Elbelistig oder … die im Dunkeln sieht man nicht

Elbelistig oder … die im Dunkeln sieht man nicht

Elbelistig oder … die im Dunkeln sieht man nicht

Ein Artikel von Burkhard Bujotzek

Am 26. März 2009 trat in Deutschland die am 13. Dezember 2006 verabschiedete Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) in Kraft, zu deren Umsetzung Deutschland seither rechtlich verbindlich verpflichtet ist. Bevor Sie jetzt wegklicken, weil Sie vielleicht denken, dieses Thema beträfe Sie nicht, da Sie zu den etwa 85 Prozent nicht behinderten Menschen im Land gehören: Es gibt zwei gute Gründe, warum Sie weiterlesen sollten. Erstens werden Behinderungen in den allermeisten Fällen durch Unfall, Krankheit oder Alter im Laufe des Lebens erworben. Nur etwa zehn Prozent der Behinderungen bestehen von Geburt an. Von einer Behinderung kann somit jede und jeder direkt oder indirekt getroffen werden. Und zweitens zeigt dieser Artikel beispielhaft auf, wie die Interessen einer eher finanzschwachen Bevölkerungsgruppe von der Politik nachhaltig vernachlässigt werden. Von Burkhard Bujotzek.

Für die konkrete Umsetzung der UN-BRK in Deutschland soll im Bund wie in den Bundesländern jeweils ein Landesaktionsplan (LAP) sorgen. Dieser Plan ging in Hamburg erstmals 2012 an den Start und wurde im Lauf der Jahre mehrmals fortgeschrieben. Wir blicken somit auf zwölf Jahre Umsetzungsplanung in der Hansestadt zurück. Und es ist 15 Jahre her, dass die Behindertenrechtskonvention für Deutschland verbindlich wurde. Zeit genug also und vielleicht höchste Zeit für eine Zwischenbilanz.

Dieser Ansicht dürfte auch die Stiftung „Das raue Haus“ gewesen sein, eine angesehene gemeinnützige Organisation in Norddeutschland, als sie Prof. Siegfried Saerberg von der Evangelischen Hochschule für soziale Arbeit und Diakonie Hamburg beauftragte, eine wissenschaftliche Studie zur Umsetzung der UN-BRK in der Hansestadt zu erstellen. Die Ergebnisse wurden nun am 12. Dezember 2024 in einem über 300 Seiten umfassenden „Schattenbericht“ vorgestellt, der sich im Netz hier abrufen lässt.

Die Studie lief dreieinhalb Jahre lang und umfasst den Untersuchungszeitraum Juli 2022 bis Juni 2024. Wer erwartet hatte, dass der Bericht sich vor allem derjenigen Themen annähme, die bei all den positiven Entwicklungen der letzten Jahre noch verblieben, wer meinte, es gäbe nur noch wenige „Schattenstellen“, die dann im nächsten LAP beherzt anzugehen seien, wurde herb enttäuscht. Der titelgebende Schatten ist vielmehr derjenige, den wir aus der Dreigroschenoper von Bertolt Brecht kennen: „Denn die einen sind im Dunkeln und die anderen sind im Licht. Und man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht“. Gemeint sind hier die Menschen mit Behinderung, die trotz der UN-Behindertenkonvention, trotz deren Überführung in deutsches Recht, trotz des LAP mit all seinen Fortschreibungen und trotz blumiger Worte der Politik nach wie vor im Dunklen stehen. Der „Schattenbericht“ zeigt so nüchtern wie schonungslos auf, wie ein System sich unter der Maskerade der Veränderungsbereitschaft erfolgreich vor echtem Wandel schützt.

Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass der hier gewählte Fokus auf Hamburg sich aus dem Untersuchungsgegenstand des Schattenberichts ergibt. Es besteht jedoch kein Anlass zu vermuten, dass die Hansestadt im Reigen der Bundesländer positiv oder negativ auffallen würde. Ganz getrost kann der Befund in allen wesentlichen Dingen auf Gesamtdeutschland übertragen werden, da zu allen Einzelthemen auch stets weitere Quellen herangezogen wurden, konkret die Stellungnahmen des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMR) als offizieller Monitoring-Stelle für alle Konzepte und Verfahren zur Umsetzung der UN-BRK in Deutschland von 2023 sowie die Ergebnisse des 3. Staatenberichtsverfahrens zur Umsetzung der UN-BRK vom 3. Oktober 2023 durch den in Genf ansässigen UN-Fachausschuss. Beide Berichte kommen zu den gleichen, ernüchternden Beurteilungen.

Gleich zu Beginn erinnert der Schattenbericht an die Worte eines Abteilungsleiters der Sozialbehörde, die als Motto der aktuellen Ausgabe des LAP herhalten könnten: „Bitte am Machbaren orientieren, damit wir alle etwas davon haben“. Mit diesen dürren Worten wird die Vision der UN-BRK von vornherein ins Abseits der Utopie verbannt. Es geht nicht mehr darum, Vorurteile durch neue Erfahrungen zu ersetzen, eingefahrene Strukturen in Frage zu stellen, die Gleichberechtigung eines jeden Menschen als Ausgangspunkt für das Erforderliche zu sehen. Es geht nur noch um „das Machbare“! Nach der Lektüre des Schattenberichts muss man leider davon ausgehen, dass diese Formulierung, gewollt oder unbewusst, die mehrheitliche Haltung der Behördenleitungen widerspiegelt. Und diese steht offensichtlich im Widerspruch zum Credo der UN-BRK.

Die UN verlangt in ihrer Konvention nichts weniger als einen gesellschaftspolitischen Wandel in den Mitgliedsstaaten mit dem Ziel der vollumfänglichen Erlangung der Menschenrechte für Behinderte. Tiefgreifende Veränderungsprozesse brauchen aber nicht nur Zeit, sondern auch den unbedingten Willen des Führungspersonals, hier also der Politik. Sie brauchen Beharrlichkeit, maximale Aufmerksamkeit und die feste Überzeugung von der Sache. Mangelt es der Führung an Entschlossenheit, müssen uns die mageren Ergebnisse nicht verwundern. Dieser Mangel kann durch kein Engagement Einzelner auf operativer Ebene, das zweifelsfrei vorhanden ist, ausgeglichen werden, in keinem Unternehmen, in keiner Behörde, in keinem Gemeinwesen.

Was aber ist denn nun „machbar“ im Sinne das LAP? Damit bei der Antwort auf diese Frage in Hamburg auch nichts schief geht, schloss man die Betroffenen, also Menschen mit Behinderung und deren Vertretungsverbände, aus dem Entscheidungsprozess zur Auswahl der Maßnahmen zum LAP aus. Sie durften zwar ihre über 1.700 ernsthaft erarbeiteten Ideen einbringen, doch welche davon umgesetzt wurden, entschied allein die Obrigkeit. Es entschieden die zuständigen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Hamburger Fachbehörden, die überwiegend nicht behindert sind.

Völlig zu Recht äußert der Schattenbericht an diesem Vorgehen der Freien und Hansestadt Hamburg (FHH) fundamentale Kritik. Die „Fachleute“ der Behörde entscheiden über das „Machbare“, was die betroffenen Bürgerinnen und Bürger dann zur Kenntnis zu nehmen haben. Wie in einem Brennglas wird bei diesem Vorgehen deutlich, dass gesellschaftliche Macht hier eben nicht vom Volke, sondern von der politischen Verwaltung ausgeht bzw. ausgeübt wird. Zumindest gilt dies für Menschen mit Behinderung und andere soziale Gruppen ohne Einfluss auf die Politik.

Aber damit nicht genug. Auch im Prozess der Umsetzung zugelassener Maßnahmen sorgt die LAP-Projektstruktur dafür, dass berechtigte Forderungen eingehegt werden. Nur zehn Prozent der Prozessbeteiligten sind Betroffene! Wozu dies führt, zeigt folgendes Beispiel. Bei der von der Behörde vorgenommenen Clusterung der vorgeschlagenen Maßnahmen wurden die Punkte „Stärkung der Arbeitnehmerrechte von Menschen mit Behinderung“ und „Sensibilisierung von Führungskräften“ thematisch zusammengefasst. Was aber haben Arbeitnehmerrechte, die im Zweifelsfall hart durchsetzbar sind, mit einem wünschenswerten, aber völlig unverbindlichen Verständniszuwachs bei Arbeitgebern gemein? Die Antwort der Behörde auf diese Frage ist entlarvend: „Es besteht eine unternehmerische Freiheit“. Menschen mit Behinderungen sind folglich bei der Durchsetzung ihrer Menschenrechte gemäß UN-BRK nach Auffassung der FHH auf die gönnerhaften Wohltaten der Arbeitgeber angewiesen. Dass der Gesetzgeber entsprechende Gesetze formulieren und die Exekutive diese ggf. durchsetzen könnte, scheint für die Volksvertreter nicht in Betracht zu kommen.

Eine zentrale Forderung der UN-BRK ist die Implementierung von Mitarbeitern in allen Behörden, deren Aufgabe die Beachtung und Umsetzung der Menschenrechte von Behinderten sein soll. Diese „Focal Points“ genannten Ansprechpartner müssen nicht nur finanziell, sondern auch mit Kompetenzen auskömmlich ausgestattet sein, engen Kontakt zu den Vertretungsorganisationen von Behinderten pflegen und sollten selbst auch mit Betroffenen besetzt werden. Laut Schattenbericht wurden in Hamburg die Focal Points aber lediglich auf bestehende Stellen „aufgesattelt“, womit diese unzureichend ausgestattet sind. Anstatt für die spezifischen Aufgaben Menschen mit Behinderung einzustellen, übernehmen somit nicht behinderte Mitarbeiter den Job. Auch hier zeigt sich das strukturelle, wirkungsvolle Ausbremsen der UN-BRK. Erkennbar mangelt es diesbezüglich an echtem Umsetzungswillen in Hamburg und in Deutschland insgesamt.

Dazu kommt, dass die Verantwortlichen laut Schattenbericht auch vor eklatanten Verstößen gegen die UN-BRK nicht zurückschrecken. So sind klar Normenprüfverfahren gefordert, in denen neue ebenso wie auch bestehende Gesetze auf ihre Verträglichkeit mit der UN-BRK überprüft und Abweichungen durch Gesetzesänderungen beseitigt werden müssen. Diesbezüglich ist auch 15 Jahre nach Inkrafttreten der UN-BRK im LAP nichts als eine schwammige Maßnahmenüberschrift zu finden, die bestehende Normen überdies explizit ausklammert.

Der Schattenbericht zählt etliche weitere Aspekte auf, die eine echte Umsetzung der UN-BRK systematisch und weitgehend blockieren. Auf alle kann hier aus Platzgründen leider nicht eingegangen werden. Benannt werden muss aber das zentrale Problem der fehlenden Unterstützung durch die Politik im Bereich der Partizipation von Menschen mit Behinderung an dem durch die UN-BRK intendierten Veränderungsprozess. Vereine und Verbände der Selbstvertretung stützen sich weitgehend auf engagierte Ehrenamtliche. Dieser Einsatz kann nicht hoch genug gelobt werden. Er ersetzt aber keine auskömmliche Interessenvertretung der 240.000 Menschen mit Behinderung in Hamburg bei einem ernsthaft gewollten gesellschaftlichen Wandel. Dieser Gruppe mangelt es schlicht an Geld, sie hat keine Lobby, die auch nur annähernd mit den Interessenvertretern finanzstarker Branchen mithalten kann. Gesellschaftlicher Wandel kann nur durch Partizipation gelingen, Partizipation jedoch braucht mehr fest angestelltes Fachpersonal bei den Interessensvertretungen. Dessen Finanzierung ist ein Prüfstein für die Politik. Es stellt sich hier die Frage, was blumige Worte wert sind.

Zum Themenkomplex Bildung findet sich im Schattenbericht u. a. folgende eindeutige Anmerkung: „Politik und Verwaltung in Hamburg haben ihre Hausaufgaben in Sachen Inklusiver Bildung seit Inkrafttreten der UN-BRK vor 15 Jahren nur mangelhaft erfüllt. Wir empfehlen deswegen dringend Nachhilfe in der menschenrechtsbasierten Umsetzung von Inklusiver Bildung gemäß der UN-BRK“ (Seite 80). In diesem Zusammenhang wird ausdrücklich auf den normativen Charakter von Artikel 24 der UN-BRK für die unterzeichnenden Vertragsstaaten hingewiesen, zu denen Deutschland gehört.

Ein weiteres Problem ist der Bedarf an geeignetem Wohnraum. Viele Menschen mit und ohne Behinderung sind auf bezahlbare Wohnungen angewiesen, der immer grösser werdende Mangel seit vielen Jahren bekannt und wiederholt Gegenstand von schönen Wahlkampfversprechen. Tatsächlich jedoch gab es in Hamburg Mitte der 1980er-Jahre noch über 350.000 Sozialwohnungen, im Jahr 2000 bereits nur noch gut 150.000 und aktuell lediglich etwa 80.000. Im gleichen Zeitraum wuchs die Bevölkerung zudem um etwa 20 Prozent. Im Schattenbericht wird ferner bis 2027 mit dem Verschwinden eines weiteren Viertels von Sozialwohnungen gerechnet.

Von dem aktuellen Bestand gelten nur 15.000 Wohnungen als barrierearm, der Bedarf bis 2035 wird aber laut paritätischem Wohlfahrtsverband auf 70.000 barrierefreie Wohnungen geschätzt („Gut Wohnen und Leben in Hamburg“, Der Paritätische, 2023). Zusammenfassend findet sich im Schattenbericht im Bereich Wohnen folgende Auffassung: „Insgesamt erscheint uns das Maßnahmenpaket des LAP zum Thema Wohnen zu dünn, unverbindlich und künstlich aufgebläht, um Eindruck zu machen“ (Seite 106).

Dank der oben bereits angesprochenen Ignoranz gegenüber dem von der UN-BRK geforderten Normenprüfverfahren lässt Hamburg in seinen Bau- und Baufördervorschriften „weiterhin Barrieren im Neubau zu und grenzt Menschen damit aus. Barrierefreies Bauen wird nach dieser Förderlogik offensichtlich immer noch als Sonderlösung verstanden und steht damit im Widerspruch zu den Zielsetzungen einer zeitgemäßen Baukultur“ („Gut Wohnen und Leben in Hamburg“, Der Paritätische, 2023).

Zu Mobilität und Verkehr resümiert der Schattenbericht: „Der LAP ist ein lauwarmer Tropfen auf dem heißen Stein. Die eigentlichen Probleme, die massiv sind, werden nicht behandelt.“ Und: „Der LAP greift in allem viel zu kurz.“ Am Ende heißt es: „Die Mängel in Hamburg in Sachen inklusiver Mobilität sind derart gravierend, dass wir uns ernsthaft Sorgen um Hamburg und sein internationales Ansehen machen und natürlich um die Unversehrtheit unserer behinderten Freund*innen, die dort leben müssen.“ (Seite 170)

Und in dieser Weise geht es weiter, bei den Themen Gesundheit, Kultur, Barrierefreiheit, Schutz und Unterstützung. Besonders harsch fällt die Kritik im Bereich Arbeit aus. Während die FHH Behindertenwerkstätten, in denen Beschäftigte weit unter Mindestlohn bezahlt werden, immer noch stur als Bestandteil der Teilhabe betrachtet, prangern der UN-Fachausschuss und das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) die Werkstätten seit vielen Jahren als dringend zu überwindende institutionalisierte Form der Ausgrenzung an. Von der Community der Behinderten eingebrachte Ideen zu deren Abbau werden von den „Fachleuten“ der Behörden kalt gelöscht, Ideen zur „Verbesserung der Werkstätten“ unklarer Herkunft aber in den LAP aufgenommen.

Bei der Lektüre des sorgsam und solide zusammengetragenen Schattenberichts ist eine Frage ein steter, ständig lauter werdender Begleiter. Wie ist das möglich? Wie kann es sein, dass die Autoren am Ende zu dem Schluss kommen, dass Deutschland 17 Jahre nach der am 30. März 2007 geleisteten Unterschrift unter der UN-BRK immer noch erst am Anfang steht? Und selbst dies ist unbegründet euphorisch, fehlen doch sämtliche Hinweise auf eine dringend erforderliche „Zeitenwende“ in Sachen Inklusion. Der im Schattenbericht vorgelegte Befund zeigt überdeutlich, dass der Kern der UN-BRK von der Politik in Deutschland nicht akzeptiert wurde. Statt aber dazu zu stehen und das Abkommen zu kündigen oder mit entsprechenden Kampagnen eine gesellschaftliche Debatte zu initiieren, wie übrigens von der UN-BRK gefordert (aber von der Politik weitgehend ignoriert), heißt das Motto: „Wasch mich, aber mach mich nicht nass“. Prof. Saerberg nennt das in Bezug auf Hamburg „elbelistig“. Dieser Neologismus bezieht sich darauf, dass „machbar“ zumindest in der Hansestadt in Wahrheit kostenneutral meint. Zugleich ist er ein Wortspiel, denn „elbelistig“ klingt so wie „ableistisch“, und damit trennt man die Welt in diejenigen, die leisten und jene, die nicht leisten. Dies aber hat mit Menschenrecht nichts zu tun.

Schon lange brauchen wir in unserem Land offene Debatten darüber, wie wir unsere Gesellschaft und Demokratie weiterentwickeln wollen. Wie wollen wir leben?, lautet die Frage, die sich an alle richten muss. Die UN-BRK wäre eine Gelegenheit, solche Debatten anzustoßen. Aber dazu braucht es Mut und Interesse, sich auch für solche Bevölkerungsgruppen kraftvoll einzusetzen. Daran jedoch scheint es den Machteliten zu mangeln – und auch am Verständnis, woher denn bloß der in großen Teilen der Bevölkerung vorhandene Verdruss komme. Ja, woher denn bloß?

Titelbild: rawf8/shutterstock.com

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