Ach, Europa! – Tränen eines deutschen Europäers

Ach, Europa! – Tränen eines deutschen Europäers

Ach, Europa! – Tränen eines deutschen Europäers

Leo Ensel
Ein Artikel von Leo Ensel

„Europa“. Das war vor hundert Jahren für die weitsichtigen, versöhnungsbereiten Geister aller Länder die nationenübergreifende Vision einer friedlichen Zukunft auf unserem Kontinent. Das war jahrzehntelang auch mein persönliches deutsch-französisches Glück. – Aber aus dem „Friedensprojekt Europäische Union“ ist eine kopflos rasende Kriegsfurie geworden. Von Leo Ensel.

Vorigen Sommer las ich zum zweiten Mal Stefan Zweigs letztes Buch „Die Welt von Gestern“. Er hat es auf dem Höhepunkt des II. Weltkrieges im brasilianischen Exil geschrieben, wo er im Februar 1942 zusammen mit seiner Frau aus dem Leben schied. Der Untertitel – er verweist auf Lebensthema und Selbstverständnis des Autors – lautet: „Erinnerungen eines Europäers“.

Ein „Europäer“

Heute sagt sich das leicht. Vielen Deutschen, die keine sein wollen, geht es sogar recht flott über die Lippen, es kommt sozusagen direkt vor oder nach dem „Weltbürger“. (Hauptsache, man ist kein Deutscher!)

Anfang des XX. Jahrhunderts aber, als die Völker im nationalen Wahn – und nicht nur „hinten weit in der Türkei“, sondern – im Zentrum eben dieses Kontinents mit aller Wucht aufeinanderschlugen (dasselbe wiederholte sich nochmal zweieinhalb Jahrzehnte später), da war die Selbstbezeichnung, „Europäer“ zu sein, für die herrschenden Kriegstreiber auf allen Seiten ein Synonym für alarmierenden, die Kriegsbereitschaft gefährlich zersetzenden Defaitismus; für die wenigen erklärten Kriegsgegner jedoch die rettende übergreifende Lösungsvision, an der sie im Hier und Jetzt – sprich: bereits zu den blutigen Kriegszeiten – im Verborgenen für ein friedlicheres Morgen arbeiteten. (Ähnlich, wie es für den unbelehrbaren Verfasser dieses Textes nach wie vor – nein: jetzt erst recht! – die Gorbatschow‘sche Vision des „Gemeinsamen Europäischen Hauses“ ist.)

Anschaulich beschreibt Zweig, wie zwischen 1914 und 1918 französische, belgische, österreichische und deutsche Kriegsgegner – in der Regel clandestin – den Kontakt zu einander hielten, auf welch abenteuerlichen Wegen sie sich via ‚Flaschenpost‘ die Briefe mit den verbotenen pazifistischen Inhalten zukommen ließen, mit welchem Raffinement sie es manchmal sogar schafften, Gedanken, bisweilen ganze Texte eines ‚verfeindeten‘ Kollegen – in der Regel als ‚abschreckendes Zitat‘ oder um sie zu ‚widerlegen‘ – in die eigenen Essays zu schmuggeln, um sie so einem größeren Leserkreis im eigenen Lande bekannt zu machen, und wie höllisch er 1917 angesichts „der Maulwurfsarbeit geheimer Agenten aus allen Lagern“ selbst in der neutralen Schweiz aufpassen musste, als er endlich in Genf seinen alten französischen Freund wieder traf, den er als das „moralische Gewissen Europas“ – Europas! – bezeichnete: den Schriftsteller Romain Rolland.

Was damals während des I. Weltkriegs – und, wohl noch verzweifelter, im II. Weltkrieg – die weitsichtigsten Geister der verfeindeten Länder in ihren kühnen Phantasien anvisierten, das wurde in den Jahrzehnten nach 1945 tatsächlich Wirklichkeit: Ein ganzer Kontinent begann, aus seiner mörderischen Vergangenheit zu lernen.

Im Großen wie im Kleinen.

Jumelage“ und „L‘Europe“ – Ein biographischer Rückblick

Aufgewachsen bin ich in einem kleinen Dorf in der Nähe von Mainz. Genauer: Im langweiligsten Kuhkaff im Radius von 35 Kilometern um die rheinland-pfälzische Hauptstadt. Nichts war hier los. Die Einwohner borniert, aufdringlich neugierig, schwatzhaft und stolz auf ihren Provinzialismus. Der ganze Ort eine steingewordene Aufforderung zum Abhauen.

Und in diesem Kaff gab es Anfang der Siebziger Jahre – ich war damals 16 – eine, nein: die Sensation: „Die Franzosen kommen!“

Die Franzosen, sie reisten an mit einem Sonderzug aus Paris, der – eine Sternstunde in der Geschichte der Deutschen Bundesbahn! – genau acht Kilometer vor Mainz direkt am Provinzbahnhof unseres Kuhkaffs anhielt, damit die französische Delegation an Ort und Stelle aussteigen konnte, um von unseren nervös wartenden Dorfhonoratioren in Empfang genommen zu werden. Unter ihnen mein Vater. Als Mitglied des Gemeinderates hatte er mitgewirkt bei der Einfädelung des „Jumelage“, der deutsch-französischen „Städte“-Partnerschaft zwischen unserem Dorf und der Kleinstadt im Val d‘Oise, dreißig Kilometer nördlich von Paris.

Es bleibt bitte unter uns, aber fünfeinhalb Jahrzehnte später kann man es ja verraten und ich selbst habe davon maßlos profitiert: Unseren dieses Mal durchaus cleveren Ortsvätern war es ursprünglich gar nicht so sehr auf diese spezielle französische Kleinstadt angekommen; es war ihre Nähe zu Paris, die sie so unwiderstehlich attraktiv machte! Aber auch Vernunftehen können nachträglich Liebesheiraten werden. Auch Paare, die von ihren Eltern ausgewählt und füreinander bestimmt wurden, lieben sich manchmal tatsächlich. – So auch hier.

Ich konnte nicht verstehen, was diese Menschen – sie kamen doch aus Paris oder jedenfalls aus der Umgebung! –, was diese allesamt deutlich weltläufigeren, eleganter gekleideten, besser duftenden, kurz: kultivierteren Franzosen ausgerechnet an unserem Kuhkaff so interessant fanden. Erst viele Jahre später wurde mir klar: Es war nicht der langweilige ‚Charme‘ unseres Dorfes und die – hier gar nicht aufgesetzte, sondern echte – Freundlichkeit seiner Einwohner. Es war die große Erleichterung, nein: Freude, noch mehr: das Glück, nicht mehr Feinde zu sein! Ob ausgesprochen oder unausgesprochen, immer schwang der Satz mit: „Nach diesen beiden schrecklichen Kriegen wollen wir nur noch eins – Freunde sein!“

Meine Eltern starben beide früh. Aber ich hatte das Glück, im zarten Alter von 40 Jahren noch einmal ‚zweite Eltern‘ zu bekommen: das Ehepaar der französischen Partnerfamilie meiner Eltern. Wir haben uns gegenseitig im Geiste ‚adoptiert‘. Und so sehe ich mich selbst als posthumes Kind der deutsch-französischen Freundschaft – mit deutschen ersten Eltern und zweiten Eltern en France. (Und ich habe es mir später zur Lebensaufgabe gemacht, das was meine vier Eltern im Westen geleistet haben, nun nach dem Ende des Kalten Krieges im Osten voranzubringen: Die Aussöhnung zwischen unseren Völkern.)

Seit Mitte der Achtziger Jahre war ich gefühlte hundertmal bei meinen zweiten Eltern im Norden von und bei dieser Gelegenheit immer auch in Paris. (Der Standardsatz meiner zweiten Mutter, Christiane Rousseau, „Il connaît Paris comme sa poche!“ war allerdings eine liebevoll-maßlose Übertreibung.) Jedes Zusammensein – immer mit gutem französischem Wein und hervorragenden ‚Repas‘ meiner zweiten Mutter, einer exzellenten Köchin – stand unter dem Motto „Wie wunderbar, dass wir keine Feinde mehr sind!“ Mit einem Augenzwinkern ‚stritten‘ wir uns immer mal wieder gerne, ob denn das Elsass, ob Straßburg nun deutsch oder französisch seien. Und anschließend gab es stets den Versöhnungstoast „Vive l‘Europe!“

Einmal schaute ich mir mit ihr zusammen in einem Pariser Kino den Film „Merry Christmas“ (französisch: „Joyeux Noël“) an. Ein Film über die spontanen Verbrüderungen deutscher, französischer und britischer Soldaten, Weihnachten 1914 in Flandern, über die Schützengräben hinweg. (Und ein Film, den heute sowohl ukrainische als auch russische Offiziere als untragbar defaitistisch umgehend aus dem Verkehr ziehen würden…) Wie sich die Männer am Heiligen Abend im Millimetertempo vorsichtigst aus ihren vereisten Gräben heraustrauen, mit weißen Fahnen bewaffnet sich zögerlich entgegengehen; wie sie später einander Fotos ihrer Lieben in der Heimat zeigen, kleine Geschenke austauschen, zum Schluss sogar zusammen Fußballspiele veranstalten. Wie der deutsche Hauptmann seinem, ihm immer sympathischer werdenden französischen ‚Feind‘ sagt: „Nach dem Krieg würde ich Sie gerne mal in Paris besuchen!“ und dieser antwortet: „Das hätten Sie auch vor dem Krieg schon machen können!“ Und wie nach den Weihnachtstagen die wutentbrannten höheren Offiziere aller drei Kriegsparteien ihre zumindest dort nicht mehr kriegstüchtigen Mannschaften an andere Frontabschnitte zu erneutem Töten und Sterben verlegten.

Kurz: „Europa“, „L‘Europe“ – das war für mich das Glück, nicht in einem Schützengraben faulen und Franzosen totschießen zu müssen oder von ihnen totgeschossen zu werden, sondern jederzeit ohne Pass und Geldumtausch zu meiner zweiten Mutter nach Paris fahren zu können und von ihr ein gutes französisches ‚Repas‘ mit einem kräftigen Bordeaux serviert zu bekommen. – Kann Frieden, kann ‚Völkerversöhnung‘ attraktiver sein?

Als Jean, mein zweiter Vater – sein Bruder war als Zwangsarbeiter in Mauthausen interniert, er selbst hatte als Soldat der „Deuxième DB“ unter dem General Leclerc im November 1944 nach schweren Kämpfen das Elsass und Straßburg mitbefreit und Jahrzehnte später zusammen mit seiner Frau die deutsch-französische Aussöhnung und Freundschaft en miniature vor Ort realisiert – als Jean im Sommer 2005 starb, da nannte der katholische Pfarrer im Requiem ihn „Un grand patriote!“ Die gemeinsame deutsch-französische Konsequenz aus diesem Leben steckte mir am offenen Sarg sein Sohn, mein ‚zweiter Bruder‘, Gilles: «Et si on bat les Allemands encore une fois, ce ne sera qu‘au foot!» („Und wenn wir die Deutschen nochmal schlagen, dann nur noch im Fußball!“)

Das war für mich Europa.
Das war für mich Europa!

Und heute

Tableau.

„Europa“, will sagen: Die Europäische Union, der mehr als hundertjährige, endlich Wirklichkeit gewordene Traum aller weitsichtigen, versöhnungsbereiten Geister der verfeindeten Länder; gegründet als Friedensprojekt, als kollektive Lehre nach zwei mörderischen Weltkriegen; über Jahrzehnte kontinuierlich größer und einflussreicher geworden; 2012 gar mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet; eine beispiellose Erfolgsgeschichte nach innen

… diese Europäische Union betreibt nach außen seit Beginn des Ukrainekrieges nicht nur Totalverweigerung in Sachen Diplomatie und Deeskalation, sie fährt, statt Friedensinitiative um Friedensinitiative zu starten, immer rasanter einen kopflosen, größenwahnsinnigen, im Worst Case selbstmörderischen Konfrontationskurs gegen die große Atommacht im Osten des Kontinents!

Statt, wie weiland Stefan Zweig, Romain Rolland et al. im I. Weltkrieg, auf die andere Seite jenseits der neuen, täglich tiefer werdenden Gräben zu schauen und, wie damals, endlich eine die Konflikte überwölbende große Vision – das von Michail Gorbatschow angedachte, in Grundzügen Ende November 1990 in der „Charta von Paris“ bereits skizzierte „Gemeinsame Haus Europa“ – ernsthaft anzustreben, gebärdet die Europäische Union sich wie eine rasende Kriegsfurie, der selbst das Gespür für die eigenen Interessen längst abhanden gekommen ist! Der abenteuerliche, nein: brandgefährliche Vorschlag der EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas, Russland in zahlreiche Einzelstaaten zu zerlegen, und die schrille Rhetorik der Russlandresolution vom 26. November letzten Jahres – mit ihrer, auch von Vertretern der „The Left“-Fraktion akklamierten, Forderung nach dem Einsatz u.a. deutscher Taurus-Marschflugkörper – lesen sich wie eine Kriegserklärung.

Dazu der ehemalige jahrzehntelange UNO-Diplomat und Berater von vier UN-Generalsekretären, er sitzt heute für das BSW im Europaparlament, Michael von der Schulenburg: „Für mich, der ich immer ein glühender Anhänger der europäischen Idee gewesen bin, ist es schmerzhaft, die Debatten einer kriegslüsternen und hasserfüllten Parlamentsmehrheit mitanzuhören. Ich frage mich dann: Was für ein Monster haben wir mit der EU erschaffen?“

Dem ist nichts weiter hinzuzufügen.

Mit freundlicher Genehmigung von Globalbridge.

Titelbild: Spontane Verbrüderungen deutscher, französischer und britischer Soldaten, Weihnachten 1914 in Flandern. (Nachgestellt im Film „Joyeux Noël“.), Senator Film

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