Das dritte verlorene Jahr
Heiner Flassbeck, Das dritte verlorene Jahr, Wirtschaft und Markt, 12/03
Aller guten Dinge sind drei, sagt der Volksmund. Wenn das auch für schlechte Dinge gälte, könnte die Wirtschaftspolitik Hoffnung schöpfen. Und in der Tat, nach den drei schlechtesten Jahren der Nachkriegsgeschichte spricht jetzt jeder vom Aufschwung. Sogar die professionellen Prognostiker haben sich nach zwei glatten Aufschwung-Fehlprognosen für 2004 erneut entschlossen, ein Aufschwungszenario zu verkaufen, wenn auch ein nicht sehr mutiges. Was leider nach drei Jahren noch immer fehlt, ist eine rigorose Analyse der Frage, woher der Aufschwung denn diesmal kommen soll. Was hat sich heute im Vergleich zu 2001 und 2002 fundamental geändert?
Manche verweisen auf den amerikanischen Aufschwung. Die USA seien 2004 wieder die Lokomotive für die Weltwirtschaft und Deutschland werde davon profitieren. Dieses Argument verkennt, daß die USA es sich heute weniger denn je leisten können, diese Rolle zu übernehmen. Ein überbordendes Leistungsbilanzdefizit und rasant steigende Haushaltsdefizite werden die Blütenträume von einer neuen amerikanischen Lösung des globalen Problems rasch welken lassen. Das einzige was Deutschland und Europa mit ihrem Warten auf die amerikanische Lokomotive provozieren können, ist eine noch rasantere Talfahrt des Dollar-Kurses und damit die endgültige Abkoppelung von der US-Wirtschaft.
Die deutsche Politik setzt darauf, daß die durchgreifenden Reformen am Arbeitsmarkt wirken und die Beschäftigung erhöhen werden. Insbesondere setzt man darauf, daß viele der 4,5 Millionen Arbeitslosen wieder eine Arbeit annehmen oder gar aktiv suchen, wenn die Bedingungen zum Bezug von Arbeitslosengeld und die Leistungen der Arbeitslosenhilfe drastisch verschlechtert werden. Doch wie soll dadurch das Wachstum erhöht werden?
Seit drei Jahren sinkt die Zahl der von der Wirtschaft angebotenen und von der Bundesanstalt für Arbeit registrierten offenen Stellen unaufhaltsam. Im April 2001 waren noch gut 500 000 offene Stellen gemeldet. Im Oktober 2003, also nach zweieinhalb Jahren Stagnation, zählten die Statistiker gerade noch 330 000 Angebote der Unternehmen. Soll man ernsthaft glauben, die unter Druck gesetzten Arbeitslosen könnten auf wundersame Weise die Nachfrage der Unternehmen nach Arbeitskräften erhöhen, selbst wenn der ein oder andere seine Dienste zu einem sehr niedrigen Preis anbietet. Wer kann ausschließen, daß die Unternehmen bei stagnierender oder sinkender Nachfrage dann nicht wieder das alte Spiel spielen, das sie von den Mini-Jobs schon so gut kennen, nämlich lediglich normal bezahlte sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze durch Billigvarianten zu ersetzen.
Letzter Hoffnungsschimmer der halbwegs realistischen Beobachter ist die vorgezogene Steuerreform, die zum ersten Januar 2004 in Kraft treten soll. Wird nicht durch die massive Senkung des Spitzensteuersatzes die Leistung in Deutschland endlich wieder belohnt? Wird nicht durch den Verzicht des Staates auf Einnahmen Kaufkraft bei allen Bürgern frei, die die Konjunktur belebt? Ersteres war schon bei früheren Steuersenkungen gehofft und beschworen worden. Was wurde nicht alles ins Feld geführt, um den Staat zur nächsten Jahrhundertreform beim Steuersystem zu bewegen. Nichts davon ist eingetreten und die gerade in Gang kommende Diskussion über die nächste Jahrhundertreform, bei der der Spitzensteuersatz noch viel weiter sinken soll, wird niemanden davon überzeugen, gerade jetzt zu investieren.
Auf noch schwächeren Beinen steht das zweite Argument. Die Kaufkraft der Bürger wird im nächsten Jahr an so vielen Stellen vom Staat eingeschränkt, daß eine Nettoentlastung in den Sternen steht. Selbst die offizielle Entscheidung, ob wenigstens ein Teil der Steuerentlastung über Kreditaufnahme finanziert wird, steht noch aus. Doch auch wenn man sich dazu durchringen sollte: Der gesamte Staatshaushalt ist so sehr auf Sparen gestrickt, daß Nettoimpulse vom Staat nicht zu erwarten sind. Die Forschungsinstitute unterstellen in ihrem Herbstgutachten trotz Steuerentlastung eine insgesamt restriktive Wirkung der Finanzpolitik.
Schließlich, und das ist das Wichtigste, selbst unter sehr optimistischen Annahmen hinsichtlich der Beschäftigungsentwicklung, wird das real verfügbare Einkommen der privaten Haushalte auch im kommenden Jahr kaum zunehmen. Es ist im Grunde ganz einfach: In einer Gesellschaft, in der die bloße Forderung der IG Metall nach einer nominalen Lohnerhöhung von 4 Prozent einen Sturm der Entrüstung auslöst und wo an allen Ecken und Enden ernsthaft über Lohnsenkung geredet wird, kann es keinen Aufschwung geben.
Kräftige Aufschwünge gab es früher nach kurzen Einbrüchen in der Wirtschaftstätigkeit immer nur deshalb so prompt, weil die privaten Haushalte ein gewisses Grundvertrauen hinsichtlich der Tatsache hatten, daß ihre realen Einkommen kurz- und langfristig ordentlich steigen werden. Wenn in einer solchen Ausgangssituation der Staat oder das Ausland ein kleine zusätzliche Anregung gab, genügte das, um einen Aufschwung in Gang zu setzen. Ein solcher Impuls verstärkte die ohnehin vorhandene Nachfragedynamik beim privaten Verbrauch, dem mit Abstand wichtigsten Nachfrageaggregat.
Mit mehr oder weniger stagnierenden Einkommen und einer von der Politik bei jeder Gelegenheit verkündeten Notwendigkeit, für die alternde Gesellschaft anzusparen, werden die privaten Haushalte auch im nächsten Jahr, der schieren Not gehorchend, mit ihren Einkäufen sehr zurückhaltend sein. Unternehmen aber, die nicht mehr umsetzen, stellen auch dann keine Leute ein, wenn man ihnen die Wurst eines total reduzierten Sozialsystems oder eine noch einmal sinkende Steuerlast vor die Nase hält.
© Wirtschaft und Markt