Argentinien: Tragödie einer Gesellschaft ohne Staat

Argentinien: Tragödie einer Gesellschaft ohne Staat

Argentinien: Tragödie einer Gesellschaft ohne Staat

Ein Artikel von amerika21

Das brutale Wirtschaftsexperiment, in das Argentinien hineingezogen wurde, führt nicht nur zu einer beschleunigten Verarmung des Großteils der Bevölkerung, auch wenn die gefälschten offiziellen Zahlen uns das Gegenteil glauben machen sollen. Sie zwingt auch viele Unternehmen, nicht nur die kleineren, zur Schließung und lässt die Aktivität in den arbeitsintensivsten Sektoren, wie etwa dem Baugewerbe, stark zurückgehen. Die Regierung Milei will die Bedingungen für die Etablierung eines “Sozialdarwinismus des Marktes” schaffen. Von Atilio Boron.

In ihrem ideologischen Wahn sind der halluzinierende Prophet, der uns regiert, und seine irregeleiteten Berater darauf aus, den Staat zu zerstören. Sie rechtfertigen dieses Verhalten, indem sie sich auf die Ausführungen einiger Ökonomen berufen, die keine Regierung oder Vorstandsvorsitzende der wichtigsten Unternehmen, die vom Staat subventioniert werden, jemals ernsthaft in Betracht gezogen hätten. Steuerbefreiungen und Käufe eines starken öffentlichen Sektors (z.B. Waffen) sind die Garantie für die Superprofite ihrer Unternehmen und ihre phänomenalen Vergütungen, die sich auf Dutzende oder sogar Hunderte von Millionen Dollar pro Jahr belaufen.

Die durchschnittliche Vergütung der Vorstandsvorsitzenden der 500 größten Unternehmen liegt laut Standard and Poor’s bei fast 18 Millionen Dollar pro Jahr, bei einigen Privilegierten jedoch bei fast 200 Millionen. Deshalb lächeln sie herablassend, wenn sie Milei sagen hören, dass er den Staat zerstören wird, eben jenen Staat, der ihnen die außerordentlichen Gewinne ihrer Unternehmen und die sagenhaften Gehälter, mit denen ihre Vorstände entlohnt werden, garantiert.

Der extreme Ideologismus von Mileis Mannschaft ist selbst in einem zu Übertreibungen neigenden Land wie Argentinien ein Novum. „Ich bin der Maulwurf, der den Staat von innen heraus zerstört” gehört zu den Sätzen des Präsidenten, die in die Lehrbücher der Wirtschaftsgeschichte auf die Liste der größten Entgleisungen aufgenommen werden, die jemals von einem Ökonomen und zugleich Staatschef geäußert wurden.

In einem Interview mit der US-amerikanischen Nachrichtenseite The Free Press ging Milei noch weiter ins Detail und sagte wörtlich: „Es ist, als wäre man in die Reihen des Feindes eingeschleust worden. Die Reform des Staates muss von jemandem durchgeführt werden, der den Staat hasst, und ich hasse den Staat so sehr, dass ich bereit bin, alle Arten von Lügen, Verleumdungen und Beleidigungen über mich und meine Lieben, meine Schwester, meine Hunde und meine Eltern, hinzunehmen, um den Staat zu zerstören.”

Ein beunruhigender Satz, denn er offenbart, dass die Wirtschaftspolitik dieses Landes nicht auf einer ruhigen, rationalen Bewertung der Bedingungen beruht, unter denen sich die argentinische Wirtschaft entwickelt, sondern auf einem psychologischen Trauma des gelegentlichen Bewohners der Casa Rosada: seinem unbändigen Hass auf den Staat.

Weder Margaret Thatcher noch Ronald Reagan haben jemals etwas gesagt, das dem, was Milei äußert, auch nur oberflächlich ähnelt. Beide waren konservative Politiker, die die Rolle des Staates ernst nahmen und wussten, dass der Staat ein unverzichtbares Instrument zur Unterstützung des privaten Unternehmertums, zur Förderung des Wirtschaftswachstums und zur Gewährleistung der Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung ist.

Milei hingegen ist ein Erleuchteter, der eine Welt zum Leben erwecken will, die es nie gegeben hat: einen Kapitalismus der freien Märkte, ohne Staaten, die sich mit ihren Vorschriften und gesetzlichen Bestimmungen einmischen. So etwas existiert nur in seiner Vorstellung und der einiger seiner Gefolgsleute. Die Ignoranz, die er in dieser Angelegenheit an den Tag legt, ist verblüffend.

Jemand aus seinem Umfeld sollte den Präsidenten daran erinnern, dass die öffentlichen Ausgaben im Verhältnis zum BIP in den G7-Ländern zwischen 42 Prozent (Japan) und 58 Prozent (Frankreich) liegen.

In Gabun, einem der ärmsten Länder Afrikas, liegt der Anteil bei 23 Prozent, und in Burundi und Südsudan ist er noch niedriger. Dorthin führt uns die Politik von Milei, nicht zu jenen Paradiesen, die wir nach 35 oder 40 Jahren des Durchwatens des trüben “Tals des Übergangs” erreichen würden.

Aber das – der Maulwurf – ist nicht die einzige Phrase, die die intellektuelle und politische Barbarei der derzeit herrschenden Kaste zum Ausdruck bringt.

Der Kreuzritter der Deregulierung Federico Sturzenegger prägte eine weitere Floskel für die Geschichte des Nonsens, als er sagte, dass es „für jedes Bedürfnis einen Markt geben wird”. Ein Satz, der im Licht der Weltwirtschaftsgeschichte absolut falsch ist und den Milei dennoch als „genial” bezeichnete.

Darüber hinaus offenbart diese Aussage eine unverzeihliche Unmoral, indem sie menschliche Bedürfnisse ‒ Gesundheit, Bildung, Unterkunft, Wohlergehen ‒ in Waren verwandelt, die auf einem Markt gehandelt werden können.

Wenn Sturzenegger recht hätte, warum wurde dann in diesem grausamen anarcho-kapitalistischen Argentinien kein Markt geschaffen, um die Dutzenden von Krebstoten mit onkologischen Medikamenten zu versorgen?

Und warum, wenn doch die Regierung die kostenlose Verteilung von Medikamenten drastisch reduziert hat, verschwören sich die pharmazeutischen Labore ‒ die weit davon entfernt sind, auf dem Markt zu konkurrieren ‒, um ihre Preise zu erhöhen, wie Adam Smith in The Wealth of Nations warnte?

Es ist offensichtlich, dass diese theoretischen Extravaganzen nicht ohne Hintergedanken sind. Ich glaube nicht, dass Milei oder Sturzenegger so ignorant sind, dass sie nicht wissen, was in den ersten Klassen eines jeden wirtschaftshistorischen Kurses gelehrt wird.

In Wirklichkeit haben diese pseudotheoretischen Absurditäten die Aufgabe, die doppelte Ausplünderung zu rechtfertigen, die die Kapitalistenklasse an der argentinischen Gesellschaft vornimmt.

Es wäre naiv, anzunehmen, dass wir uns in einer Debatte im Reich der Ideen befinden. Octavio Paz mahnte, es sei notwendig, Ideen ‒ das heißt fein ausgearbeitete intellektuelle Konstruktionen, die sich auf Erfahrungswerte stützen ‒ von bloßen Sprüchen zu unterscheiden, die dem Kopf eines Neubekehrten oder eines Publizisten im Dienste einer undarstellbaren Sache entspringen könnten.

Die Zerstörung des Staates und die Magie der Märkte sind Vorstellungen, die eine Politik rechtfertigen, die das Großkapital begünstigt und die große Mehrheit der Gesellschaft ins Elend und in die soziale Ausgrenzung stürzt.

Der Staat, den Milei genüsslich und verantwortungslos gegen die Realität des entwickelten Kapitalismus zerstört, ist derjenige, der sich einer gerichtlichen Anordnung an das Ministerium für Humankapital widersetzt, die in seinem Besitz befindlichen Lebensmittel an Suppenküchen und Sozialküchen zu liefern.

Grausamkeit angesichts der Geißeln der Armut und äußerste Verantwortungslosigkeit der Regierung, denn dort, wo der Staat sich zurückzieht, zerstört durch den rächenden Maulwurf, scheint der Drogenhandel das anzubieten, was die Behörden beharrlich zurückhalten.

Dieses Phänomen ist bereits an einigen Orten in der Stadt Buenos Aires selbst und im Ballungsraum Buenos Aires spürbar. Das bedeutet, dass sich die soziale Lage dieser Sektoren noch mehr verschlechtert, weil sie nicht nur die Armut bekämpfen, sondern auch die Drogenhändler vertreiben müssen.

Äußerungen wie die oben erwähnten sind Alibis, die den entschieden volksfeindlichen, ja sogar rassistischen Charakter des Projekts des am stärksten konzentrierten Kapitals in diesem Land und seiner ausländischen Partner verschleiern sollen, dass die Regierung von La Libertad Avanza in Gang gesetzt hat.

Es sind perfide Slogans eines Kulturkampfes, der darauf abzielt, die Bedingungen für die Etablierung eines “Sozialdarwinismus des Marktes” zu schaffen, der das Überleben des Stärkeren und die Knechtung der Armen und Schwachen vorsieht. Medien und soziale Netzwerke, die vom Großkapital und seinen Vertretern in der Regierung verwaltet werden, entschärfen sie ideologisch.

Die Gewinner des ungleichen Kampfes, der geführt wird, wenn der Staat auf seine Schlichterfunktion verzichtet, sind niemals die Besten, die Anständigsten, die Patriotischsten und Vernünftigsten. Es sind vielmehr diejenigen, die bereit sind, jedes Verbrechen zu begehen oder sich jeder Straftat schuldig zu machen, um „ihre Taschen zu füllen”. Genau das strebt das System von Milei nach eigenem Bekunden an.

Übersetzung: Vilma Guzmán, Amerika21.

Titelbild: Mit KI generiertes Symbolbild (mit GROK)