Häufig gestellte Fragen: Was ist angesichts der hohen Staatsschulden am Fiskalpakt so falsch?
Der steile Anstieg der Staatsverschuldung in den letzten Jahren macht viele Menschen besorgt. Mit dem Fiskalpakt soll – nach deutschem Vorbild – eine „Schuldenbremse“ auf europäischer Ebene festgeschrieben werden. Das ist doch vernünftig oder etwa nicht?
So werden wir häufig gefragt. Von Wolfgang Lieb.
Vorbemerkung: Es soll hier in erster Linie nicht um die Frage gehen, ob eine „Schuldenbremse“, wie sie in Deutschland vor einiger Zeit sogar ins Grundgesetz eingefügt worden ist, sinnvoll ist und welche Vor- und Nachteile damit verbunden sind. Es geht hier zunächst nur um die aktuell anstehende Entscheidung über die Ratifikation des auf der Ebene der Regierungschefs ausgehandelten Fiskalpakts, der eine Schuldenbremse nunmehr für alle Unterzeichnerstaaten vorschreibt, um Europa aus der Krise zu führen.
Was ist angesichts der hohen Staatsschulden am Fiskalpakt so falsch?
Vor allem in Deutschland ist es unter dem Einfluss der Bankenlobby und mit Hilfe von sogenannten Finanz-Experten sowie der Meinungsmache der einflussreichsten der Medien gelungen, die Banken- und Finanzkrise politisch in eine „Staatsschuldenkrise“ umzudeuten. Nur eine „Schuldenbremse“ könne aus der „Staatschuldenkrise“ wieder herausführen, so lautet das gängige Rezept. Mit der Einführung des Begriffes der „Staatsschuldenkrise“ ist es gelungen, die Ursache für die Eurokrise – von den Finanzmärkten weg – einer unsoliden Finanzpolitik der europäischen Staaten zuzuschieben.
Alle verfügbaren Daten belegen jedoch glasklar, dass welt- und europaweit die Staatsschulden vor allem nach der Finanzkrise dramatisch gestiegen sind.
Auch wenn man die jährliche Neuverschuldung im Verhältnis zur jeweiligen Wirtschaftsleistung betrachtet, so lag diese von 2001 bis 2005 im Euroraum zwischen zwei und drei Prozent, 2006 und 2007 sogar in einer Spanne von unter einem bis unter zwei Prozent. Selbst in den jetzt von der Eurokrise am meisten betroffenen Ländern lag sie vor der Finanzkrise nur ein wenig höher als in den „starken“ Ländern wie etwa Deutschland oder Frankreich. Das jetzt rettungs(schirm)bedürftige Spanien konnte sogar jahrelang Haushaltsüberschüsse erzielen und hatte 2007 noch einen Staatsverschuldung von weniger als 40 Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt – also sogar weit unter der Maastricht-Obergrenze von 60 Prozent. Noch heute liegt das zu den besonders gebeutelten „PIGS-Staaten“ (pig heißt englisch Schwein!) gezählte Spanien unter der Verschuldungsquote Deutschlands. (Vgl. die Grafiken oben, siehe dazu auch das Handelsblatt)
In Folge der Finanzkrise stiegen die Defizite aufgrund der Kosten für die Bankenrettung und teilweise durch die erforderlich gewordenen Konjunkturprogramme zur Stabilisierung der abstürzenden Realwirtschaft dramatisch an. Allein in Deutschland in den Jahren 2009 und 2010 auf bis über 83 Prozent.
Quelle: Haushaltssteuerung
Alle diese Daten belegen, dass die Eurokrise ihre Ursache nicht in der staatlichen Geldverschwendung hat oder darin liegt, dass die Menschen in Europa „über ihre Verhältnisse“ lebten. Die Ursache lag ganz überwiegend in der Finanzkrise und den danach beschlossenen politischen Rettungsmaßnahmen.
Wenn jedoch schon die Diagnose der Ursachen für die „Staatsschuldenkrise“ falsch ist, dann kann auch die Therapie mit einer „Schuldenbremse“ nicht richtig sein. (Siehe dazu „Fiskalpakt: Selbstmord aus Angst vor dem Tod“ )
Indem die Schuld an der Eurokrise den Staaten (und damit letztlich der Politik) in die Schuhe geschoben werden konnte, wurden „die Märkte“ wieder heiliggesprochen. Gerade die Finanz-„Märkte“, die doch so kläglich versagt hatten, werden als über der Demokratie (Merkel: „marktkonforme Demokratie“) und der Politik stehende, höhere Macht dargestellt. Diese Marktgläubigkeit passt vollständig in die Ideologie der konservativen und (neo-) liberalen Parteien. (Und dazu gehören auch die Grünen und die SPD, die sozialdemokratische Führungstroika ist ja ganz stolz darauf, dass die „Schuldenbremse“ „von uns aktiv vorangebracht“ wurde.)
Diese Glaubenslehre erklärt Steuererhöhungen zum Tabu und Sparen, womöglich sogar gepaart mit Steuersenkungen als die Erlösung aus allen Übeln. „Hungert den Staat aus, der Markt kann alles besser“, das ist eben die Parole der Neoliberalen seit Margret Thatchers und Ronald Reagans Zeiten.
Obwohl mit der Finanzkrise selbst die verbohrtesten Anhänger dieser Ideologie eingestehen mussten, dass „die Märkte“ versagt haben, hören wir nun – als hätte es dieses Versagen nie gegeben – wieder täglich die Parole, dass man das „Vertrauen der Märkte“ zurückgewinnen müsse. Der Philosoph Jürgen Habermas nennt, was wir derzeit erleben, zu Recht eine Erpressung der Politik durch die Finanzmärkte.
Die hunderte von Milliarden, die derzeit hinter den Kürzeln EFSV und ESM versteckt werden, sind nichts anderes als eine zweite Bankenrettung, einmal mehr auf das Risiko und die Kosten der Steuerzahler.
Eine Schuldenbremse für ganz Europa – noch strenger als das deutsche Vorbild – wird die Verschuldung der Staaten nicht bremsen, sondern sie wird im Gegenteil staatliche Wirtschaftsbelebungen nicht nur verhindern, sondern noch mehr, die lahmende europäische Konjunktur sogar noch (prozyklisch) abwürgen. Das bedeutet aber letztlich noch weniger Steuereinnahmen und – das Gegenteil was eine „Schuldenbremse“ bewirken soll – noch mehr Schulden. Und diese zusätzlichen Schulden müssen dann nach der herrschenden Logik durch noch mehr Einsparungen aufgefangen werden. Die Politik kann aber künftig beim weiteren sozialen Kahlschlag ihre Hände in Unschuld waschen, denn die „Schuldenbremse“ zwingt ja dazu.
„Das Sozialstaatsmodell hat ausgedient“, konstatierte der Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, im Wallstreet Journal. Denn wo in dieser wirtschaftlichen Situation gespart wird, das können wir europaweit beobachten: bei den Sozialleistungen, bei den Löhnen, bei den Beschäftigten. Die ohnehin Benachteiligten in unserer Gesellschaft werden noch mehr zur Kasse gebeten und die Zukunftschancen der künftigen Generationen werden verbaut.
Man konnte es aber doch gerade in den letzten beiden Jahren in Deutschland wieder einmal beobachten: Das wirkungsvollste Sparprogramm ist eine gute Konjunktur.
Mit dem Fiskalpakt, wird ein klammheimlicher Systemwechsel vollzogen und – da praktisch unkündbar – dauerhaft festgeschrieben. Damit wird aber das historische Kernelement der parlamentarischen Demokratie, nämlich das Budgetrecht des Parlaments in grundgesetzwidriger Weise eingeschränkt. Weil man zu feige ist, über diese unwiderrufliche Souveränitätsübertragung auf eine bürokratische europäische Ebene eine Volksabstimmung zu wagen, umgeht die Bundesregierung jetzt nicht nur das Grundgesetz sondern auch noch die Europäischen Verträge und verlagert die Einführung einer europäischen „Schuldenbremse“ in einen als harmlos dargestellten zwischenstaatlichen Vertrag.
Dass mit dem Fiskalpakt letztlich eine europäische Föderation im Sinne einer Fiskalunion geschaffen wird, könnte man grundsätzlich politisch wollen. Aber nach dem Urteil unseres höchsten Gerichts, lässt dies unser Grundgesetz nicht zu. Es fordert über einen derartigen tiefgreifenden Souveränitätsverzicht eine Volksabstimmung.
Der Bundestag wird also künftig europarechtlich gezwungen sein, über zwanzig Jahre je nach Konjunkturverlauf jährlich bis zu 25 Milliarden an Schulden abzubauen. Die Konsequenzen sind kaum auszumalen. Wenn man allerdings die Debattenbeiträge der etablierten Parteien anlässlich des Auftaktes der parlamentarischen Beratungen zum Fiskalpakt gehört hat, so scheinen die Parlamentarier noch überhaupt nicht erkannt zu haben, was sie da beschließen. Einzig Gregor Gysi ist auf den Kern der Sache eingegangen, was aber nur zu betretenem Schweigen von Regierung und in den Reihen der übrigen Opposition geführt hat.
Wie schon bei der Finanzkrise erleben wir erneut auch ein Versagen der Medien. Und es ist geradezu tragisch, dass die große Mehrheit der Journalisten für eine so grundlegende Frage des künftigen gesellschaftlichen Zusammenlebens in Deutschland und Europa nicht in Ansätzen einen vergleichbaren Rechercheaufwand betreibt, wie das z.B. bei der Jagd nach den letzten Details des Fehlverhaltens des zurückgetretenen Bundespräsidenten der Fall war.