Christian Felber zur Coronapolitik: „Der Staat hat sich am Heiligen Schrein der Demokratie vergriffen“

Christian Felber zur Coronapolitik: „Der Staat hat sich am Heiligen Schrein der Demokratie vergriffen“

Christian Felber zur Coronapolitik: „Der Staat hat sich am Heiligen Schrein der Demokratie vergriffen“

Ein Artikel von Marcus Klöckner

Wie Parlamente mit den Grund- und Menschenrechten während der Coronazeit umgegangen sind, ist hinlänglich bekannt. Doch wie es soweit kommen konnte, das bedarf einer genauen Aufarbeitung. Mit seinem gerade erschienenen Buch „Lob der Grundrechte – Wie wir in kommenden Krisen das Gemeinwohl schützen“ legt der Politikwissenschaftler Christian Felber den Finger in die noch immer offene Wunde der Demokratie. Unter anderem über „Kriegsrhetorik, Angstmache und Notstandsmentalität“ hat der Staat seine rigorose Politik durchgesetzt, sagt Felber im Interview mit den NachDenkSeiten. „Für ein schlüssiges Gesamtbild bedarf es einer sehr gründlichen, minutiösen Aufarbeitung. Vieles ist noch vollkommen ungeklärt“, sagt Felber. Ein Interview über die Bedeutung der Grundrechte, Angsterzeugung und den Weg zur Aufarbeitung. Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Herr Felber, die Corona-Krise ist vorbei, aber die Auswirkungen sind es nicht. Das Vertrauen in Staat und Institutionen ist bei vielen Bürgern nachhaltig erschüttert. Das hat auch mit dem Umgang der Grund- und Menschenrechte zu tun. Sie haben gerade ein Buch geschrieben, das sich damit beschäftigt, was mit den Grund- und Menschenrechten in der Corona-Zeit passiert ist. Würden Sie bitte kurz vorab sagen, was Ihr Fazit ist? Wie ist der Staat mit diesen elementaren Rechten umgegangen?

Das Fazit ist, dass der Staat in einer Krisensituation, noch dazu in einer äußerst umstrittenen, auf ein überraschend autoritäres Management gesetzt hat, das zur Verletzung oder vorsätzlichen Einschränkung von zwei Dutzend Grundrechten geführt hat. Wenn man so will: Der Staat hat sich am heiligen Schrein der Demokratie vergriffen. Er hat – wider die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, wider die Menschenwürde und gegen jedes Prinzip bewährter Krisenkommunikation – mit Katastrophen- und Kriegsrhetorik Angst erzeugt und einer „Notstandsmentalität“ Vorschub geleistet. Die berühmte „neue Normalität“ bestand im Kern im Abbau von Demokratie und Grundrechten. Es war eine schwere Selbstbeschädigung liberaler Demokratien, die damit einen Trend, der spätestens 2008 messbar begonnen hat, weiter verstärkt haben.

Damit keine Missverständnisse entstehen: Würden Sie uns bitte einmal darlegen, was Grund- und Menschenrechte sind, was sie für eine freie und demokratische Gesellschaft bedeuten?

Grund- und Menschenrechte sind dasselbe, mit den einen bezeichnet man Rechtskataloge, die innerhalb von Nationalstaaten entwickelt wurden; mit den anderen internationale Konventionen wie die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950, die beiden UN-Pakte (Zivil- und Sozialpakt) von 1966 oder die EU-Grundrechtecharta, die 2009 in Kraft trat. Sie sind das zentrale Fundament von Demokratien und der Kitt, der die Gesellschaft „im Innersten zusammenhält“. Sie sind das Gegengewicht und Korrektiv zum prinzipiellen Gemeinwohlvorrang in demokratischen Gesellschaften, was bedeutet, dass die Mehrheit zwar bestimmen darf, was für alle gilt, doch stößt dieser Mehrheitswille eben auf klar definierte Grenzen.

Die Grundrechte schützen die Person, ihre Würde und Freiheit. Das verhindert Willkür, die Diskriminierung von Minderheiten, Todesstrafe, Folter und andere Übergriffe des Staates. Gleichzeitig begrenzen sie die Macht des Staates, indem dieser etwa auf Anfrage Informationen offenlegen muss und nicht zensieren darf; auch instrumentalisieren sie den Staat für das Gemeinwohl, indem dieser eine Grundversorgung für alle sicherstellen und für soziale Sicherheit sorgen muss. In Summe schafft das ein unvergleichliches Gefühl des Wohlbefindens und der Sicherheit unabhängig von der individuellen weltanschaulichen Grundausrichtung: Nur die wenigsten ziehen freiwillig von funktionierenden Demokratien in Autokratien.

Und jetzt zur Realität der Coronazeit. Was ist da passiert? Wie Politiker, Parlamente, aber auch die Justiz so mit den Grund- und Menschenrechten umgegangen sind, wie es zu beobachten war?

Es haben eine ganze Reihe von Faktoren zusammengespielt: Kriegsrhetorik, Angstmache, Notstandsmentalität und das damit einhergehende Fallen von Hemmschwellen bei den Maßnahmen, ein fatales Signal des WHO-Generaldirektors pro Lockdowns, aber auch der neuartige Einsatz von PCR-Tests und die öffentliche Darstellung der Pandemie: Ohne massenhaftes Testen von Gesunden und das Leuchten dieser „Fälle“, auch ein epidemiologisches Novum, von universitären „Dashboards“, wäre die Pandemie gar nicht als Ausnahmeereignis darstellbar gewesen, jedenfalls nicht als „Jahrhundert-Katastrophe“, wie Angela Merkel sie ohne seriöse Grundlage bezeichnete.

Lassen Sie uns darauf genauer schauen. Im Detail: Was ist passiert?

Vorweg: Für ein schlüssiges Gesamtbild bedarf es einer sehr gründlichen, minutiösen Aufarbeitung. Vieles ist noch vollkommen ungeklärt. Zum Beispiel, warum viele EU-Politiker, darunter Jens Spahn, bis in den März hinein Entwarnung gaben, während Bill Gates bereits im Februar 2020 in einem wissenschaftlichen (!) Journal von einer „Jahrhundertpandemie“ sprach, auf Basis fehlerhafter Quellenarbeit. Die „Jahrhundertpandemie“ trat dann nie ein, in Deutschland wurde beispielsweise in den Jahren 2020 und 2021 in keiner (!) Woche die Anzahl der Todesfälle erreicht, die in der Kalenderwoche 10/2018 erreicht wurde – das wäre aber wohl das Mindeste, dass in einer „Jahrhundert-Katastrophe“ der Höchststand der Todesfälle in einem Jahr, in dem es keine Pandemie gab und keine Sondermaßnahmen getroffen wurden, übertroffen wird. War aber nicht. Die Krankenhäuser waren 2020 übers Jahr im Schnitt leerer als 2019, vieles macht noch immer keinen Sinn.

Das sind sehr wichtige Punkte. Und: Sie hatten es schon im Zusammenhang mit den PCR-Tests angesprochen: Die Angstmacherei musste auf etwas bauen. Es brauchte etwas, um zu visualisieren, wie groß die Gefahr ist. Zahlen von positiven PCR-Tests, Inzidenzen, der „R-Wert“, das Dashboard: Unter anderem darüber wurde die „Pandemie“ für die breite Öffentlichkeit „sichtbar“ gemacht. Aber was war da wirklich „sichtbar“? Wie belastbar waren die Zahlen?

Zu den Todesfällen sagte ich ja schon etwas. Die „Fälle“ waren noch aussageschwächer, denn anstatt auf diagnostizierte symptomatische Infektionserkrankungen bezogen sie sich auf positive PCR-Tests, das gab es in der Epidemiologie bis 2020 gar nicht. In Österreich wurde aber 16-mal mehr getestet als in Deutschland … Weil die Zahlen wenig hergaben, wurde verstärkend mit medialen Bildern gearbeitet, die aber interessanter Weise auch nicht aussagekräftiger waren. Das beste Beispiel sind die „Bilder aus Italien“. Ein Gehsteig-Reiniger im Schutzanzug sagt per se rein gar nichts aus. Auch die Bedeutung der berühmten Militärkonvois hängt entscheidend vom Kontext und der Interpretation ab. Die Bevölkerung im neuralgischen Distrikt Bergamo wuchs während der Pandemiejahre ohne die geringste Unterbrechung weiter, darauf kommt es am Ende an.

Der wichtigste Erklärfaktor für die starke Überreaktion ist deshalb die gezielte Angstmache – gegen alle Standards guter Krisenkommunikation, deren oberstes Prinzip „Ängste beruhigen“ lautet. Doch wenn „Schocktherapie“-Experten wie der Soziologe Heinz Bude von der Regierung als Berater engagiert werden, die allen Ernstes empfahlen, „Urangst“ auszulösen und „Zwänge zu verordnen“, wird zumindest verständlich, wie es zu diesen vollkommen unverhältnismäßigen Maßnahmen kommen konnte. Auch wenn Frankreichs Präsident in einer Rede Anfang 2020 sechsmal den Begriff „Krieg“ verwendete, das Imperial College London 40 Millionen Tote an die Wand modellierte und Österreichs Bundeskanzler 100.000 Tote in Österreich in Aussicht stellte (2020 waren es 6.200 „an“ und „mit“, vergleichbar viele wie in Spitzen-Grippejahren), wird verständlich, wie sich Angst ausbreiten und zu einer kollektiven Psychose verdichten konnte, in der jede Maßnahme recht war, weil vorrangig gefühlt und nicht mehr rational verglichen, eingeordnet und argumentiert wurde.

Und dann: Wie konnte es so weitergehen?

Ein wichtiger Faktor war auch, dass der WHO-Generaldirektor den autoritären chinesischen Weg als „neuen Standard“ des Pandemie-Managements über den grünen Klee lobte. Wieso er dies – so euphorisch – tat, ist unerklärlich. Wieso zeigte niemand klar und deutlich auf, dass das, was China tat, in keinem Katalog der WHO-Pandemiemaßnahmen-Empfehlungen enthalten war? Wieso stellte niemand den Begriff „Lockdown“ infrage oder wies ihn scharf zurück?

Der Begriff hätte eigentlich Demokraten hellhörig werden lassen müssen.

Ja, denn er kommt aus dem Gefängnis-Management und bezeichnet eine Strafaktion für Kriminelle. Wieso reflektierten die Medien nicht, dass hier Standards aller Art verletzt wurden: Pandemiepläne, Krisenmanagement, Gesundheitskommunikation, Verhältnismäßigkeitsprüfungen: Alles, was bisher an Leitfäden, Kompassen und Richtschnüren vorlag, wurde mehr oder weniger vollständig ignoriert.

Was ist Ihre Erklärung dafür?

Neben der Verklärung von China zum Vorbild durch den WHO-Generaldirektor sehe ich einen weiteren Erklärungsansatz in den jahrzehntelangen Planspielen, die von der Johns Hopkins University inszeniert wurden. Manche der dort eingeübten Reaktionsmuster sind so frappierend ähnlich mit dem real praktizierten Pandemie-Management, dass der Option eines Einflusses in der Aufarbeitung nachgegangen werden sollte.

Zwei Dinge stachen mir besonders ins Auge: Zum einen der autoritäre Top-down-Ansatz – die Menschen, ihre Anhörung, ihre Einbeziehung kamen darin nicht vor. Zum anderen der Fokus der Krisenkommunikation auf der Bekämpfung von Falsch- und Desinformation, das ist ein völlig neuartiger Schwerpunkt, den es bisher gar nicht gab, der dann aber angewandt wurde und mittels Faktenchecker zur Verengung des Diskurses und zur Spaltung der Gesellschaft beitrug. Gipfelpunkt war die Aussage der Direktorin des Universitätsinstituts, das die Planspiele leitete, dass „Fragen der Gesundheitssicherheit überparteiliche Fragen“ seien – also nicht demokratisch verhandelt werden sollten. Mit dieser anti-wissenschaftlichen Aussage übte sie eine Rhetorik der Alternativlosigkeit ein, die in Deutschland von der Leopoldina, vom RKI-Direktor und von Christian Drosten übernommen wurde. Mit dem Effekt: Zu Lockdown und Grundrechtseinschränkungen gab es keine Alternative!

Wie erklären Sie sich das „Versagen“ demokratischer Korrektive? Medien, Justiz, letztlich auch: Gesellschaft. Wo war das Rückgrat der Demokratie?

Man könnte von einem Multiorganversagen des demokratischen Rechtsstaates sprechen. Es war gleichzeitig ein Politikversagen, Wissenschaftsversagen, Medienversagen und am Ende auch noch ein Justizversagen. Die Hauptverantwortung liegt sicher bei der Politik, hier sind ja auch Unterschiede von Land zu Land erkennbar – Schwedens „anderer Weg“ erschien soeben als Buch des Chef-Epidemiologen Anders Tegnell. Die Wissenschaft war überall ähnlich uneins, doch war es die Politik, die bestimmte Experten auswählte oder direkt anwies. Die Medien hätten hier als Korrektiv wirken und die einseitige Auswahl der Politikberater hinterfragen und kontrastieren können.

Ein markantes Beispiel für Deutschland ist, dass der Chef-Epidemiologe der Charité, Stephan Willich, im Vergleich zum Chef-Virologen Christian Drosten praktisch nicht sichtbar war – obwohl er sich schon im März mit sehr markanten Aussagen zu Wort gemeldet hatte: Er warnte vor Lockdowns und vertrat die Ansicht, dass Covid-19 nur „etwas gefährlicher“ als die Grippe war. Vielleicht war genau das der Grund, dass er von Politik und Medien gemieden wurde. Dann aber waren die Medien parteiisch, und die Politik unwissenschaftlich. Das Sahnehäubchen setzten die Gerichte drauf, die das, was in der Politik und in den Medien Mainstream war – aber eben nicht den Stand der Wissenschaft wiedergab –, mit wenigen Ausnahmen akzeptierten.

Nun werden einige vielleicht anmerken, dass Grundrechte auch eingeschränkt werden können. Auch wenn das stimmt: Würden Sie die Möglichkeit der Einschränkung von Grundrechten bitte für uns einmal perspektivieren? Was heißt das? Und: Wo liegen die Grenzen? Wo liegt die Zulässigkeit und die Unzulässigkeit?

Die Einschränkung von Grundrechten ist relativ klar und strikt geregelt, was sehr gut ist, denn das verhindert, dass großer Schaden durch Irrtümer oder Fehlentscheidungen angerichtet werden kann – zumindest war das bis zur Pandemie die Annahme. Doch der Reihe nach: Schon mal sehr wichtig ist, dass Grundrechte nicht einfach abgeschafft werden können, das bedürfte einer Grundgesetzänderung. Sie können nur eingeschränkt werden, und das auch nur befristet.

Eine zweite Schranke besteht darin, dass Grundrechte nur auf Basis von Gesetzen eingeschränkt werden können, das heißt, die Regierung hat nicht die Möglichkeit, Grundrechte via Verordnungen zu beschneiden, sie benötigt die Legislative, die – im vorliegenden Fall mit dem Infektionsschutzgesetz – die Grundlage schafft, dann erst kann die Regierung mittels Verordnungen handeln. Doch auch diese prinzipielle „Erlaubnis“ zur Einschränkung von Grundrechten beruht auf vier weiteren wesentlichen Voraussetzungen, deren Gegebenheit im Falle einer Klage, einer sogenannten Individualbeschwerde, Gegenstand einer Grundrechtsprüfung sind.

Wie sieht diese konkret aus?

Zuerst muss geklärt werden, ob eines der Ziele, welche die Einschränkung von Grundrechten ermöglichen, gegeben ist. Diese sind in der EMRK taxativ aufgezählt und reichen von der nationalen Sicherheit und öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit bis hin zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder dem wirtschaftlichen Wohl des Landes … Da sieht man schon, wenn der Gesetzgeber will, schafft er es, ein passendes Ziel zu finden, dieser Schutz ist schwach. Dann aber müssen die Maßnahmen a) geeignet, b) erforderlich und c) angemessen sein. Hier liegt ein hohes Schutzpotenzial für Grundrechte, weil der prüfende Verfassungshüter, wenn er will, relativ einfach zum Schluss kommen kann, dass eine Grundrechtseinschränkung entweder das eine oder das andere Kriterium nicht erfüllt.

Würden Sie bitte Ihre Ausführungen einmal an einem Beispiel in Bezug auf die Pandemiemaßnahmen aufzeigen?

Ein Lehrbeispiel im besten Sinn sind die Inzidenzgrenzen, die zum Lockdown ganzer Regionen geführt haben. Hier kann man zwar als Ziel den Schutz der Gesundheit anführen, was nicht falsch ist, und auch die Ansicht teilen, dass die Maßnahme zum Ziel der Vermeidung der Überlastung der Krankenhäuser beiträgt – allerdings nur, wenn man davon ausgeht, dass die Maßnahme selbst keine Kollateralschäden anrichtet, was die Angelegenheit bereits diffiziler macht.

Richtig kontrovers wird es bei den Kriterien erforderlich und angemessen. Denn man könnte beim ersten Kriterium auch zur Ansicht gelangen, dass mit gelinderen Mitteln dasselbe Ziel hätte erreicht werden können; und bei angemessen hätte eigentlich eine Kosten-Nutzen-Rechnung angestellt werden müssen, was nicht passierte. Die in Österreich vom Ministerium beworbene Gesundheitsfolgenabschätzung wurde bei keiner Maßnahme durchgeführt – weshalb auch keine Evidenz in Bezug auf die Wirksamkeit der Maßnahme vorlag. Das ist für mich einer der interessantesten Punkte: Der Verfassungsgerichtshof muss keine Evidenz für die Wirksamkeit der Maßnahmen verlangen, er kann dem Gesetz- und Verordnungsgeber auch „glauben“ – oder dem medialen Diskurs folgen.

Das ist doch eine enorme Schwachstelle.

In der Tat. Hier schlummert folglich auch großes Verbesserungspotenzial. Als durch die Freiklage der RKI-Protokolle öffentlich wurde, dass RKI-intern Inzidenzgrenzen „aus fachlicher Sicht weitgehend abgelehnt“ wurden, schon allein deshalb, weil die Inzidenz stark von der Testhäufigkeit abhängt, und weil verschiedene Altersgruppen extrem unterschiedliches Risiko aufwiesen, an Covid-19 schwer zu erkranken (für die Krankenhausbelastung macht einen Riesenunterschied, ob eine 19-Jährige oder ein 90-Jähriger einen positiven PCR-Test aufweisen), hätten eigentlich sämtliche Gesetze und Verordnungen dazu aufgehoben werden müssen.

Hätten mit Evidenz-Erfordernis auch andere Maßnahmen abgewendet werden können?

Die meisten Grundrechtseinschränkungen. Dass Schulschließungen kontraproduktiv sind, war spätestens im Juli 2020 klar, die WHO warnte im Oktober selbst vor Lockdowns. Beim Thema Masken hätte es genügt, den Goldstandard der Wissenschaft, die regelmäßigen Cochrane-Reviews, zu befragen, die nicht einmal die Grundlage für Maskenempfehlungen ergeben, geschweige denn für Maskenpflicht. Für eine Impfpflicht – in Deutschland einrichtungsbezogen, in Österreich allgemein, in Italien für über 50-Jährige – konnte gar keine belastbare Evidenz vorliegen, weil die Impfungen noch nicht einmal final zugelassen waren.

Haben Sie Ideen, wie man einer solchen Entwicklung zukünftig entgegentreten kann?

Die Begrenzung der Möglichkeit, Grundrechte einzuschränken, nennt man in der Fachsprache „Schranken-Schranken“. Ich schlage zusätzliche Schranken vor, zum Beispiel: Vorläufig zugelassene Gesundheitsprodukte sollten mit medizinischen Versuchen gleichgesetzt werden, dann kann es – nach dem Nürnberger Kodex – nur eine freiwillige Verabreichung geben. Oder das Grundrecht auf Unversehrtheit wird von einem relativen (einschränkbaren) zu einem absoluten (nicht einschränkbaren) aufgewertet, auf einer Stufe mit der Menschenwürde: Dann gäbe es in Zukunft weder Test-, Masken- oder Impfpflicht, und wir würden uns die damit einhergehende gesellschaftliche Spaltung ersparen.

Ihnen ist wahrscheinlich auch noch die Aussage von Bundeskanzler Scholz in Erinnerung, die er kurz vor Weihnachten getätigt hat: „Für meine Regierung gibt es keine rote Linien mehr.“ Das sagte er gegenüber der ZEIT in Bezug auf die Pandemiepolitik. Wie bewerten Sie diese Aussage, gerade auch im Hinblick auf die Grundrechte?

Es gab auch einen Witzbold, der meinte, wir sollten „mehr Diktatur wagen“. Offenbar ist beiden nicht bewusst, dass es im Grundgesetz eine Ewigkeitsgarantie, das heißt einen unantastbaren Schutz für Artikel 1 – Menschenwürde – und Artikel 20 – Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltentrennung, Sozialstaat, Förderalismus, Volkssouveränität – gibt. Seit 1968 erlaubt das Grundgesetz sogar explizit den Widerstand gegen jene, die diese Ordnung umstoßen wollen, röter kann eine Linie nicht sein.

Rote Linien sind aber auch, dass manche Grundrechte – die absoluten, allen voran die Menschenwürde – gar nicht eingeschränkt werden dürfen, und dass Einschränkungen der relativen Grundrechte deren „Wesen“ nicht „entkernen“ dürfen, das ist die „Wesensgehaltssperre“. Diese rote Linie wurde – wieder ein Lehrbuchbeispiel – vom Bundesverfassungsgericht im April 2020 verteidigt, als es allgemeine Demonstrationsverbote aufhob, weil diese einer Entkernung des Grundrechts gleichkamen: Der Gesetzgeber darf Grundrechte nur gut begründet vorübergehend bis zu einem gewissen Grad einschränken, aber nicht aufheben. Ich würde sagen: Das Grundgesetz und Verfassungsrecht sind ein sinnvolles Schutznetz aus roten Linien, und die Chance der Pandemie-Erfahrung besteht darin, die noch bestehenden Lücken in diesem Schutznetz zu schließen.

Nun setzen Sie sich auch viel mit der Sprache auseinander. Was ist Ihnen in Bezug auf die Sprache während der Coronazeit aufgefallen? Ich denke an den Begriff: „Maskengegner“.

Es macht einen wesentlichen Unterschied, ob jemand gegen das Tragen von Masken ist oder nur gegen eine Maskenpflicht. Das eine mit dem anderen zu vermengen, ist ein diskursives Foul. Gemessen an den eigenen Protokollen müsste man aus heutiger Sicht auch das RKI als „Maskengegner“ bezeichnen, zumal es eine Maskenpflicht nicht unterstützte. Dasselbe gilt für die Unterscheidung „Impfgegner“ – Menschen, welche die Zulassung von Impfungen ablehnen – und Impfpflichtgegner. Ich bin der Ansicht: Hätte es keinen Impfdruck gegeben und keine Diskussion über eine Impfpflicht, gäbe es nur eine handverlesene Zahl von echten Impfgegnern im Land. Das schwerste Foul in dieser „Liga“ ist der Begriff „Maßnahmengegner“ für alle, die mit der Regierungslinie nicht einverstanden waren.

Warum?

Der Begriff insinuiert, dass die Bezeichneten gegen Maßnahmen an sich waren und Maßnahmen nicht für nötig hielten. Doch gab es viele Menschen, die andere Maßnahmen aktiv vorschlugen – von der Aufstockung der Betten über die Einbeziehung des Hausärztesystems (zur Vermeidung von Krankenhausaufnahmen) bis zu einem aktiven Meldesystem für Impfnebenwirkungen. Ich schlug im Juli 2021 gemeinsam mit sieben Universitätsprofessoren und acht weiteren Autoren solche und andere Maßnahmen vor, weshalb wir auf Wikipedia für längere Zeit als „Maßnahmengegner“ bezeichnet wurden – dabei waren wir nur gegen Grundrechtseinschränkungen. Die Medien hätten den Spieß auch umdrehen können und die Maßnahmenbefürworter konsequent als „Grundrechtegegner“ und Kritiker als Grundrechteschützer framen können. Das wäre genauso schief gewesen, aber es zeigt, welche Macht die Medien haben und welches Potenzial zur Manipulation im öffentlichen Diskurs liegt.

Weitere Beispiele?

Wir hatten ja schon das Beispiel „Lockdown“. Es muss noch einmal mit aller Deutlichkeit gesagt werden: Eine Demokratie ist kein Gefängnis, die Staatsbürger sind keine Häftlinge, und sie verdienen keine Bestrafung! Genau das meint aber „Lockdown“, das Verschließen von Straftätern in Einzelhaft wegen schlechten Betragens. „Impfdurchbruch“ hieß früher „Impfversagen“. Und gestorben „in Zusammenhang mit“ Covid-19 ist das Ende der wissenschaftlichen Pathologie. Die Wiederherstellung der Normalität bestünde hier darin, als gestorben „an“ Covid-19 nur noch Menschen zu bezeichnen, die nachweislich primärursächlich an Covid-19 gestorben sind, notfalls mithilfe von Obduktionen. Je nach Berechnung, und das sollte eine gründliche Aufarbeitung mit erledigen, wären dann von den gegenwärtig 7 Millionen Covid-19-Todesfällen weltweit nach WHO-Zählung zwischen einer Million und sechs Millionen tatsächlich „an“ Covid-19 verstorben. Immer noch schlimm und tragisch, aber unter keinen Umständen eine „Jahrhundert-Katastrophe“, wie Angela Merkel die „Analyse“ von Bill Gates übernahm, offenbar, um den Menschen große Angst zu machen.

Und dann müsste unter anderem auch darauf geachtet werden, ob die an Covid verstorbenen Menschen Vorerkrankungen hatten, wie schwerwiegend diese waren, wie alt sie waren usw. Was sind nun die weiteren Schlüsse aus Ihrer Auseinandersetzung mit dem Komplex Grundrechte und Pandemiepolitik? Wie kann das, was sich die Politik erlaubt hat, zukünftig verhindert werden? Die Aufarbeitung geht bisher kaum voran.

In Bezug auf die Grundrechte braucht es meines Erachtens ein offensives Vorgehen: eine gründliche Revision der Schwachstellen, welche die gleichzeitige Verletzung oder Einschränkung von 25 Grundrechten ermöglicht haben. Ich mache dazu viele konkrete Vorschläge: Von der Evidenz-Erfordernis spätestens ab der ersten Verlängerung (nach 3 Monaten) über die verpflichtende Anhörung pluraler Experten-Standpunkte (z.B. Drosten und Willich) bis zur schon angeführten Aufwertung einzelner Grundrechte oder ihrer Ausweitung, zum Beispiel des Zensurverbots von staatlicher Vorzensur auf Nachzensur in den sozialen Medien durch Internetplattformen (diese sollten ab einer bestimmten Größe verstaatlicht werden); oder des Diskriminierungsverbots in der EMRK auf „Gesundheitsstatus und medizinische Behandlung“ – das wäre das Ende von 1G, 2G, 2G+ und 3G. Im Gesundheitssektor würde ich im Sinn von Art. 14 GG eine verpflichtende Gemeinwohl-Bilanz einführen. Und angesichts des voranschreitenden Klimawandels würde ich zudem die Genfer Flüchtlingskonvention ausweiten in dem Sinne, dass eine zerstörte Umwelt zu einem anerkannten Fluchtgrund wird, das ist heute noch nicht der Fall. Was sollen aber Menschen tun, die zum Beispiel verbrannte Erde im Rücken haben und vor einer verschlossenen Grenze stehen?

Was müsste noch getan werden?

Die gefährliche Gain-of-function-Forschung sollte verboten werden. Nach aktuellem Stand stammt das Virus höchstwahrscheinlich aus dem Labor, zu diesem Schluss kommt u. a. der 500 Seiten starke Bericht des Corona-Untersuchungsausschusses des US-Kongresses. Wenn es einer Regierung ernsthaft um den „Schutz von Leben und Gesundheit“ geht, was die offizielle Begründung für alle Maßnahmen war, muss sie dieser Hochrisikoforschung einen Riegel vorschieben, das würde „anthropogene Pandemien“ verhindern. Das ist ein wichtiger Punkt.

Es gibt aber nicht nur Pandemien, wir befinden uns in einer Polykrise, und bald könnte die nächste Ausnahmesituation vor der Tür stehen. Bevor sie sich einbürgert, sollten wir deshalb die „Notstandsmentalität“ so schnell wie möglich wieder ausmustern. Diese hat in der Weimarer Republik immer wieder zur Suspendierung einer ganzen Reihe von Grundrechten geführt, und dann direkt in den Nationalsozialismus. Deshalb haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes keinen Notstand mehr vorgesehen. 1968 kamen dann zwar notstandsähnliche Regelungen hinzu, die in der Politikwissenschaft als „Notstandsverfassung“ bezeichnet werden, doch der Begriff „Notstand“ als eigenes Recht findet sich bis heute nicht im Grundgesetz. Hier empfehle ich eine Klarstellung, dass es auch weiterhin zwar Naturkatastrophen und Pandemien und Kriege gibt, aber keinen „Notstand“ in der Bedeutung, dass der Gesetzgeber damit die Macht erhält, Grundrechte einzuschränken.

Wir sollten als Gesellschaft lernen, Krisen demokratischer zu meistern, unter Einbeziehung der Bevölkerung. Ich schlage auch einen demokratischen Krisenrat vor, der sich aus einem breiten Stakeholder-Gremium zusammensetzt und mit einem Vetorecht gegen Grundrechtseinschränkungen in Krisenzeiten ausgestattet wird. Mit der Summe dieser Verbesserungen kämen die Grundrechte langsam in ihre volle Kraft.

Lesetipp: Christian Felber: Lob der Grundrechte – Wie wir in kommenden Krisen das Gemeinwohl schützen. Westend. 03.02.2025. 224 S., 22 Euro.

Titelbild: Jaz_Online/shutterstock, © Bernd Hofmeister