Fernsehen bildet, dieser Spruch kam mir bei der ARD-Dokumentation „Das falsche Versprechen von Aufstieg…“ in den Sinn. Das in Zeiten, in welchen unser Land unter einer dunklen Wolke schwerer gesellschaftlicher Fehlentwicklungen verharrt und Worte wie „Es geht den Bach hinunter“ Konjunktur haben. Die eindrucksvolle Dokumentation rechnet mit unserer Ellenbogengesellschaft, mit der Heuchelei, dass jeder was werden könnte, ab und damit, dass verschwiegen wird, dass es mehrere „aber“ gibt, die diese „versprochenen“ Aufstiege verhindern. Im Film des MDR wird das offengelegt. Eine Besprechung von Frank Blenz.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Von der ARD-Dokumentation bekam ich beim Radiohören Wind. Ein Programmtipp auf MDR machte auf die Sendung aufmerksam, und durch eine kurze Aussage darin wurde ich irritiert und umso mehr interessiert: dass in dem Film davon gesprochen würde, dass Deutschland eine Klassengesellschaft sei. Zum Schmunzeln war für mich beim Anschauen gleich der Filmauftakt, bei dem das Duo Modern Talking mit berühmter Kopfstimme den Refrain „You can win …“ als Filmmelodie lieferte. Wenn das nur so einfach mit dem Siegen wäre …
90 Minuten beeindruckende Gesellschaftskritik der Bundesrepublik
Die Dokumentation „Das falsche Versprechen vom Aufstieg – You can win, if you want?“ wirkte auf mich intensiv. Sie war ein offenes, schonungsloses, humorvolles, teils trauriges, aber nicht verbittertes Sittengemälde unserer Gesellschaft, aus verschiedenen Blickwinkeln gesehen, teils in Interview-Aussagen von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Klasse vorgetragen. In Begleitsequenzen wurde einerseits die soziale, dann die freie Marktwirtschaft gelobt. Der Kapitalismus, der von Menschen gemacht werde, sei folglich sehr menschlich, erfuhr ich. Auch vernahm ich, dass Deutschland zwar sachlich gesehen ein Land, aber doch geteilt sei – in Ost und West, mit entsprechend bekannten Vor- und Nachteilen, was die Herkunft, den Standort, die Klassenzugehörigkeit und weitere Faktoren anbetrifft. Ironisch bissig wurde auch gesagt: Ostdeutschland stehe für gar nichts – außer für niedrige Löhne. Kapitalismus andererseits halt.
Ein halbes Dutzend Mitbürger legten in der Doku ihre Sichtweisen, ihre Geschichten offen – ehrlich, nah. Das Thema zu ihren Wortmeldungen war: sozialer Aufstieg oder Nichtaufstieg wie Stillstand in Verbindung zu und in Abhängigkeit von ihrer sozialen Herkunft. Beeindruckend berichteten sie, aus unterschiedlichen Milieus (Klassen) kommend, wie sie einerseits mit Armut, Geldnot und Ablehnung in der Gesellschaft konfrontiert waren und andererseits ihre soziale Herkunft (aus besserem Hause) als Türöffner für ihren Werdegang diente und dass dies bis heute so sei. Mir gingen die kurzen Porträts nah: der junge Mann, ein Student, dem beim Anblick seines Kindheitsfotos als ABC-Schütze in schweren Tagen die Tränen kamen; die Autorin, die von einer leeren Urlaubskasse sprach.
Man könne, wie die Autorin Marlen Hobrack dies selbst erlebt hat, „es dennoch schaffen“ in dieser unserer Ellenbogengesellschaft, wurde fatalistisch fast erzählt. Aus der Arbeiterklasse stammend, erlangte sie einen höheren Bildungsabschluss. Sie konnte studieren. Was sie mit dieser Art, „es zu schaffen“, aber nicht meinte, war, dass sie von dem Spruch überzeugt sei, man müsse sich nur genug für den Erfolg anstrengen. Dem sei nicht so, es bräuchte viel mehr, stellte sie ernüchternd fest.
Wie wäre es, wieder etwas Gemeinsames zu entwickeln? Das System taugt dazu nicht
Ich freute mich über die Frage der beeindruckenden Doku-Protagonistin Marlen Hobrack: „Wie wäre es mit einer Idee, wieder etwas Gemeinsames entwickeln zu müssen, eine Gesellschaft, in der nicht die Herkunft die Zukunft bestimmt?“ In ihre Frage packte sie den aktuellen Befund zu unserem längst auseinandergedrifteten Gemeinwesen: dass von gemeinsam gerade keine Rede sein könne und dass es längst an der Zeit sei, die Gesellschaft zum Besseren zu verändern.
Ich interpretierte ihre Aussage, dass sie damit nicht nur die individuellen Chancen meinte, sondern die Gesamtheit, das Miteinander. Eine Aussage eines weiteren Interviewteilnehmers, Scott Wempe, Miteigentümer des Familienunternehmens Wempe, war für mich wie eine Verknüpfung von Gedanken zweier unterschiedlich sozialisierter Mitbürger: Man könne die Probleme, die anstehen, nur lösen, wenn man das nicht nur aus der Perspektive der oberen 3,5 Prozent der Bevölkerung anstellte. Hobrack und Wempe für neue Ideen.
Der junge Unternehmer, wohl Teil dieser „Top 3,5“, legte nüchtern resümierend über den Zustand unserer Gesellschaft, unseres „Systems“ nach:
Das System ist noch immer darauf ausgerichtet, die Macht bei den wenigen zu halten, anstatt sie breiter zu verteilen.
Jeder ist seines Glückes Schmied – von wegen
Eine weitere Interviewteilnehmerin, Dr. Martyna Linartas, Sozialforscherin, verwies in ihrer Gesellschaftsbetrachtung und Kritik auf einen interessanten wie wenig schmeichelhaften Vergleich: In Deutschland dauere es einer Studie zufolge sechs Generationen, um von Armut in die Mittelschicht aufzusteigen; in Dänemark ginge das innerhalb von zwei Generationen.
Drastisch brachte Autorin und Hauptprotagonistin Marlen Hobrack das Dilemma mit dem Aufstieg / Nichtaufstieg auf den Punkt, wenig schmeichelhaft für unsere ach so gerechte, demokratische Bundesrepublik:
„Herkunft klebt wie Scheiße am Schuh”, sagt Marlen Hobrack, aufgewachsen als Arbeiterkind in Bautzen.
(Quelle: ardmediathek.de)
Der märchenhafte Spruch „Jeder ist seines Glückes Schmied“ erfuhr in der Doku eine deutliche Abfuhr. Sozialforscherin Linartas monierte, dass die soziale Mobilität vieler Menschen extrem niedrig sei. Das „Glück“ komme sehr stark auf die Herkunft, auf die Verbindungen, auf die Einkünfte, auf die Bildungsabschlüsse an, um wirklich sozial mobil zu sein. Für mich ergab sich die Feststellung: Mobil sein heißt, teilzuhaben an der Gesellschaft, mitgestalten können, Einfluss, Macht haben. Mir fiel Wempe wieder ein: die Macht in den Händen weniger zu halten …
Neben der MDR-TV-Dokumentation wurde ich noch auf ein Interview mit Marlen Hobrack für den Rundfunksender MDR-Kultur aufmerksam. Auch hier äußerte Hobrack Zweifel an dem Aufstiegsversprechen in Verbindung mit Leistung unabhängig von der Herkunft und den zur Verfügung stehenden Mitteln. In ihren Worten hatte Hobrack die Begründung für den Verschluss unserer Gesellschaft parat: weil unsere Gesellschaft eine Klassengesellschaft ist. Klassengesellschaft meint, dass es „bessere“ und „schlechtere“ Klassen gibt, besser Gestellte, schlechter Gestellte. Mehr oder weniger Macht, oder gleich gar keine Macht:
„Tatsächlich glaube ich, dass Herkunft gerade dann, wenn man vielleicht aus der Arbeiterklasse stammt oder aus einer weniger privilegierten Klasse, einen anderen Blick auf Gesellschaft insgesamt und auch auf Aufstiegserzählungen ermöglicht. Weil man eben sieht, dass diese einfache Idee von “Streng dich an, dann wirst du es schaffen” doch nicht für alle funktioniert. Menschen strengen sich ja an, und trotzdem klappt es irgendwie nicht so mit dem Aufstieg.“
(Quelle: MDR)
Die Doku regte zum Nachdenken an – über Arbeiter und Kapitalisten
Die MDR-Doku „Das falsche Versprechen …“ beeindruckte mich, regte zum Nachdenken an. Mir ist noch in Erinnerung, dass vor einigen Jahren noch intensiv und konstant lobend über unser Land gesprochen wurde. Deutschland sei ein Land, in dem die soziale Marktwirtschaft zu Hause sei, in der es eine Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gäbe, in der die Demokratie das Maß aller Dinge sei und wir von einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung sprächen – Wohlstand inklusive.
Mit den Jahren bis in die heutigen Zeiten hinein wurde dann der Ton rauer, aus der sozialen wurde eine freie, neoliberale Marktwirtschaft. Der Markt richtet alles und so weiter. Das Wort „Kapitalismus“ nahm man früher sehr wenig in den Mund. Jetzt ist es wieder in aller Munde, und auch das Wort „Klassengesellschaft“ ist kein Tabu mehr. Was mit den Klassen und dem so unausweichlichen Klassenkampf folgt ist: Kapitalist / Unternehmer versus Arbeiter.
Früher wurde der Bürger eingelullt, die Begriffe weichgespült: Arbeitgeber, Arbeitnehmer hieß das. Beide waren Partner, vereint und am gleichen Strang ziehend für möglichst hohe Umsätze (Gewinne) als Sozialpartnerschaft, flankiert von friedlichen, fairen Tarifvereinbarungen. In einem NachDenkSeiten-Beitrag über einen Arbeitskampf im Groß- und Einzelhandel habe ich geschrieben, dass es mit der dortigen Partnerschaft nicht so gut bestellt war:
Ja, wenn die Arbeitnehmerseite sich nur nicht so hätte. Bei den Arbeitgebern ist es wie immer: Beim Verteilen der Erlöse (die von den Arbeitnehmern erwirtschaftet werden) geben sich die millionen- bis milliardenschweren Arbeitgeber gegenüber ihrer Belegschaft knausrig. Die Zeiten seien halt nicht einfach, Pandemie, Krieg, Kosten, ja, Kosten über Kosten, tönt die bekannte alte Leier. Maßhalten sei angesagt. Also bei den Arbeitnehmern, die ihre Arbeit geben, den Arbeitgebern, die sie nehmen, also in Wahrheit Arbeitnehmer sind. Ironie aus.
Falsche Versprechen werden flankiert von falschen Begriffen
So sieht es in Wirklichkeit aus: Arbeitnehmer ist Arbeitgeber. Arbeitgeber ist Arbeitnehmer. Ich kam nach der MDR-Dokumentation für mich zu dem Schluss, dass es sich nicht nur um ein falsches Versprechen handelt, wenn gesagt wird, jeder kann es schaffen. Was gibt es eigentlich zu schaffen? Auch die Begriffe, die unsere Positionen, unseren jeweiligen Stellenwert definieren sollen, sind in unserer Gesellschaft falsch gesetzt. Doch es wird mächtig und interessiert daran festgehalten. Oben und Unten gilt so, als wäre es ein Naturgesetz. Und der Köder ist ausgelegt, die Behauptung, diese Grenze überwinden zu können. Warum aber muss man als Bürger in unserer Gesellschaft der freien demokratischen Grundordnung entweder unten oder mittendrin oder oben leben? Jedes Kind weiß unter jetzigen Umständen und Fixierungen: Unten ist Mist. Oben ist fein. Was steht dazu im Grundgesetz? Die Würde des Menschen ist unantastbar. Doch mit Unten und Oben, mit der Ungleichbehandlung, mit der Behinderung sozialer Mobilität usw. wird diese Würde jeden Tag systematisch angetastet. In einem anderen Beitrag auf den NachDenkSeiten schrieb ich, dass Deutschland ein Land sein könnte, in dem es kein Oben und Unten, keine Sieger und Verlierer geben sollte. Wäre dem so, bräuchte es gar kein Aufstiegsversprechen, bräuchte es keine Ellenbogen, welch Gedanke der Freiheit.
Einmal Kanzler, Kaiser oder König
Was will ich damit erzählen? Beim Lesen meiner eigenen Zeilen hier stoße ich auf die Metapher der Macht, die in Wahrheit nur einen Wunsch vieler Menschen zum Ausdruck bringt: einmal Chef von Deutschland sein, Kanzler, Kaiser oder König (m/w/d). Was würde man machen, wäre man Kanzler oder König? Gute Chefs schmeißen zumindest im Märchen ihren Laden recht gut. Im wahren Leben aber? Wie hätte ich mich gefreut, wenn Angela Merkel unser Land kraftvoll wie behutsam geführt hätte, vielleicht so im teils progressiven Geiste der Gründerväter, im Geist der sozialen Marktwirtschaft, nach den Texten des Grundgesetzes. Was wäre das gewesen, wenn sie, die Ostdeutsche, darauf gepocht hätte: „Wir machen das jetzt mal klar, ja, mit der gemeinsamen, neuen Verfassung“? Was wäre das gewesen, wenn Merkel die vielen eingebrachten Gesetzesinitiativen in den Parlamenten, die eine gerechte Gesellschaft befördern, aktiv und stoisch begleitet und unterstützt hätte? Bezahlbares Leben schaffend, das Gemeinwesen fördernd, das öffentliche Leben; nicht das Geld als Mittel, die Welt zu regieren, sondern das Geld in allen Bereichen des Lebens als Türöffner verwendend. Und ja, es gibt auch Lösungen, dass dem, der den Türöffner „Geld“ nicht oder wenig besitzt, die Tür dennoch geöffnet wird. Merkel hat in keiner Rede gesagt, das behaupte ich, dass sie für ein Deutschland sorgt, in dem es keine Verlierer gibt, kein Oben und Unten.
Wortfetzen aus der Doku
Eindringlich war diese Doku des MDR für mich, einige Wortfetzen sind mir noch im Sinn:
- Arbeite hart, streng Dich an – dann wirst Du es zu etwas bringen.
- Ich lache laut los, es hat mit der Realität null zu tun: Deutschland ist alles andere als eine Fahrstuhlgesellschaft.
- Was ist das noch für eine Demokratie, in der es darauf ankommt, in welche Familie man hineingeboren wird?
- Jeder Mensch sollte sein Potenzial entfalten können, die Herkunft sollte keine Rolle spielen.
- In der Politik braucht man Menschen mit Weitsicht, nicht Leute, die von Wahl zu Wahl agieren.
- Fehlender Zugang zu Netzwerken – fehlende Chancen zur Mitwirkung.
- Ran an die Strukturen – wenn Du mal in verantwortungsvoller Position bist, schaffe Chancen für andere und verändere die Strukturen.
- Wir sind eine Erbengesellschaft. Oben. Unten. Die Vermögen werden immer größer, die Löhne halten nicht Schritt – das ist eine rein mathematische Sache.
- Bildungsungerechtigkeit: Wir gucken zu wenig auf die strukturellen Aspekte, dass Schule eben nicht nur ein Spiegel der Klassengesellschaft ist, sondern sie auch reproduziert.
Titelbild: Screenshot MDR