Die Aussicht auf „kollektive Verteidigung“ vermittelt manchen Politikern und Regierungen eine trügerische Sicherheit: Staaten, die unter dem Schutzschirm der NATO stehen, fühlen sich durch den sogenannten „Bandeneffekt“ weniger gezwungen, ihre Außenpolitik an ihre wirtschaftlichen und militärischen Ressourcen anzupassen. Eine funktionierende nationale Außenpolitik beinhaltet eine außenpolitische Strategie und ein Handeln gegenüber anderen internationalen Akteuren, deren Folgen die Nationalstaaten mit ihren eigenen Mitteln bewältigen können. Ein Beitrag von Botschafter a. D. György Varga. Aus dem Ungarischen übersetzt von Éva Péli.
Würden die NATO-Mitgliedstaaten ihre Rhetorik an ihre eigenen nationalen Fähigkeiten anpassen, würde das die europäische Stabilität und die Moral der Beziehungen zwischen den europäischen Staaten erheblich verbessern. Ebenso, wenn sie zum Krieg als Instrument nur dann greifen würden, wenn sie ihn mit ihren eigenen nationalen Mitteln gewinnen könnten. Dies gilt auch für das Nicht-NATO-Land Ukraine, wo es besser gewesen wäre,
- das demokratisch gewählte Staatsoberhaupt nicht zu stürzen,
- die Rechte der nationalen Minderheiten nicht zu beschneiden,
- die Minsker Vereinbarungen einzuhalten,
- die separatistischen Gebiete mit friedlichen Mitteln wieder einzugliedern,
- das Istanbuler Abkommen zu besseren Bedingungen als heute zu unterzeichnen,
- nicht alles auf einen Krieg zu setzen, der nicht zu gewinnen ist,
- sich nicht auf die Zusage unbegrenzter Unterstützung durch andere Staaten zu verlassen.
Diejenigen, die sich für Krieg entschieden und zu dieser Entscheidung beigetragen haben sowie die schlimme Situation sogar noch weiter eskalieren lassen, können zur Kasse gebeten werden, aber sie sollten nicht andere für die Folgen schlechter Entscheidungen zur Rechenschaft ziehen. Ein solches Phänomen beschreibt der obengenannte Begriff „Bandeneffekt“.
Die Panik, die durch die Folgen des Krieges in der Ukraine ausgelöst wurde, führt zu einer weiteren Eskalation in den Ländern des politischen Westens, die an der Spitze der antirussischen Stimmung stehen. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat wiederholt die Entsendung von NATO-Truppen in die Ukraine gefordert. Der polnische Außenminister Radosław Sikorski, das tschechische Staatsoberhaupt Petr Pavel und die baltischen Staaten unterstützten die Idee. Jeder provozierende Eskalationsschritt wird in dem Glauben gemacht, dass die NATO die Institution der kollektiven Verteidigung aktivieren wird, wenn Russland „endlich“ zurückschlägt.
Das funktioniert nach dem Prinzip: Wir können die Zahl der Wirtschaftssanktionen täglich erhöhen, wir können die Mittel und die personellen Ressourcen bereitstellen, um tief in Russland liegende Gebiete anzugreifen. Wir können alles tun, denn es gibt eine kollektive Verteidigung: Wir können keine Fehler machen, nur die Russen, wenn sie es wagen, Vergeltung gegen ein NATO-Land zu üben, das sie provoziert.
Die Idee der kollektiven Verteidigung täuscht die Politiker
Als Regierungschef eines Landes mit zwei Millionen Einwohnern kann ich eine Atommacht getrost provozieren, denn ich habe eine Milliarde Menschen, einen Militärhaushalt von 1.400 Milliarden US-Dollar und einen US-Nuklearschirm hinter mir.
Warum wird eine solche Politik auf der Ebene der EU und NATO unterstützt? Denn ohne weitere Eskalation, entgegen der Rationalität, sollte die Verantwortung des kollektiven Westens für die Zerstörung der Ukraine anerkannt werden, die einst 603.000 Quadratkilometer umfasste und 52 Millionen Einwohner hatte.
Alles wird zugelassen, um den Krieg fortzusetzen, und in dem wachsenden Chaos schieben wir alle Verantwortung auf die Russen ab. Die sonst meist rationale russische Position wird im Kampf gegen Desinformation nicht in den Kommunikationsraum gelassen, plus als letztes Mittel auch Artikel 5 des NATO-Gründungsvertrags. Sein Artikel schützt uns auch. Mit anderen Worten: Wir können ohne Angst provozieren.
Die Zusammenarbeit zwischen der NATO und der Ukraine ist zu einer „Erfolgsgeschichte“ geworden: Die Ukraine liegt in Trümmern, die EU steuert auf einen politischen und wirtschaftlichen Abgrund zu, und die wichtigsten Teilsysteme der Weltwirtschaft (Finanzen, Energie, Verkehr) sind für 193 UN-Mitgliedstaaten erfolgreich lahmgelegt. Die politische Entscheidung der NATO zum Krieg in der Ukraine, keine Konfliktpartei zu sein, bleibt bis heute bestehen, aber NATO-Generalsekretär Mark Rutte ermutigt die Mitgliedstaaten weiterhin, die Ukraine zu unterstützen, wobei er keine Grenzen zwischen dem Grad der Unterstützung und der militärischen Beteiligung zieht. Es gibt viele Ungereimtheiten, insbesondere zwischen den erklärten antirussischen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten und der Frage nach dem rechtlichen Verhältnis der möglichen Reaktion Russlands auf diese Aktionen. Diese Verhältnisse sollten geklärt werden, bevor die erste russische Rakete ein europäisches Ziel trifft.
Warum sollte die NATO solchen Ländern, die Russland anscheinend aus nationalem Vergnügen provozieren, kollektive Verteidigung gewähren? Ohne auf den Konflikt in der Ukraine (von 2014 bis 2022) und den Krieg in der Ukraine (ab dem 24. Februar 2022) sowie die Verantwortung der Akteure einzugehen, möchte ich nur eine Tatsache hervorheben: Moskau und Kiew haben 2022 unter türkischer Vermittlung sechs Wochen nach Beginn des Krieges in Istanbul eine Vereinbarung zur Beendigung des Krieges getroffen. Der kollektive Westen blockierte die Unterzeichnung des Dokuments und forderte die Fortsetzung des Krieges. Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine haben weder die EU noch die NATO einen Aufruf zu Verhandlungen initiiert, obwohl die Mitgliedstaaten gemäß Artikel 1 des Washingtoner Vertrags eine friedliche Beilegung aller Konflikte anstreben müssen. Punkt 5, die kollektive Verteidigung, wird in den NATO-Ländern täglich erwähnt, aber wir haben noch keinen Kommentar des NATO-Generalsekretärs zu Punkt 1 gehört.
Die Ukraine erließ am 4. Oktober 2022 ein Präsidialdekret, das die Möglichkeit von Gesprächen zwischen der Ukraine und Russland verbietet, und Washington organisierte eine Koalition von mehr als 40 westlichen Ländern gegen Russland in militärischer und wirtschaftlicher Dimension.
Wer neutral bleibt, hilft Putin
Der politische Westen verschweigt seinen eigenen Gesellschaften das Hauptmerkmal des Krieges in der Ukraine: Russland hat keinen EU- oder NATO-Mitgliedsstaat angegriffen oder mit Sanktionen belegt, es gab keinen direkten Grund für die EU- und NATO-Länder, sich an dem Krieg zu beteiligen. Der Krieg hätte sehr schnell verhindert und beendet werden können, wenn der kollektive Westen dies gewollt hätte. Verfassungsmäßig neutrale Länder wie die Schweiz, Österreich und Moldawien sind lange Zeit am Kriegsprozess beteiligt; die herrschenden Eliten konnten oder wollten dem Druck des politischen Westens nicht widerstehen und zogen es vor, ihre eigenen Verfassungen zu ignorieren, was auf nationaler Ebene zu Schäden führte.
Der politische Westen hat auf allen Ebenen die Untersuchung der Nord-Stream-Sprengungen blockiert, dem bisher größten Terrorakt zur Zerstörung der Infrastruktur. Die UN-Untersuchung dazu wurde torpediert, die Ergebnisse der eigenen Untersuchungen der Küstenstaaten geheimgehalten. Um die Hauptspur, die auf die Vorgeschichte, Hintergründe, die Interessen und mehrere Quellen, die auf einen US-Plan und ihre Umsetzung hindeuten, zu verwirren, wurde der Verdacht – mit wirksamer deutscher Hilfe – auf die armen Ukrainer verlagert.
Der logische Trugschluss wird ignoriert: Warum sollte man ein ukrainisches Regime unterstützen, das die strategische Infrastruktur Deutschlands (der EU) zerstört? Für die europäischen Bürger ist die Realität ungeheuerlich: Wir sind Teil eines Bündnisses, in dem es nicht strafbar ist, einen Terrorakt gegen ein Mitglied des Bündnisses zu begehen. Einige Politiker (der tschechische Präsident Petr Pavel, der polnische Premierminister Donald Tusk) halten solche Terrorakte für absolut legitim, während andere – wie der polnische Außenminister Sikorski – dem mutmaßlichen Täter sogar „Danke“ sagen.
2025 haben wir den Punkt erreicht, an dem es in der EU und der NATO keine Einwände gibt, wenn die Ukraine das einzige Gaspipelinesystem in die EU, die Turkish Stream, angreift. Ungarn und die Slowakei können als EU-Mitglieder bestürzt zusehen, wie die Europäische Kommission die Ukraine außerhalb der EU dabei unterstützt, den Energietransit nach Europa zu unterbrechen und damit gegen ihre Verpflichtungen gegenüber der EU zu verstoßen.
Die Ukraine war und ist kein Mitglied der EU und der NATO. Diese Integrationsorganisationen haben ihre Mitgliedstaaten aus freien Stücken in den Kampf geführt, indem sie freiwillig in die verschiedenen Dimensionen des Krieges gegen Russland eingetreten sind, den Grad ihrer Beteiligung (vorerst auf nationaler Ebene) ständig erhöht und damit ihre eigene gefühlte Verwundbarkeit durch die logischerweise zu erwartende russische Reaktion ständig gesteigert haben.
Erst die Helme, dann allmählich die Lieferung von Waffen aller Art, die Massenausbildung ukrainischer Soldaten und schließlich die Anerkennung der Beteiligung westlicher Soldaten zeigen eine deutliche Steigerung des Niveaus, die Eskalationsspirale wird vom Westen angetrieben. Das Ergebnis auf westlicher und ukrainischer Seite ist desaströs, und da sich die Weltsicht des US-amerikanischen Akteurs (des neuen Präsidenten) geändert hat, scheint das Projekt zu kippen; deshalb versuchen die Koordinatoren des Plans, den Krieg mit europäischen Akteuren weiter zu eskalieren. Sie hoffen auf ein Wunder und auf Mittel außerhalb des Schlachtfeldes (Regimewechsel, terroristische Akte). Bei den derzeitigen Ergebnissen ist die Verantwortung klar: Wer hat die Ukraine zerschlagen lassen und wer hat davon profitiert?
Alles ist auf den Sieg der Ukraine ausgerichtet
Der Westen drückt sich vor der Antwort und eskaliert die Situation, indem er provokationsbereite Länder aktiv einbezieht. Die Verabsolutierung des Krieges in der Ukraine bietet entsprechend ihrer Zielsetzung einen bedeutenden moralischen Hintergrund für die Durchführung von Terroranschlägen gegen russische Infrastrukturziele und Personen. Bei militärischen Interventionen und Aggressionen westlicher Länder ist ein ähnlicher Ansatz nicht zu erkennen: In westlichen Gesellschaften hätten wir Terrorakte, die beispielsweise von serbischen, afghanischen, irakischen, syrischen oder libyschen Staatsbürgern auf dem Territorium der USA oder eines anderen westlichen Landes begangen wurden, nicht akzeptiert, selbst wenn diese Personen einen legitimen Grund gehabt hätten (oder immer noch hätten), die Bombardierung oder Besetzung ihres Landes durch die USA, Großbritannien, Frankreich und so weiter für inakzeptabel zu halten. Dies bleibt ein terroristischer Akt und kein kriegerischer Akt. Die Terrorakte (gegen Personen und Infrastruktur), die in den letzten drei Jahren in der Ukraine verübt wurden, sind weder von den USA noch von der EU verurteilt worden.
Dass der Westen die völkerrechtlichen Grenzen für Kriegsziele demontiert, ist alltäglich geworden. Im März 2022 definierten Rechtsexperten des Deutschen Bundestages die Ausbildung ukrainischer Soldaten in Deutschland noch als Kriegsbeteiligung. Heute kritisieren Provokateur-Länder den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) dafür, dass er die Lieferung von Taurus-Raketen an die Ukraine noch nicht genehmigt hat, die Moskau erreichen könnten, während sie die 450 Millionen Bewohner der EU in Angst und Schrecken versetzen, damit sie sich „auf einen Krieg mit Russland vorbereiten“.
Und sie haben recht, denn bei solchen Provokationen muss man darauf gefasst sein, dass die russische Führung früher oder später die russlandfeindlichen militärischen, wirtschaftlichen, menschlichen, informationellen, terroristischen Aktionen nicht mehr duldet und einige Länder als Kriegsteilnehmer betrachten wird.
Die provozierenden Länder greifen zunehmend auch die wenigen EU- und NATO-Mitgliedstaaten an, die ein schnellstmögliches Ende des Krieges fordern, und setzen die neuen antirussischen Forderungen der ukrainischen Führung fast unmittelbar um, sei es in Bezug auf Energie, Märkte, den Transfer neuer Waffentypen oder einfach „nur“ die Einschränkung der internationalen Bewegungsfreiheit russischer Sportler, Künstler und Kirchenvertreter; das Prinzip der Kollektivschuld „auf der Grundlage der EU-Werte“.
Alles ist auf Sieg ausgerichtet, wobei der moralische Verfall des politischen Westens immer offensichtlicher wird; die alten Regeln gelten nicht, die neuen nur für Russland, denn was heute geschieht, ist etwas, das es in der Geschichte der Menschheit scheinbar noch nie gegeben hat – es gibt einen Krieg zwischen zwei Ländern. Da stimmt etwas nicht: Die Normalität in der Menschheitsgeschichte war bisher, Konflikte zu entschärfen, zu isolieren, nicht zu internationalisieren mit all ihren globalen Folgen. Heute ist die Normalität eine andere, und diejenigen, die sie nicht akzeptieren, unterstützen angeblich Putin.
Der politische Westen und vor allem die Provokateur-Staaten geben allen EU-Bürgern das Gefühl, dass Europa von einem russischen Angriff bedroht ist, während klar ist, dass das derzeitige Niveau der Konfrontation zwischen dem Westen und Russland auf den Entscheidungen des politischen Westens in dieser Richtung beruht und jederzeit entschärft werden kann, auch durch die Beendigung des Krieges. Die Konfrontation zwischen der EU und Russland sowie der NATO und Russland wurde vom Westen eskaliert, und der Westen kann die Eskalation verringern.
Es vergeht kein Tag, an dem nicht einer der 32 NATO-Staaten seine Einschätzung veröffentlicht, dass wir nur noch wenige Tage vom Beginn eines NATO-Russland-Krieges entfernt sind. Diese beunruhigende Nachricht veranlasst die Regierungen seltsamerweise nicht zur Vorsicht, sondern im Gegenteil, einige strapazieren die Toleranzgrenze Moskaus noch weiter. Mit anderen Worten: Sie glauben selbst nicht an einen von Moskau angezettelten Krieg, weil sie noch Spielraum für eine weitere Eskalation sehen; von rationalen Akteuren im Westen ausgehend, können die Entwicklungen der letzten Monate nur so interpretiert werden.
Keine kollektive Verteidigung für Provokateur-Länder
Die Lösung liegt in einer Rückbesinnung auf die Rationalität: Staaten sollten eine Außenpolitik betreiben, deren Folgen sie mit ihren eigenen nationalen Mitteln bewältigen können. Kein Staat sollte Atommächte herausfordern, indem er sich hinter den Fähigkeiten der 31 anderen NATO-Mitglieder versteckt.
Dies ist heute bei einigen NATO-Mitgliedern offenbar nicht der Fall; sie leiten ihre Fähigkeiten von denen der NATO ab, und ihre tägliche Rhetorik spiegelt dies wider. Es ist zum Beispiel nicht sicher, dass die polnische, deutsche, französische oder litauische Bevölkerung auf eine rechtzeitig und korrekt gestellte Frage mit Ja antworten würde: „Akzeptieren Sie die Risiken einer weiteren Provokation Russlands ohne die kollektive Verteidigung der NATO?“
Wenn diese Völker die Konsequenzen für die von ihren Regierungen initiierten Provokationen auf nationaler Ebene nicht tragen wollen, warum sollten sie dann von Völkern akzeptiert werden, die von vornherein den Frieden wollten und die Eskalation des Krieges vor dem ukrainischen Volk nicht verantworten?
Nach der UN-Charta haben alle Staaten die gleichen Rechte. Wenn Polen oder Litauen Probleme haben und in der Lage sind, ein polnisch-russisches oder litauisch-russisches Spiel auf bilateraler Basis zu spielen, dann nur zu: Verfolgen sie die von Außenminister Sikorski und dem ehemaligen litauischen Außenminister Landsbergis angekündigte kriegerische Außenpolitik und versetzen sie Russland so viele tiefe Schläge wie möglich; wir warten mit Interesse auf das Ergebnis, aber die kollektive Verteidigung sollen sie vergessen. Genauso wie die Slowakei und Ungarn offenbar nicht auf die Unterstützung der EU zählen können, um den Energietransit vor einem externen Akteur zu schützen. Auf diese Weise zerstört Brüssel aus ideologischen Gründen die Wirtschaft der eigenen EU-Länder und ganz Europas.
Es ist vielleicht noch nicht zu spät, auf diese Nuancen aufmerksam zu machen, bevor einige Politiker selbstgefällig werden und Kriegsinitiativen mit Folgen für alle NATO-Mitglieder starten, die sie auf nationaler Ebene nicht bewältigen können oder ihre Fähigkeiten kennend gar nicht beabsichtigt haben.
Titelbild: Shutterstock / Rokas Tenys
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