Zurück zum Atom? Energiepolitische Tagträumereien im Wahlkampf

Zurück zum Atom? Energiepolitische Tagträumereien im Wahlkampf

Zurück zum Atom? Energiepolitische Tagträumereien im Wahlkampf

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Union und FDP fordern im Wahlkampf die „Option“ zur Rückkehr zur Kernkraft. Die AfD fordert gar deren Ausbau. Auf den ersten Blick mag das sogar verführerisch klingen, da die Befürworter mit einer Rückkehr zur Kernenergie dem Volk die Quadratur des Kreises und das Blaue vom Himmel versprechen – Klimaschutz bei stabiler Versorgung und sinkenden Energiepreisen. Dabei wird der Eindruck erweckt, die Welt befinde sich in einer „nuklearen Renaissance“ und nur das ideologisch verbohrte Deutschland habe mal wieder den Schuss nicht gehört. Bei näherer Betrachtung zerplatzen diese Tagträumereien jedoch wie Seifenblasen. Man kann vortrefflich darüber streiten, ob der Ausstieg aus der Kernenergie ein Fehler war; nun ist er jedoch vollzogen und irreversibel. Der Bau neuer Atomkraftwerke ist hingegen keine sinnvolle Option und vor allem eins – sehr, sehr teuer. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

„Ich denke, dass es richtig ist, den Anteil der Kernenergie in Deutschland deutlich zu erhöhen. Das wäre großartig“, schwärmte Alice Weidel im Gespräch mit Elon Musk. Auch in ihrem Wahlprogramm lässt die AfD keinen Zweifel daran, dass ihre energiepolitische Strategie vor allem auf dem „Ausbau der Kernenergie“ fußt. Die CDU ist da etwas zurückhaltender. Von neuen Reaktoren will man dort nichts wissen, allenfalls die Wiederinbetriebnahme der bereits abgeschalteten Reaktoren ist dort ein Thema, bei dem der Parteivorsitzende Friedrich Merz, der dies für „unwahrscheinlich“ hält, und sein Vize Jens Spahn, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit dafür stark macht, als „guter und böser Bulle“ sowohl die Wählerschichten abholen wollen, die für als auch die gegen eine Rückkehr zum Atomstrom sind. Einen opportunistisch schmalen Fuß macht sich auch einmal mehr die FDP, die diese Frage ganz lapidar dem Markt überlassen will. Wahlkampfstrategisch ist dies übrigens recht clever, da man so Atombefürworter unter den potentiellen Wählern nicht verschreckt und gleichzeitig ganz genau weiß, dass „der Markt“ gar kein Interesse an einer Rückkehr zur Kernenergie hat.

Um in das Thema einzusteigen, lohnt sich ein Blick auf die weltweiten Entwicklungen. Hier haben Schlagzeilen über europäische und weltweite Pläne zum Ausbau der Kernenergie im vergangenen Jahr den Eindruck erweckt, als setzten alle Länder außer Deutschland auf neue Kernkraftwerke. Das Gegenteil ist jedoch der Fall.

Im vergangenen Jahr gingen weltweit sieben neue Reaktoren ans Netz, während vier Reaktoren stillgelegt wurden. 2023 wurden genauso viele Reaktoren in Betrieb genommen wie abgeschaltet. Blickt man auf installierte Leistung, so haben die in Betrieb befindlichen Kernkraftwerkskapazitäten immerhin um 4,3 GW zugenommen. Ist das nicht der Beweis für eine Renaissance? Nicht wirklich, da man diese Zahlen in den Kontext stellen muss. Allein in den ersten neun Monaten des letzten Jahres hat China 161 GW an Solarkapazität zugebaut, und in den USA wurden im Laufe des Jahres 2024 etwa 40 GW an neuer Solarkapazität ans Netz angeschlossen. Und selbst in Deutschland wurden 2024 16 GW Solarkapazität neu installiert – viermal so viel wie der weltweite Nettokapazitätszuwachs bei der Kernenergie.

Von einer Renaissance kann ohnehin nicht die Rede sein, wenn man sich einmal vor Augen hält, dass weltweit gerade einmal 61 Kernkraftwerke im Bau sind, wobei sich die Bauprojekte teils über Jahrzehnte hinstrecken. Lässt man chinesische und russische Projekte heraus, bleiben gerade einmal elf Bauprojekte übrig, davon lediglich zwei europäische in Frankreich und in Großbritannien. Sicher, zahlreiche andere Staaten – auch europäische – haben angekündigt, sich konkrete Ideen über zusätzliche eigene Kernkraftwerke zu machen. Ob diese Ideen jedoch jemals umgesetzt werden, steht auf einem ganz anderen Blatt. Die Geschichte der wenigen europäischen Neubauprojekte ist nämlich vor allem eins – abschreckend.

Fallbeispiel Hinkley Point/Großbritannien

Wer sich Illusionen über bezahlbare Energiekosten durch neue Kernkraftwerke macht, dem sei ein Blick auf das in Bau befindliche britische AKW Hinkley Point empfohlen. Seit 2010 liefen die Planungen, 2012 gab die britische Regierung die nötigen Genehmigungen. Was noch fehlte, war ein Unternehmen, das das Kraftwerk überhaupt bauen wollte. Mit viel Tamtam unterzeichnete der damalige Premier David Cameron mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping 2015 dann einen Vertrag, der zum Inhalt hatte, dass ein französisch-chinesisches Konsortium auf dem Gelände des stillgelegten AKWs Hinkley Point bis zum Jahr 2023 einen neuen Block fertigstellen sollte. Diese ungewöhnliche britisch-französisch-chinesische Zusammenarbeit war nur möglich, weil David Cameron dem Betreiber vertraglich eine Einspeisevergütung mit Inflationsausgleich zusicherte – nach jetzigem Stand wären dies übrigens 14,7 Cent pro Kilowattstunde. Zum Vergleich: Das ist mehr als doppelt so viel wie die Gestehungskosten bei Wind und Photovoltaik und sogar mehr als bei den als besonders teuer geltenden Gaskraftwerken. Zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses lag diese Einspeisevergütung doppelt so hoch wie der durchschnittliche britische Strompreis.

Doch wer nun denkt, dies sei ein großzügiges Geschenk der britischen Regierung an die Betreiber gewesen, der täuscht sich gewaltig. Als die Verträge 2015 unterschrieben wurden, kalkulierte das französisch-chinesische Bau- und Betreiberkonsortium mit Kosten in Höhe von 21,3 Mrd. Euro. Doch Jahr für Jahr verteuerte sich das Projekt und aktuell spricht der Projektbetreiber EDF bereits von 56,7 Mrd. Euro.

Natürlich ist Hinkley Point auch nicht 2023 ans Netz gegangen. Derzeit geht man bei „optimalen Bedingungen“ von einer Inbetriebnahme im Jahr 2031 aus. Der chinesische Projektpartner ist übrigens das Staatsunternehmen CGN und ist fein raus, da man seine Beteiligung in Höhe von 7,1 Mrd. Euro in den Verträgen festgeschrieben hat und nur der französische Partner EDF und der britische Staat nachschusspflichtig sind, wenn die Kosten steigen. EDF musste – auch wegen Hinkley Point, aber auch wegen gigantischer Verluste bei den französischen AKWs – 2022 verstaatlicht werden. Allein im letzten Jahr schrieb der Konzern atemberaubende 12,9 Mrd. Euro für das Projekt Hinkley Point als Verlust ab. Diese Verluste trägt am Ende der französische Steuerzahler. Geht Hinkley Point irgendwann im nächsten Jahrzehnt ans Netz, ist auch der britische Steuerzahler gefragt, da er dann ja die Einspeisevergütung finanzieren muss. Der britische Rechnungshof geht dabei von Gesamtkosten für den Steuerzahler in Höhe von 199,7 Mrd. britischen Pfund, also rund 240 Mrd. Euro, aus – eine Summe, bei der einem ganz schwindlig wird. Weitere Neubauprojekte in Großbritannien wurden zwischenzeitlich ersatzlos von den Betreiberfirmen gestrichen.

Fallbeispiel Flamanville/Frankreich

Schwindelerregend waren und sind auch die Kosten des einzigen Atomkraftwerks, das Frankreich in den letzten beiden Jahrzehnten gebaut hat – dem Block 3 des AKW Flamanville. 2007 begann man mit dem Bau und bereits 2012 sollte Flamanville-3 ans Netz gehen und das bei „überschaubaren“ Baukosten in Höhe von 3,3 Mrd. Euro. Im letzten Jahr wurde der Block dann mit 12 Jahren Verspätung endlich in Betrieb genommen und ab diesem Sommer soll Flamanville-3 auch kommerziell Strom einspeisen. Aus den ursprünglich geplanten 3,3 Mrd. Euro Baukosten wurde aber ebenfalls nichts. Ein Bericht des französischen Rechnungshofs weist die endgültigen Baukosten mit 23,7 Mrd. Euro – also dem Achtfachen – aus.

Bauherr, Betreiber und Eigentümer ist auch hier der französische Staatskonzern EDF, die Verluste trägt also auch in diesem Fall voll der französische Steuerzahler. Die letzte Prognose von EDF war es, dass Flamanville-3 Strom für 12 Cent pro Kilowattstunde produzieren wird – zu diesem Zeitpunkt ging man jedoch auch nur von halb so hohen Baukosten aus. Am Ende dürfte der Atomstrom aus Flamanville-3 mit einer der am teuersten der ganzen Welt sein.

Fallbeispiel Olkiluoto/Finnland

Chinesen, Briten und Franzosen – aber wie sieht es mit den Deutschen aus? Das letzte westdeutsche Kraftwerk, das ans Netz ging, war Neckarwestheim 2, das von 1982 bis 1989 gebaut wurde. Doch deutsche AKW-Ingenieure durften ab 2003 zusammen mit ihren französischen Kollegen in Finnland zeigen, was sie können … oder auch nicht. 2005 war Spatenstich, bereits 2009 sollte das vom deutsch-französischen Areva-Siemens-Konsortium gebaute AKW Olkiluoto 3 ans Netz gehen und die Baukosten wurden damals mit drei Milliarden Euro beziffert. Am Ende ging das finnische AKW nicht nach vier, sondern nach 18 Jahren Bauzeit 2023 ans Netz. Die Baukosten sind dabei von drei auf elf Mrd. Euro gestiegen. Areva musste aufgrund der Verluste von der damals halbstaatlichen EDF übernommen werden, die später wegen horrender Verluste komplett verstaatlicht wurde. Siemens hat seine Kernenergiesparte mittlerweile eingestellt.

Fallbeispiel Vogtle/USA

Und wie sieht es in den USA aus? Auch Donald Trump schwärmt ja immer gerne von der Kernenergie. Die Zahlen sind jedoch ebenfalls verheerend. In den letzten beiden Jahrzehnten wurden in den USA gerade einmal drei neue Reaktoren in Betrieb genommen. Das AKW Watts Bar 2, das nicht nach ökonomischen Gesichtspunkten gebaut wurde, sondern weil die USA Tritium für ihre Atomwaffen benötigen, steht hier außen vor. Bleiben die Blöcke 3 und 4 des AKW Vogtle, die beide 2024 mit achtjähriger Verspätung in Betrieb gingen. Ursprünglich sollten die beiden Reaktoren 14 Mrd. US-Dollar kosten, am Ende waren es 37 Mrd. US-Dollar. Die Stromkosten für den Atomstrom aus den beiden neuen Vogtle-Reaktoren liegen bei 16,8 Cent pro Kilowattstunde und damit viermal so hoch wie bei Strom aus regenerativen Energien.

Der Bau von Vogtle 3 und 4 und der parallel stattfindende Bau zweier Reaktoren am AKW Virgil C. Summer brachen schließlich dem US-Kernkraftwerksbauer Westinghouse das Genick. 2017 beantragte das Unternehmen, das während des gesamten Kalten Krieges der größte Hersteller von Kernkraftwerken in der westlichen Welt war, Gläubigerschutz. Später wurde das Unternehmen von einem kanadischen Investor übernommen und mit dem kanadischen Urankonzern Cameco verschmolzen. In den USA gibt es derzeit kein einziges Neubauprojekt. Das Projekt Virgil C. Summer wurde ersatzlos abgebrochen, als die Mehrkosten sich ins Unendliche bewegten.

Mythos preiswerter Atomstrom

Die Beispiele belegen gleich mehrere Punkte, die Befürwortern eines Ausbaus der Kernenergie gar nicht gefallen dürften:

  • Exorbitante Baukosten: Dass die alten deutschen Kernkraftwerke Strom zu marktfähigen Kosten produzieren konnten, liegt daran, dass sie größtenteils vor mehr als 40 oder gar 50 Jahren gebaut wurden und die Baukosten damals viel geringer waren. Bei einem kommerziellen Großkraftwerk sind die Baukosten der wichtigste Kostenfaktor, der sich gestaffelt über den erzeugten Strom während der gesamten Betriebszeit refinanziert. Baukosten im zweistelligen Milliardenbereich fließen so in die Stromkosten mit ein.
  • Hohe Stomgestehungskosten: Dass Atomstrom „unschlagbar billig“ ist, wie es beispielsweise Steffen Korté, der energiepolitische Sprecher der AfD-Bundestagfraktion formuliert, ist ein Mythos, der (s.o.) wenn überhaupt nur für alte AKWs gilt, die bereits abgeschrieben sind. Die vier genannten Beispiele zeigen, dass neue AKWs Strom erzeugen, der nicht nur um ein Vielfaches teurer ist als Strom aus regenerativen Energien, sondern sogar deutlich teurer als der Strom aus Gaskraftwerken ist, die bei der deutschen Energiewende die Aufgabe der Reservekapazitäten erfüllen sollen.
  • Lange Bauzeiten: Die Beispiele zeigen auch, dass die projektierten Bauzeiten nie eingehalten, sondern zum Teil um mehr als 10 Jahre überschritten werden. Rechnet man die Planungs- und Genehmigungsphase hinzu, kommt man auf über zwanzig Jahre. Für die aktuellen Probleme sind neue AKWs also keine Lösung.
  • Mangel an möglichen Betreibern und Bauunternehmen: Die Beispiele zeigen auch, dass selbst große Unternehmen mit langer Tradition sich beim Bau neuer Kernkraftwerke verheben. Privatwirtschaftliche Unternehmen aus den USA und Europa sind entweder in die Insolvenz gegangen oder wurden verstaatlicht. Auch die Hersteller aus Japan und Südkorea werden von ihren Heimatländern quersubventioniert. Die russische und chinesische Konkurrenz ist vollständig staatseigen und hat für die beiden Staaten auch die strategische Aufgabe, Material für das Kernwaffenarsenal zu produzieren. Die „wahren Kosten“ tragen auch hier die jeweiligen Staaten. Für Deutschland wäre es – Stand heute – gar nicht möglich, ein neues AKW zu bauen, da es kein einziges Unternehmen gibt, das diesen Auftrag ohne milliardenschwere Staatsgarantien und Subventionen übernehmen würde.

Aus Platz- und Zeitgründen habe ich bei der Aufzählung die technischen Probleme und die Störfälle im Betrieb herausgelassen. Bei sämtlichen hier genannten Beispielen gab und gibt es massive Probleme.

Zusammenfassend sollte klar sein, dass der Bau neuer Reaktoren für Deutschland keine Option sein kann und keines der von den Befürwortern genannten Versprechen einhält. Vor allem sollte der Fokus hier auf die Energiekosten fallen. Im deutschen Strommarkt würde Atomstrom aus neuen Kraftwerken auch aufgrund des Merit-Order-Prinzips den gesamten Strom – also auch den preiswerten Strom aus regenerativen Energien – verteuern, da Atomstrom anders als der Strom aus Gaskraftwerken nicht flexibel als Reservekapazität genutzt werden kann, sondern als Grundlaststrom rund um die Uhr ins Netz eingespeist werden muss. AKWs lassen sich halt nicht in Minuten, Stunden oder Tagen mal so einfach hoch- und wieder runterfahren. Würde man trotz Atomstrom den Strompreis deckeln wollen, so wäre dies nur nach britischem Modell über eine Einspeisevergütung oder nach französischem Modell über dauerhafte Subventionen der Verluste der Betreiber möglich. In beiden Fällen muss aber am Ende irgendwer die Kosten übernehmen – seien es die Kunden über eine Umlage oder der Steuerzahler.

Kann man den Atomausstieg rückgängig machen?

Damit sollten Neubauten eigentlich vom Tisch sein. Aber wie sieht es mit einer Wiederinbetriebnahme der abgeschalteten Reaktoren aus? Dazu zunächst einmal ein Blick auf die europäische Ebene. Wenn derzeit so viel von einer „Renaissance“ der Kernenergie die Rede ist und es gleichzeitig keine ernsthaften Neubauprojekte gibt, dann geht es um genau das – Laufzeitverlängerungen. Waren die alten, vorhandenen Kernkraftwerke eigentlich auf Laufzeiten von 30 bis maximal 50 Jahren ausgelegt, so gibt es nun einen politischen Kompromiss auf europäischer Ebene, dass diese Laufzeiten auf 60, 70 oder gar mehr Jahre verlängert werden. In den USA ist gar von 90 Jahren die Rede.

Ökonomisch betrachtet ist dies erstmal nicht dumm, da diese Kraftwerke ja bereits abgeschrieben sind und die damaligen Baukosten bei den Kosten für den nun länger produzierten Strom keine Rolle mehr spielen. Für die Betreiber wäre dies der Hauptgewinn – wenn die ebenfalls gestiegenen Wartungs- und Instandhaltungskosten nicht wären. Die französische EDF kalkuliert hier mit 100 Mrd. Euro für das kommende Jahrzehnt. Rechnet man dies auf die Stromkosten um, ist sogar der Strom aus abgeschriebenen alten AKWs teurer als Strom aus regenerativen Energien.

Hinzu kommen technische Probleme und Probleme mit der Sicherheit. Es hatte schon seinen Grund, dass die Reaktoren ihre Zulassung nur für einen begrenzten Zeitraum bekommen haben. Material wird spröde, mit der Zeit müssen diverse Komponenten erneuert oder ausgetauscht werden. Bei zentralen Elementen wie beispielsweise dem Reaktordruckbehälter ist dies jedoch ohne lange Ausfallzeiten und sehr hohe Kosten gar nicht möglich. Ob die derzeit in Betrieb befindlichen Kraftwerke überhaupt so lange im „Streckbetrieb“ weit über ihre kalkulierte Laufzeit hinaus betrieben werden können, steht also in den Sternen.

Vor allem für die USA mit ihren 94 aktiven Reaktoren und Frankreich mit seinen 57 aktiven Reaktoren könnte dies ein großes Problem werden. In beiden Ländern befindet sich kein einziges neues AKW in Bau, während zahlreiche alte Reaktoren das Ende ihrer Laufzeit schon erreicht haben. Es ist davon auszugehen, dass die Ausfallzeiten dieser alten Reaktoren in den nächsten Jahren zunehmen werden und einige Reaktoren sogar aus Sicherheitsgründen ganz vom Netz genommen werden müssen.

In Deutschland stellt sich die Frage einer Wiederinbetriebnahme aber ohnehin nicht. Sämtliche stillgelegte Kraftwerke befinden sich derzeit im Rückbau. Natürlich könnte man theoretisch den Rückbau stoppen und mit teils großem finanziellen Aufwand die Kraftwerke wieder betriebsfähig machen. Ob dies jedoch auch praktisch möglich ist, ist ungewiss und – wie Friedrich Merz es formuliert – „eher unwahrscheinlich“. Die Firmen, die einst die deutschen AKWs und ihre Komponenten gebaut haben, existieren zum größten Teil gar nicht mehr. Neue Brennelemente gibt es nicht, die dafür nötige Infrastruktur ist nicht mehr vorhanden. Umspannwerke wurden ebenfalls bereits demontiert. Und last but not least – das für den Betrieb nötige Personal ist teils bereits in Rente oder nach einer Umschulung in anderen Branchen tätig. Lehrstühle und Ausbildungskapazitäten gibt es nicht mehr. Es ist also auch nicht möglich, in überschaubarer Zeit neues Personal auszubilden.

Deutschland ist aus der Atomkraft ausgestiegen und ist dabei vorgegangen wie Kolumbus, der seine Schiffe verbrannte, als er zum zweiten Mal in die Neue Welt reiste. Ein Zurück war nie vorgesehen und selbst wenn es künftig politische Mehrheiten für eine Wiederinbetriebnahme gäbe, wäre es eine Herkulesaufgabe, dies zu bewerkstelligen. Und wofür? Den Strompreis würde man damit jedenfalls ganz sicher nicht senken, da die nötigen Kosten für diese Herkulesaufgabe ja ebenfalls auf die Kunden oder die Steuerzahler umgelegt werden müssten. Die ehemaligen Betreiber haben klipp und klar erklärt, dass sie überhaupt kein Interesse an dieser Schnapsidee haben und dass sie ökonomisch auch gar keinen Sinn darin sehen.

Gas ist wichtiger als Kernenergie, wenn es um niedrige Strompreise geht

Das Thema Kernenergie polarisiert und offenbar lädt es vor allem die Befürworter auch gerne zum Träumen ein. „Ja, die alten Kraftwerke sind teuer und deren Bau komplex“, heißt es dann, aber es gibt ja neue Technologien. Pustekuchen. Zum einen sind es ja gerade die alten Kraftwerke, die – wenn sie denn mal abgeschrieben sind – tatsächlich Strom zu halbwegs vertretbaren Kosten produzieren können. Neue Technologien wie SMR-Kernkraftwerke (kleine AKWs mit geringer Leistung) können das noch nicht einmal auf dem Papier und sind technisch vollkommen unausgereift. Gleiches gilt für andere Formen der Kernenergie, die immer mal wieder gerne ins Spiel gebracht werden.

Natürlich ist es sinnvoll, hier zu forschen und man sollte die Kernenergie keinesfalls abschreiben. Aber die Debatte um neue Kernkraftwerke sollten wir auch erst dann wieder ernsthaft führen, wenn derlei neue Technologien marktreif sind. Und das ist auf absehbare Zeit nicht der Fall.

Wer also im Wahlkampf preiswerte Energie durch Kernkraft verspricht, verspricht das Blaue vom Himmel. Die Debatte kommt ohnehin zu spät. 2011 war es die CDU, die den Atomausstieg auf den Weg gebracht hat. War das ein Fehler? Darüber kann man diskutieren und sicher war zumindest der überambitionierte Zeitrahmen sicherlich nicht gut durchdacht. Wenn man bedenkt, dass 2011 ohnehin nur vier der 17 deutschen AKWs am Netz waren, ist die ganze Debatte jedoch vielleicht auch überbewertet. Ähnliches gilt für die Entscheidung von Robert Habeck und der Ampel-Regierung, die letzten drei deutschen AKWs wegen der damaligen Energiepreiskrise „nur“ bis April 2023 weiterlaufen zu lassen. Sicher, auch Deutschland hätte den „Streckbetrieb“ noch weiter verlängern können. Ob dies große Auswirkungen auf den Strompreis gehabt hätte, darf jedoch bezweifelt werden, da dieser (s.o.) ja ohnehin über den Merit Order gebildet wird und hier die Gaskraftwerke wegen des massiv gestiegenen Gaspreises der preisbildende Faktor waren.

Dies sollte man auch im Hinterkopf behalten, wenn es um bezahlbaren Strom geht. Wir sollten nicht über Atomkraft, sondern über bezahlbares Gas reden! Deutschland hat die Energiewende beschlossen und ist schon ziemlich weit beim Umbau. Das kann man gut oder schlecht finden, aber man muss es nun mal akzeptieren. Ein Zurück ist nicht möglich. Aber Energiewende und preiswerte Energie schließen sich ja nicht aus. Die Strategie der Energiewende ist es, Überkapazitäten von Solar- und Windstrom aufzubauen, die dann, wenn die Sonne scheint oder der Wind weht, genügend preiswerten Strom liefern. Das klappt sogar jetzt bereits recht ordentlich. Problematisch wird es nur, wenn die Sonne nicht ausreichend scheint und der Wind nicht ausreichend weht. Dann sind die flexiblen Reservekapazitäten gefragt und die Energiewende ist so konstruiert, dass Gaskraftwerke diese Reserve bilden. Und hier kommt das eigentliche Problem: Durch die Sanktionen gegen Russland hat Deutschland sich selbst den Zugriff auf preiswerte Gasimporte verbaut. Solange Gas teuer ist, kann daher Strom – egal wie er produziert wird – nicht auf Dauer bezahlbar werden. Wer von preiswertem Strom spricht, muss daher vor allem von preiswerten Gasimporten sprechen.

Wahlkampf paradox

Das tut übrigens die AfD und sie wäre glaubwürdiger, wenn sie sich darauf fokussieren und das Thema Kernenergie vergessen würde. Und wie sieht es bei den anderen Parteien aus? Einzig das BSW vertritt hier energiepreispolitisch eine konsistente Linie und fordert – wie die AfD – die Wiederaufnahme der Gasliegerungen aus Russland. Bei Thema Kernenergie setzt das BSW auf Forschung, lehnt einen Neubau nach jetzigem Stand der Technik und der zu erwartenden Kosten aber ab.

SPD, Grüne und Linke halten weder etwas von Kernenergie noch von einer Wiederaufnahme der Gaslieferungen aus Russland, würden mit ihrem energiepolitischen Programm die Strompreise also mittelfristig nicht senken. Dafür plädieren diese drei Parteien für einen forcierten Ausbau der Regenerativen, was zumindest einen langfristigen Preiseffekt hätte, da dann die teuren Reservekapazitäten seltener zum Einsatz kommen.

CDU und FDP spielen mit dem Wähler, indem sie sich bzw. dem Markt die „Option“ Kernenergie offenlassen; wohlwissend, dass diese Option ohnehin nicht gezogen wird. Von preiswerten Gasimporten aus Russland halten auch diese beiden Parteien nichts und da sie – anders als die drei „linken“ Parteien – den Ausbau der Regenerativen nicht beschleunigen wollen, würde zumindest das energiepolitische Programm von CDU und FDP mittel- bis langfristig auf die höchsten Energiepreise hinauslaufen. Da ist es schon fast verständlich, dass diese beiden Parteien dem Wähler mit der „Kernkraft“ lieber das Blaue vom Himmel versprechen.

Titelbild: Wirestock Creators/shutterstock.com