Flassbecks „Grundlagen einer relevanten Ökonomik“ – mehr als nur ein Buch, ein „Lebenswerk“!

Flassbecks „Grundlagen einer relevanten Ökonomik“ – mehr als nur ein Buch, ein „Lebenswerk“!

Flassbecks „Grundlagen einer relevanten Ökonomik“ – mehr als nur ein Buch, ein „Lebenswerk“!

Ein Artikel von Thomas Trares

Wer gleich im ersten Satz seines neuen Buches erklärt, dass das vorliegende Werk sein „Lebenswerk“ ist, der hat entweder ein gesundes Selbstbewusstsein oder doch Großes im Sinn. Auf den Ökonomen Heiner Flassbeck könnte sogar beides zutreffen. Klar ist auf jeden Fall, dass Flassbeck mit „Grundlagen einer relevanten Ökonomik“ nicht einfach ein weiteres Sachbuch geschrieben hat, denn es geht hier nicht wie in seinen früheren Werken um den Euro, die Umwelt oder gar das bedingungslose Grundeinkommen. Nein, hier geht es um das Große und Ganze, ja, man kann sogar sagen, „Grundlagen einer relevanten Ökonomik“ ist das Destillat eines inzwischen mehr als 50 Jahre währenden Berufslebens, in dem Flassbeck unter anderem wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung, Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und zuletzt Chefvolkswirt der UN-Handelsorganisation UNCTAD war. Eine Rezension von Thomas Trares.

Allein schon die äußere Erscheinung des Buchs sprengt den üblichen Rahmen. Erschienen ist es nämlich – wie sonst nur wenige Bücher im Westend Verlag – als großformatiges Hardcover, und das auch noch in einem Umfang von rund 450 Seiten. Diese teilen sich auf in 100 Seiten Wirtschaftsgeschichte – von der Großen Depression der 1930er-Jahre bis zur Inflationskrise der Gegenwart –, 100 Seiten Geschichte des ökonomischen Denkens – von der Neoklassik über den Monetarismus bis hin zum Keynesianismus – und weitere 250 Seiten, auf denen sich Flassbeck mit den volkswirtschaftlichen Großthemen Arbeit und Lohn, Geld und Kapital sowie internationaler Handel und internationale Währungsordnung beschäftigt.

Die Dynamik ist relevant

Und auf all diesen 450 Seiten geht es im Kern darum, was Flassbeck in der Ökonomik für relevant hält und was nicht. Relevant ist demnach alles, was hilft, die dynamische Entwicklung der Wirtschaft zu erklären, alles andere ist irrelevant. Dies macht Flassbeck immer wieder deutlich. Schon im Vorwort erklärt er: „Ich will die Ökonomen dazu anregen, die viel zu einseitige Methodik des Marktgleichgewichts über Bord zu werfen und sich endlich der Dynamik zu verschreiben.“ (S. 10) Und an anderer Stelle schreibt er: „Was der Ökonomik als Wissenschaft … fehlt, ist eine Theorie der Dynamik, die erklärt, ob und warum es inhärente Prozesse in der Wirtschaft gibt, die dafür sorgen, dass sich das System bewegt, seine gewohnten Bahnen immer und immer wieder verlässt, und weshalb es überhaupt in der Lage ist zu wachsen und damit die Lebensumstände vieler Menschen zu verbessern.“ (S. 113)

Mit diesem Fokus auf „die Dynamik“ erfindet sich Flassbeck am Ende seines inzwischen gut 50-jährigen Berufslebens noch einmal neu. So ist er nun weniger Keynesianer, dafür aber mehr Evolutionsökonom, ganz in der Tradition des österreichischen Nationalökonomen Joseph Alois Schumpeter stehend. „Schumpeter ist wichtiger als Keynes“, lautet denn auch eine der zentralen Botschaften Flassbecks. (S. 447) Schumpeters Verdienst war es, die Wirtschaft als ein dynamisches System beschrieben zu haben, dessen treibende Kraft der Pionierunternehmer ist, der – von einer neuen technischen Idee oder einem neuen Produkt inspiriert – etwas Neues wagt und damit das System am Laufen hält. Nach dieser Lesart entwickelt sich eine Volkswirtschaft nicht entlang eines vorgegebenen Gleichgewichtspfads, sondern ist eine „Aneinanderreihung permanenter Ungleichgewichte“, angetrieben von der Investitionstätigkeit der Unternehmen.

Keynes in der zweiten Reihe

Keynes indes bleibt zwar weiter relevant, tritt aber in die zweite Reihe zurück. Dies hat teils inhaltliche, teils auch praktische Gründe. So etwa wirft Flassbeck den Keynesianern vor, sich allein schon methodisch zu nahe am Gleichgewichtsdenken der Neoklassik zu bewegen. Ein Beispiel dafür ist die Arbeitsmarkttheorie, in deren Rahmen Keynesianer jahrzehntelang „fruchtlose Diskussionen“ darüber geführt hätten, weshalb und warum die Löhne doch nicht ganz so flexibel wie andere Preise sind und welche Folgen das für die Wirtschaftspolitik haben könnte. Flassbeck schreibt: „Der ‘Keynesianismus‘, also die Lehren, die sich im weitesten Sinne auf Keynes berufen, haben sich durch ungeeignete Methoden und falsche Zugeständnisse ebenfalls ins Abseits begeben und dadurch in etlichen Varianten, die an den Universitäten gelehrt werden, die Chance verspielt, jemals zu einer wirklichen, politisch verwertbaren Alternative des neoklassischen Paradigmas zu werden.“ (S. 174)

Flassbecks Hauptgegner jedoch ist und bleibt die Neoklassik, an der er sich auch das komplette Buch hindurch wortreich und wortgewaltig abarbeitet. So bezeichnet er sie mal als „Kunstlehre“, der man von vorneherein jede Berechtigung absprechen sollte, sich prognostisch oder wirtschaftspolitisch zu äußern. (S. 175). Dann spricht er von einer „Pseudowissenschaft“, der man das Handwerk legen sollte, weil sie nicht in der Lage ist, der Politik eine ernst zu nehmende Hilfestellung zu bieten. (S. 89) Dann wieder vergleicht er die Neoklassik in Anlehnung an Herrmann Hesses gleichnamigen Roman mit einem „Glasperlenspiel“ (S. 177), bei dem sich die Protagonisten – sich in einer „logischen Scheinwelt“ bewegend – einer „hoch entwickelten Geheimsprache“ bedienen, die für Laien nicht ohne Weiteres zu durchschauen ist.

Die Neoklassik im Reich des Irrelevanten

Und alles, was mit der so gescholtenen Neoklassik zu tun hat, verbannt Flassbeck sodann ins Reich des Irrelevanten. Wenig überraschend zählt hierzu auch die neoklassische Arbeitsmarkttheorie, die unterstellt, dass niedrige Löhne grundsätzlich gut für die Beschäftigung sind. Dem widerspricht Flassbeck vehement. „Lohnsenkung vernichtet Arbeitsplätze!“, erklärt er stattdessen. (S. 230) Als Lösung schlägt er dann einen Lohnstandard vor. Dabei sollten sich alle wichtigen gesellschaftlichen Gruppen auf die Einhaltung der Goldenen Lohnregel einigen, wonach die Löhne nach Maßgabe der gesamtwirtschaftlichen Produktivität und der Zielinflationsrate steigen sollten. „Die regelmäßige und systematische Anpassung der Löhne an eine ambitiöse Produktivitätsentwicklung und die Zielinflationsrate ist das entscheidende Instrument der Wirtschaftspolitik, um eine nachhaltige und angemessene Entwicklung der Wirtschaft zu erreichen“, schreibt Flassbeck. (S. 261)

Ins Reich des Irrelevanten verbannt Flassbeck freilich auch noch andere neoklassische Glaubenssätze wie etwa die Effizienzmarkthypothese (EMH), für die der US-Ökonom Eugene Fama 2013 den Nobelpreis erhielt. Die EMH behauptet, dass der Kapitalmarkt alle vorhandenen Informationen nutzt und deshalb effizient ist. Die Realität ist laut Flassbeck jedoch eine andere, was allein schon das oft zu beobachtende Herdenverhalten an den Finanzmärkten oder auch eklatante Fälle „destabilisierender Währungsspekulation“ zeigten. (S. 372 f.) Irrelevant ist nicht zuletzt auch die neoklassische Annahme, dass Ersparnisse Voraussetzung für Investitionen sind. „Die neoklassische Vermutung, durch das Sparen fließe dem Investor ´Kapital´ zu, er erhalte also Mittel vom Sparer, die er zum Investieren nutzen kann, ist falsch. Sparen der privaten Haushalte verursacht ein Einnahmendefizit bei den Unternehmen, das diese in der Regel zur Verringerung ihrer Ausgaben zwingt“, erklärt Flassbeck. (S. 200)

Absolute statt komparativer Vorteile

Etwas überraschend ist aber dann doch, dass Flassbeck mit der Theorie der komparativen Kostenvorteile von David Ricardo auch noch die letzte heilige Kuh der klassisch/neoklassischen Lehre schlachtet. „Das Lehrbuchkonstrukt der Mainstream-Ökonomik von den komparativen Vorteilen im internationalen Handel mit seinen Schlussfolgerungen hinsichtlich Freihandel und Kapitalverkehrsfreiheit muss entlarvt werden – es ist das wissenschaftliche Feigenblatt für Wirtschaftskolonialismus“, schreibt er. (S. 345) Flassbeck zufolge wird der internationale Handel vielmehr von absoluten Vor- und Nachteilen bestimmt. So sei etwa der Aufstieg Chinas nur möglich gewesen, weil sich das Land durch die Kombination niedriger Löhne und den Import hochproduktiver westlicher Technologie absolute Vorteile im internationalen Handel sichern konnte. (S. 191 f.)

Fazit: Alles in allem ist „Grundlagen einer relevanten Ökonomik“ ein Muss für all jene, die sich abseits des Mainstreams mit Ökonomie beschäftigen wollen. So bietet das Buch nicht nur einen alternativen Blick auf nahezu alle wichtigen volkswirtschaftlichen Themengebiete, sondern auch noch eine Fülle an gut aufbereitetem empirischen Datenmaterial – vom Stundenlohn gelernter Bauarbeiter in den USA in den 1920er- und 1930er-Jahren bis hin zur absoluten und relativen Steuerbelastung der Jahreseinkommen im heutigen Deutschland. Aber auch wer etwas zu ökonomischen Nischenthemen wie dem Vollgeld sucht oder an einer kritischen Auseinandersetzung mit dem jedem VWL-Studenten bekannten IS/LM-Modell interessiert ist, wird hier fündig.

Ja, angesichts des enormen Umfangs und der analytischen Tiefe des Werks kann man letztlich ohne Übertreibung sagen, dass das, was für Karl Marx „Das Kapital“ und für John Maynard Keynes „Die Allgemeine Theorie“ für Heiner Flassbeck die „Grundlagen einer relevanten Ökonomik“ sind – ein Lebenswerk!

Titelbild: Buchcover „Grundlagen einer relevanten Ökonomik“ – Westend