Ulrike Guérot: Ist der Frieden für Europa „zu langweilig“ geworden? – Teil 1

Ulrike Guérot: Ist der Frieden für Europa „zu langweilig“ geworden? – Teil 1

Ulrike Guérot: Ist der Frieden für Europa „zu langweilig“ geworden? – Teil 1

Ein Artikel von Marcus Klöckner

Ulrike Guérot hat einen Verdacht. Könnte es sein, dass für Europa der Frieden „zu langweilig“ geworden ist? Im NachDenkSeiten-Interview mit Marcus Klöckner spricht die Politikwissenschaftlerin von einem „Verrat“ Europas an seiner eigenen Identität. Der Umgang Europas mit dem Krieg in der Ukraine lässt Guérot zu einer Fundamentalkritik an der europäischen Politik ansetzen. „Ich hatte“, sagt die Bestsellerautorin, „zu Kriegsbeginn die Hoffnung, in ganz Europa würde die blaue Fahne mit den zwölf gelben Sternen und einer Friedentaube gehisst.“ Doch „stattdessen hingen in Windeseile an allen öffentlichen Gebäuden ukrainische Fahnen“. Guérot spricht von der „politischen und zivilisatorischen Kapitulation Europas.“ Ein Interview unter anderem über die aktuellen, durch die USA bedingten Entwicklungen, die Rede von J. D. Vance, das politische Großvorhaben Kriegstüchtigkeit und was man dagegen tun kann: „Wenn jeder sich da wehrt, wo er ist, müsste ein Krieg eigentlich ganz schnell vom Tisch sein.“

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Marcus Klöckner: Frau Guérot, erinnern Sie sich noch, was am 2. Juni 2022 war?

Ulrike Guérot: Ja, tatsächlich ist das ein Datum, das ich nicht vergessen werde: Es war der Abend eines Auftritts bei Markus Lanz zum Ukraine-Krieg, und in der Sendung bin ich buchstäblich niedergemacht worden und durfte nicht ausreden. Die „legendäre“ Sendung hat einige Wellen geschlagen, und Markus Lanz musste sich wegen schlechter Moderation sogar vor dem Rundfunkrat des ZDF verantworten.

Genau, Sie waren bei Markus Lanz zu Gast. In der Runde saß auch Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Es ging um den Krieg in der Ukraine. Nun sollte man ein Interview besser mit etwas Aktuellem beginnen, aber hier liegen das Vergangene und das Aktuelle sehr nah zusammen. Sie wurden massiv angegangen für ihre friedenspolitische Position. Sie sprachen in der Sendung aus, was meines Erachtens bis zu diesem Zeitpunkt noch keiner so im deutschen Fernsehen gesagt hat, nämlich: dass es sich bei dem Krieg in der Ukraine neben einem Angriffskrieg auch um einen Stellvertreterkrieg handelt. So ziemlich alles, was Sie sagten, missfiel Lanz und Strack-Zimmermann. Nun ist viel Zeit vergangen. Was sind Ihre Gedanken heute, wenn sie auf aktuelle Situation rund um die Ukraine und die Sendung von damals blicken?

Ja, das ist genau der Punkt: ich wollte darauf aufmerksam machen, dass die damals inflationär benutzte Formulierung „der völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg“ – ganz so, als sei dieser Krieg plötzlich vom Himmel gefallen – irreführend ist, sondern dass dieser Krieg ein von der US-Administration lange vorbereiteter, amerikanischer Stellvertreterkrieg („proxy war“) zwischen der NATO und Russland war. Und ich wollte diskutieren, dass genau das nicht in europäischem Interesse sein kann, weil Europa damit zum Kriegsschauplatz wird und letztlich amerikanische Interessen bedient. Aber ich bin überhaupt nicht dazu gekommen, das auszuführen, zu belegen und die Gesamtsituation zu kontextualisieren, sondern wurde ständig mit schrecklichen Kriegsbildern emotional genötigt. Eine analytische Diskussion über Motive, Akteure und Interessen in diesem Krieg konnte nicht stattfinden – und war wohl auch nicht gewollt.

Heute, drei Jahre später, ist allen klar, dass es sich natürlich von Anfang um einen amerikanischen Stellvertreterkrieg gehandelt hat, dass es eine klare Mitverantwortung des „Westens“ gegeben hat und dass der Westen – genauer Boris Johnson – sogar die Friedensverhandlungen vom April 2022, die einen für die Ukraine noch sehr akzeptablen Vorschlag entwickelt hatten, unterminiert hat.

Lassen Sie mich an der Stelle kurz einhaken: Selbst Boris Johnson hat mittlerweile den Krieg als Stellvertreterkrieg bezeichnet.

Ja, nicht nur das. Der Schweizer Botschafter Jean-Daniel Ruch, Chefunterhändler bei den April-Verhandlungen in der Türkei, hat jetzt in einem Buch und in mehreren Interviews zu Protokoll gegeben, dass letztlich die USA für den Abbruch der Verhandlungen verantwortlich gewesen sind. Insofern ist die Tatsache eines Stellvertreterkriegs eigentlich offiziell erhärtet, außer dass die Leitmedien darüber natürlich nicht berichten wollen. Denn dann müssten sie zugeben, dass sie selbst monatelang eine Kriegsversion erzählt haben („Russland will nicht verhandeln“), die schlichtweg falsch ist.

In ihrem Eifer, den USA alles recht zu machen, haben sich die europäischen Staaten völlig verlaufen, wie man heute sieht – nämlich, indem sie auf den „militärischen Sieg“ der Ukraine setzten, der von Anfang an unrealistisch war, anstatt auf Diplomatie. Jetzt räumen die USA ihren Stellvertreterkrieg genauso schnell ab, wie sie ihn begonnen haben. Europa – weder die EU noch Olaf Scholz oder Emmanuel Macron – wird bei den Verhandlungen in Saudi-Arabien dabei sein, und der Ukraine wird schmerzhaft bewusst, wie sehr sie instrumentalisiert wurde.

Allein die Pikanterie, dass das radikal-wahhabitische Saudi-Arabien, in dem die Burka für Frauen Pflicht ist und wo noch gesteinigt wird, jetzt eine Art neue „Schweiz“ ist, wo der europäische Frieden verhandelt wird, während der Schweizer Versuch in Bürgenstock im Juni 2024 gescheitert ist, weil Vladimir Putin nicht einmal eingeladen war, sollte zu denken geben. Ich fürchte, den meisten in Europa ist nicht einmal klar, welche politische und zivilisatorische Kapitulation diese Entwicklung für Europa ist, wenn jetzt ein amerikanisch-russischer Friedensschluss für den europäischen Kontinent über die Köpfe der Europäer hinweg gemacht wird. Es ist eigentlich der Sargnagel eines freien und unabhängigen Europas!

Nochmal zur Lanz-Sendung: Was haben Sie damals noch gesagt, wovon Sie heute sagen, dass Sie richtig analysiert haben?

Zum einen, dass die europäischen Abhängigkeiten durch diesen Krieg von den USA insgesamt noch größer werden und Europa sich dadurch in jeder Hinsicht selbst schädigt. Das kann man heute daran sehen, dass die europäischen Rüstungsetats und die Zahlungen für die NATO weiter steigen sollen, obgleich der Krieg jetzt beendet wird; oder daran, dass Europa weiterhin teures und umweltschädliches amerikanisches Fracking-Gas kaufen soll und will, anstatt die Nord-Stream-Pipeline wieder aufzubauen, um preiswertes russisches Gas zu beziehen.

Und die Auswirkungen sind weitreichend.

Absolut, denn der Krieg hat also – und ich glaube, das war überhaupt die zentrale Absicht von Seiten der USA! – in Europa Pfadabhängigkeiten geschaffen, die dazu führen werden, dass Europa sich den Weg zu einer politischen, wirtschaftlichen und strategischen Emanzipation von den USA weiter verbaut. Europa ist nunmehr von Russland und ganz Eurasien abgeschnitten. Russland hat sich strategisch und ökonomisch bereits nach Asien umorientiert. Europa ist jetzt so eine Art westlicher Zipfel in amerikanischer Umklammerung, dem die Kooperation mit dem Osten untersagt ist.

Wie hätten Politiker in Europa sich verhalten sollen?

Kluge europäische Politik wäre es gewesen, zwischen amerikanischen und eigenen Interessen zu unterscheiden, von Anfang an auf Verständigung mit Russland, Diplomatie und Verhandlungen zu setzten, und zwar nicht erst seit 2022, sondern spätestens seit dem Maidan von 2014, eigentlich aber seit Putins Rede von 2007 auf der Münchener Sicherheitskonferenz, in der er dem Westen eine ausgestreckte Hand hingehalten hat.

Ich wollte gerade anmerken: Viele denken die angespannten Beziehungen zu Russland erst ab 2014. Aber 2014 ist eben auch nicht vom Himmel gefallen. Russland war nach allem, was ich sehe, seit Langem bereit, mit Europa enger zusammenzuarbeiten.

Europa hätte in den Nullerjahren die Pläne für eine europäische Friedenarchitektur mit Russland, niedergelegt in der Charta von Paris von 1991, wiederbeleben müssen, anstatt den USA dabei zu helfen, einen Keil in Europa zu treiben. Europa hat also seit rund 20 Jahren ein eigenständiges Nachdenken über eine multipolare Zukunft des europäischen Kontinents versäumt, und der Preis dafür ist jetzt hoch.

Putin hat bereits 2007 Kritik an den unipolaren Ambitionen der USA formuliert, die heute krachend gescheitert sind. Daran wird auch MAGA [„Make America great again“, Anm. d. Red.] nichts ändern. Der Gipfel der BRICS-Staaten in Kasan vom Oktober 2024 hat das ganz deutlich gemacht. Hätte sich Europa seit 2009, dem Zeitpunkt der Gründung des BRICS-Bündnisses, konsequent multipolar orientiert und schon damals, als es noch möglich war, aus der atlantischen Umklammerung gelöst – was die deutsche Industrie ja auch wollte –, stünde Europa heute ganz anders da.

Lassen Sie uns noch mal einen Sprung zurück machen und auf den Begriff Stellvertreterkrieg eingehen. Wie erklären Sie sich, dass bis heute nahezu die gesamte Medienlandschaft – von wenigen Ausnahmen abgesehen – es nicht fertig bringt, den Stellvertreterkrieg als Stellvertreterkrieg zu bezeichnen? Wie erklären Sie sich das Verhalten der Medien?

Ich finde keine Worte mehr dafür und frage, wie es in Deutschland und fast ganz Europa geschehen konnte, dass praktisch die gesamten Leitmeiden gekapert scheinen und einer pensée unique, einem einheitlichen Denken unterliegen, in dem andere bzw. kritische Stimmen systematisch ausgeschaltet werden. Es ist schon länger so, aber seit Corona und dem Ukraine-Krieg hat es neue Dimensionen angenommen. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass dies zum Beispiel 2014, zum Zeitpunkt des Maidans, noch anders war. Da konnte die Satiresendung „Die Anstalt“ im ZDF den Euro-Maidan noch als amerikanischen Putsch bezeichnen, oder es wurden kritische Interviews mit Peter Scholl-Latour gesendet. Wir müssen uns also fragen, was insbesondere in den letzten zehn Jahren geschehen ist, dass die Berichterstattung so in die Einseitigkeit gefallen ist. War oder ist es bewusste Steuerung oder einfach Konformitätsdruck in den Redaktionen und bei den Journalisten? Sind es die Algorithmen? Die kognitive Dissonanz der Leitmedien heute – zum Beispiel praktisch keine Berichterstattung über die torpedierten Friedensverhandlungen vom April 2022 oder auch die Sprengung von Nord Stream durch die USA – ist wirklich haarsträubend und grenzt, zumal für einen Kontinent, der sich der Aufklärung und des rationalen Denkens rühmt, an Realitätsverleugnung. Man müsste eigentlich Psychologen dazu befragen, welches gesellschaftliche Phänomen sich daran festmachen lässt.

Es war doch so: Wer auch nur im Ansatz eine friedenspolitische Position vertreten oder gar gesagt hat „Waffen nieder!“, der wurde in der Öffentlichkeit als Putinversteher, Putinknecht, Rubelnutte usw. beleidigt. Da war von „Unterwerfungspazifismus“, ja von Lumpenpazifismus die Rede, und nahezu jeder, der um Perspektivierung bemüht war, galt im öffentlichen Diskurs als Persona non grata. Bitte, berichten Sie uns doch von Ihren Beobachtungen und Erfahrungen.

Ich möchte hier persönliche Erfahrungen eigentlich gar nicht weiter auswalzen, zumal die von Ihnen genannten Begriffe wie „Rubelnutte“ oder „Lumpenpazifist“ eigentlich so unterirdisch sind, dass man sich nur noch schämen möchte für den Verfall an Diskussionskultur in der Bundesrepublik.

Jeder, der sich kritisch über die offizielle Lesart des Ukraine-Kriegs geäußert oder auch nur kritisch informiert hat, war betroffen. Das galt sogar für Abgeordnete des Europaparlamentes, wie etwa die Irin Claire Daly. Es gab und gibt automatisierte Reichweitendrosselung durch entsprechende Algorithmen auf YouTube oder X, wenn nicht gleich Videos gelöscht werden oder andere nur mit VPN-Port zugänglich sind. Es gab und gibt Entlassungen oder Disziplinarverfahren für kritische Professoren: Betroffen bin ja nicht nur ich, sondern mit Blick auf die Diskussion über die Ukraine zum Beispiel auch Prof. Johannes Varwick, eigentlich ein NATO-Spezialist, von der Universität Halle. Auch er hat Ärger bekommen, weil er differenzierte Analysen über den Krieg vorgelegt hat. Die ehemalige ARD-Korrespondentin in Moskau und ausgezeichnete Russland-Kennerin Gabriele Krone-Schmalz durfte nicht in öffentlichen Gebäuden, zum Beispiel in Gemeindesälen, auftreten.

Das Gleiche gilt übrigens für Diskussionen über den Konflikt in Gaza: Es ist nahezu unmöglich, über den Völkermord zu sprechen, ohne sanktioniert zu werden. Diejenigen Professoren, die vor einigen Monaten dem studentischen Protest darüber legitimen Raum geben wollten und Demonstrationen zugelassen haben, sollten laut Wissenschaftsministerin Stark-Watzinger gelistet und ihnen sollten Drittmittel entzogen werden. Das alles sind für die Bundesrepublik Deutschland unwürdige Vorgänge. Ich habe von einem Freund beim Deutschlandfunk gehört, dass er sich bei seinem Chefredakteur dafür rechtfertigen musste, ein Interview mit Moshe Zuckermann geführt und gesendet zu haben, einem der wenigen Juden, der den Völkermord an den Palästinensern klar benennt. Was sind das für Zustände?

Beim Westend Verlag ist jetzt ein Buch erschienen „Wer stört, muss weg!“, eine empirische Studie über Entfernungen aus deutschen Universitäten aus fadenscheinigen Gründen in den letzten Jahren. Es geht um circa 60 Fälle, die dort analysiert und beschrieben werden. Eigentlich sollte die ganze bürgerliche Mitte in der Bundesrepublik aufhorchen, vor allem Parteien wie etwa die FDP. Aber es scheint niemanden zu interessieren. Und in der Professorenschaft selbst bevorzugen wohl die meisten, selbst zu schweigen, um nicht die Nächsten zu sein. Es gibt keine Solidarisierung unter den Hochschullehrern. Dabei sind freie Hochschulen und freies Denken ein wichtiger Grundpfeiler für eine funktionierende Demokratie. Die Wissenschaftsfreiheit ist in diesem Land inzwischen genauso unter Druck wie die Meinungsfreiheit.

Da sie die FDP erwähnen: Ich weiß nicht, ob Sie es gesehen haben, aber die FDP hat vor ein paar Tagen auf der Plattform X Folgendes veröffentlicht: „Es braucht die unverzügliche Lieferung des Marschflugkörper Taurus.“ Was geht in einer Partei vor, die solch eine Position bezieht?

Nun, die Frage dürfte sich wohl von selbst erledigen, da davon auszugehen ist, dass es die FDP nicht in den nächsten Bundestag schafft. Die Stimmen der Rheinmetall-Belegschaft dürften für die Fünf-Prozent-Klausel nicht ausreichen. Zwei Drittel der Deutschen sind gegen Taurus-Lieferungen.

Morgen folgt der zweite Teil des Interviews.

Lesetipp:

Titelbild: Carmela Negrete Navarro

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