesenskerne aus der Hand gegeben hat? Wir werden es ergründen müssen!

NATO-Generalsekretär Mark Rutte sagte vor Kurzem, wir müssten eine „Kriegsmentalität“ entwickeln. Die deutsche Politik forciert mit viel Energie das Großvorhaben „Kriegstüchtigkeit“. Was passiert hier?

Ich finde die Analyse von Emmanuel Todd sehr schlüssig, der in seinem Buch „Der Westen im Niedergang“ die Psychologie und den Nihilismus bemüht. Im Kern sagt Todd – sehr verkürzt –, dass der Westen sich unbewusst seiner Schuld bewusst ist, mit Blick auf seine eigenen Werte und Ziele – vor allem Frieden und Gerechtigkeit – so kolossal versagt zu haben, dass er jetzt in die Zerstörung getrieben wird, weil diese Schuld schambesetzt ist und nicht eingestanden werden kann, denn sie ist zu groß!

Europa, der schöne, der reiche, der aufgeklärte Kontinent mit seiner facettenreichen Geschichte und seinem ästhetischen Anspruch hat es trotz seines kulturellen, wirtschaftlichen und intellektuellen Reichtums nicht vermocht, eine friedliche und sozial gerechte Gesellschaft hervorzubringen. Die europäischen Gesellschaften und Kulturen sind, das kann jeder wache Geist irgendwie spüren, heute gleichsam verfault. In dieser Situation wählt Europa, so Todd, die Selbstzerstörung in Form von Kriegstreiberei. Die faktische Zerstörung oder auch nur der wirtschaftliche und soziale Niedergang kann dann einem äußeren Feind, eben Putin, als Sündenbock in die Schuhe geschoben werden, der deswegen passenderweise schon als neuer „Hitler“ aufgebaut wird. Ich persönlich finde das eine überzeugende Analyse.

Was können die Bürger, die gegen die Kriegstüchtigkeit und für Frieden mit Russland sind, tun? Welche Möglichkeiten sehen Sie?

Nein sagen. Einfach nein sagen! Ich finde, es wird wieder Zeit für den einstigen Sponti-Spruch der Grünen, die heute leider olivgrün sind: „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“.

Konkret hieße das, die deutschen Universitäten wehren sich dagegen, „Dual Use“-Forschung zuzulassen und die sogenannten „Friedensklauseln“ abzuschaffen. Die Schulen, Lehrerkollegien oder Eltern wehren sich gegen Gefreite im Unterricht; Städte, Gemeinden und Verkehrsbetriebe verbieten Werbung der Bundeswehr im öffentlichen Raum, zum Beispiel an Bushaltestellen. Ganz pervers, wenn ich das einschieben darf, finde ich es im Übrigen, dass derzeit meist mit jungen hübschen Frauen in Uniform geworben wird: Die Feministinnen sollten sich gegen diese Perversion des Feminismus wehren! Die Kirchen sollten laut werden, Kommunen sollten Pläne boykottieren, etwa Parkhäuser in Bunker umzubauen usw. usw. Wenn jeder sich da wehrt, wo er ist, müsste ein Krieg eigentlich ganz schnell vom Tisch sein. Schon Immanuel Kant schrieb in seiner Schrift „Zum Ewigen Frieden“, dass sich Bürger selbst nie für einen Krieg entscheiden würden, sondern immer nur ihre Regenten, weil sie den Preis für den Krieg meist nie persönlich bezahlen. Darf ich zitieren?

Bitte, gerne.

Wenn (wie es in dieser Verfassung nicht anders sein kann) die Bestimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ob Krieg sein solle, oder nicht, so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müssen, die Kosten des Krieges aus ihrer Habe herzugeben; die Verwüstungen, die er hinter sich läßt, kümmerlich zu verbessern; zum Übermaße des Übels endlich noch eine den Frieden selbst verbittende, nie (wegen naher, immer neuer Kriege), sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen. (…)

Dahingegen in einer Verfassung, wo der Untertan nicht Staatsbürger, die also nicht republikanisch ist, ist es die unbedenklichste Sache von der Welt (…), weil das Oberhaupt nicht Staatsgenosse, sondern Staatseigentümer ist, an seinen Tafeln, Jagden, Lustschlössern, Hoffesten u. dgl. durch den Krieg nicht das mindeste einbüßt, diesen also wie eine Art Lustpartie aus unbedeutenden Ursachen beschließen und der Anständigkeit wegen dem dazu allezeit fertigen diplomatischen Korps die Rechtfertigung desselben gleichgültig beschließen kann.“

Und die Deutschen sind doch stolz auf Kant, oder nicht?

Lesetipp:

Titelbild: Carmela Negrete Navarro