Das neueste Buch des Propaganda-Forschers Jonas Tögel „Kriegsspiele – Wie NATO und Pentagon die Zerstörung Europas simulieren“ gibt einen erhellenden Einblick in die Militärplanung und -strategien zu einem möglichen Krieg zwischen Russland und dem westlichen Bündnis und ist ein leidenschaftliches Plädoyer für den Frieden. Eine Rezension von Maike Gosch.
Alle reden aktuell vom Krieg, aber über die konkreten Folgen, den möglichen Ablauf und das Ausmaß eines solchen möglichen Krieges in und um Europa wissen wir dennoch viel zu wenig.
Es werden „Bunker-Apps“ geplant, Krankenhäuser üben „Triage“ wie schon zu Corona-Zeiten, und die etablierten Parteien überbieten sich mit Forderungen nach Waffenlieferungen an die Ukraine sowie Erhöhung des deutschen Wehretats; auch die Bundeswehr pflastert die Städte mit Werbung zu, mit der sie um junge Männer wirbt. Trotz Trumps Versprechen, den Krieg in der Ukraine nach seinem Amtsantritt zügig zu beenden, stehen in Deutschland also weiter alle Zeichen auf Krieg. Die einfach mal so von Olaf Scholz im Frühjahr 2022 deklarierte „Zeitenwende“ scheint damit tatsächlich Realität zu werden.
Aber es herrscht dabei eine interessante Schizophrenie: Einerseits wird vor der Gefahr, die von Russland und einer Ausweitung des Krieges ausgeht, immer und immer wieder gewarnt, um Waffenlieferungen und Aufrüstung zu rechtfertigen. Die Gefahr wird also von Seiten unserer Regierung und Medien durchaus sehr ernst genommen. Gleichzeitig werden aber jeder Versuch einer Entschärfung der Situation, jede ernsthafte diplomatische Initiative, jeder Ruf nach einem Verständnis für die Kriegsursachen mit einer Verve niederkartäscht, die mich an die Szenen aus dem dänischen Film „Das Fest“ von Thomas Vinterberg aus den 90er-Jahren, erinnert, in dem der erwachsene Sohn auf einem Familienfest immer wieder versucht, über den sexuellen Missbrauch durch seinen Vater zu sprechen, und die Familie ihn mit wachsender Wut und Gewalt davon abhalten und zum Schweigen bringen will.
Jetzt ist es ein natürlicher und verständlicher Impuls von uns übrig gebliebenen Friedensaktivisten, den Großteil dieser Aktivitäten und Meldungen, die unser Land mal wieder so richtig „kriegstüchtig“ machen sollen, als Propaganda abzutun, die dazu dienen soll, die Auftragsbücher der Mitglieder des militärisch-Industriellen-Komplexes zu füllen und Zustimmung für NATO-Mitgliedschaft und -Erweiterung zu schaffen (Stichwort „Manufacturing Consent“, s. Noam Chomsky). Aber das heißt nicht, die Augen davor zu verschließen, was für ein gefährliches Spiel mit dem Feuer die aktuelle deutsche und europäische Außenpolitik darstellt.
Das neue Buch von Jonas Tögel „Kriegsspiele – Wie NATO und Pentagon die Zerstörung Europas simulieren“ schließt jetzt eine publizistische Lücke. Der Autor klärt kenntnisreich über Kriegs- und Militärplanungen in Europa auf, appelliert aber gleichzeitig mit großer Überzeugung für den Frieden.
Jonas Tögel ist Amerikanist und Propagandaforscher, der zum Thema Soft Power und Motivation promoviert hat und als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Psychologie der Universität Regensburg arbeitet. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem der Einsatz von Soft-Power-Techniken, Nudging und Propaganda. Er ist zudem Autor des Bestsellers „Kognitive Kriegsführung“ (2023). Auch mit diesem Buch hatte Tögel sich bereits auf ein Feld begeben (man möchte fast sagen „gewagt“), das bei allem Überangebot an Untersuchungen, Studien und Artikeln zum Thema „Propaganda“ und „Desinformation“ erstaunlich dünn bestückt ist mit Untersuchungen über die Propaganda-Aktivitäten durch die Regierungen und Geheimdienste unseres eigenen Landes und des restlichen sogenannten „Wertewestens“.
Gespannt hatte ich daher sein neues Werk erwartet. Zunächst war ich etwas überrascht, dass Tögel sich in diesem Buch nicht schwerpunktmäßig der NATO-Propaganda widmet, sondern es mit einem Überblick über die Planungen militärischer Übungen und Kriegsszenarien zu einem Konflikt des Westens mit Russland beginnt. Wie relevant ist es, in die Militärgeschichte zurückzugehen, teilweise bis ins 19. Jahrhundert? Die Welt bewegt sich so schnell, auch die Situation in der Ukraine und Europa ist im ständigen Flux, und vielleicht ist die Kriegsgefahr ja im nächsten Monat schon längst wieder gebannt, weil Trump auf weißem Ross Ende Januar schon einen Friedensvertrag herbeizaubern wird.
Aber schon nach einigen Seiten hatte Tögel mich überzeugt. Er fängt an mit der „Herzlandtheorie“ des Geografen Halford John Mackinder aus dem Jahr 1904. Diese Theorie – sicher vielen Lesern hier bekannt – besagt, dass die riesige und an Rohstoffen ungeheuer reiche Landmasse Eurasiens die Drehpunktregion (im englischen Original „Pivot Area“) oder auch das „Herzland“ (im englischen Original „heartland“) der Weltpolitik ist, was bedeuten soll: Wer dieses Gebiet beherrscht, kann die Welt beherrschen. Oder auch: Das britische Imperium (und später dann das US-amerikanische Imperium) können nur von diesem Gebiet wirklich bedroht werden.
Drei weitere interessante Aspekte werden schon bei Mackinder erwähnt, und da zeigt sich dann die erstaunliche Aktualität dieser über 100 Jahre alten Theorie:
Einerseits spricht er davon, dass diese Region für die Weltpolitik eine so zentrale strategische Position besitzt wie Deutschland für Europa.
Zweitens warnt er vor einer möglichen chinesischen Kontrolle über dieses Herzland und formuliert, dass sich das dadurch entstehende „Imperium zu einer gelben Gefahr für die Freiheit der ganzen Welt“ entwickeln würde. Hier lenkt Tögel zu Recht unsere Aufmerksamkeit auf zwei Erzählungen, die die westliche Kommunikation über Geopolitik bis zum heutigen Tag prägen: einmal die xenophobische der „gelben Gefahr“ (heute nicht mehr so genannt, aber es schwingt bei einem Großteil der westlichen Berichterstattung mit) bzw. die Angst des Westens (in diesem Fall Großbritanniens, später der USA) vor dem geopolitischen Rivalen China; und dann die Erzählung, dass das Aufkommen nichtwestlicher Machtblöcke nicht etwa die Hegemonie Großbritanniens (damals) oder aktuell der USA bedrohen, sondern gleich „die Freiheit“ per se. Das haben wir doch in letzter Zeit auch öfter wieder gehört.
Drittens warnt Mackinder schon damals vor einem möglichen Bündnis zwischen Russland und Deutschland und erklärt das dadurch entstehende mögliche Weltimperium zu einer der gefährlichsten Bedrohungen.
Wie sehr diese Sichtweise und Einschätzung bis heute aktuell ist, zeigt sich darin, dass zum Beispiel über 100 Jahre später – nämlich im Jahr 2015 – George Friedman, der Gründer der Denkfabrik Stratfor, Folgendes erklärte:
„Das Hauptinteresse der USA, für das wir seit Jahrhunderten Kriege geführt haben, im Ersten und Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg, waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland, weil sie gemeinsam die einzige Macht sind, die uns bedrohen könnte, und um sicherzustellen, dass das nicht passiert.“
Man sieht also, dass das, was Jonas Tögel hier ausgräbt, ein sehr interessantes Licht auf die aktuellen Geschehnisse wirft. Gern wird in diesem Zusammenhang der Vorwurf erhoben, es handele sich hier bei um (wahlweise) rechtsradikale oder russische Narrative (die USA wollen das Zusammengehen von Russland und Deutschland verhindern). Korrekterweise müsste man aber von angloamerikanischen Erzählungen sprechen, wie Tögel belegt.
Nun gab es in den letzten Jahren einige Bücher über Geopolitik, die sich mit dem Thema der „Herzland“-Theorie beschäftigen, aber das war ja auch erst der Einstieg in das Buch.
Weiter geht es mit einer Übersicht und Analyse der militärischen Planspiele des Westens und der NATO im Kalten Krieg. Jetzt würde man denken, das wäre hauptsächlich für Militärhistoriker interessant, aber auch hier lauern sehr viele spannende Informationen und Aspekte, die zumindest mir noch nicht bekannt waren und die sehr erhellende Schlaglichter auf die aktuelle Situation in Bezug auf Geopolitik und militärische Strategie in Europa und natürlich auch bei uns in Deutschland werfen. Ich hatte zum Beispiel noch nie davon gehört, dass es einen Plan der Briten vom 22. Mai 1945 (!) gab, einen massiven Überraschungsangriff gegen Russland zu starten und diesen mit deutschen Soldaten zu führen, die aus den Kriegsgefangenenlagern, in die sie die Alliierten gesteckt hatten, geholt werden und erneut zum Kämpfen gezwungen werden sollten.
Weiter geht es mit einem Plan der US-Amerikaner, ebenfalls von 1945, der beinhaltete, Atombomben auf 20 russische Städte zu werfen. Der nächste Plan von 1949 erhöhte dies hier noch auf Atombomben auf 200 Ziele in Russland, und 1957 waren schon Atombomben auf 3.261 Ziele geplant.
Auch die Gründung der NATO und die Rolle Deutschlands darin zeichnet Tögel nach, und auch hier erfährt man Erschreckendes und so nicht oft Gehörtes. Zum Beispiel, dass in einem der ersten Planspiele der NATO (Operation „Carte Blanche“, 1955) mit dem neuen Mitglied BRD, welches sich durch den Beitritt Sicherheit und Schutz durch den transatlantischen großen Bruder erhoffte, ein Szenario entworfen wurde, in dem auf deutschem Gebiet als Kampfplatz zwischen der Sowjetunion und der NATO 168 Atombomben fallen sollten und (niedrig geschätzt) 1,7 Millionen getötete und 3,5 Millionen verletzte Deutsche einkalkuliert wurden. So viel zum Schutz. Es läuft einem kalt den Rücken herunter, wenn man erfährt, mit welch einer Kaltschnäuzigkeit hier der transatlantische Partner die fast vollkommene Zerstörung Deutschlands und das grausame Sterben von Millionen von Deutschen einkalkulierte.
Es wird in diesen Passagen – und denen über die entsprechenden Planspiele und Übungen in späteren Jahren sowie die politischen Debatten darüber – auch deutlich, wie sehr die USA Europa als ein Schlachtfeld für ihre Auseinandersetzung mit Russland (bzw. damals der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt) sehen. Ebenso wie heute in der Ukraine sollen andere für sie leiden und für die geopolitischen Machtkämpfe des Weltreiches sterben.
Spannend sind bei der Schilderung dieser Ereignisse und Planspiele durch Tögel besonders die Haltung der damaligen Politiker und auch die Berichterstattung und Kommentierung der Medien (wie dem SPIEGEL), die damals noch deutlich kritischer gegenüber der US-amerikanischen Strategie und ihren Entscheidungen waren und wesentlich offener diskutierten, was für negative Folgen diese für Deutschland haben würden.
Im Kontrast wird einem wieder einmal deutlich, wie einheitlich die Berichterstattung und die Haltung der meisten politischen Parteien in Fragen der Unterordnung der deutschen militärischen und geopolitischen Interessen unter die der USA und der US-amerikanisch geführten NATO geworden sind und dass kritische Stimmen hierzu nur noch von den angeblich „extremen“ Rändern des Diskurses kommen.
Tögel schildert ebenfalls entsprechende Pläne der Sowjetunion und des Warschauer Paktes wie zum Beispiel das Planspiel „Sieben Tage bis zum Rhein“ aus dem Jahr 1964, das 2005 von der polnischen Regierung an die Öffentlichkeit gebracht wurde. In diesem Planspiel verteidigt sich der Warschauer Pakt gegen einen Überraschungsangriff der NATO auf Osteuropa mit dem flächendeckenden Einsatz von Atomwaffen gegen Ziele in Westeuropa, gefolgt von einer groß angelegten Bodenoffensive. Die Schilderung der Militärübungen endet mit der letzten, im Jahr 2024 stattgefunden NATO-Übung „Steadfast Defender“ („Standhafter Verteidiger“), über die Tögel leider nicht mehr so viele detaillierte Informationen liefern kann, da diese der Geheimhaltung unterliegen.
Im letzten Teil des Buches fasst Tögel dann die aktuelle Debatte rund um Krieg und Frieden in Deutschland zusammen und gibt wichtige Hinweise in Bezug auf die Rahmenerzählungen und Kommunikationsstrategien, die hier eine Rolle spielen. Er zeigt auch auf, wie erstaunlich wenig sichtbar und wirkmächtig die Menschen in Deutschland, die sich für Frieden und Diplomatie aussprechen, aktuell sind und versucht, Erklärungen dafür zu finden.
Das Buch endet mit einem fundierten und sicher tief empfundenen Aufruf zu einem Bewusstseinswandel und einem Aktiv-Werden für eine friedliche Lösung im „Herzland“.
Trotz der detailreichen Darstellung und der sorgfältigen Recherche und auch trotz des sehr bedrückenden Themas liest sich das Buch erstaunlich flüssig und unterhaltsam, was dem klaren Stil und der sauberen Gedankenführung Tögels zu verdanken ist. Insgesamt ist er sichtlich um eine ausgewogene und sachliche Wiedergabe der verschiedenen Sichtweisen bemüht und macht sich durchaus nicht eine „russische“ Sichtweise zu eigen – auch wenn das sicher niemanden davon abhalten wird, ihm das vorzuwerfen, da wir nun einmal in einer neuen McCarthy-Ära leben.
Insgesamt ist das kurze Buch (96 Seiten) eine interessante und wertvolle Zusammenstellung historischer Informationen sowie aktueller Analysen, die vieles ins öffentliche Bewusstsein rücken, was unsere Sicht auf die verantwortungslose und fehlgeleitete Eskalation unserer Zeit noch einmal schärfen kann und hoffentlich zu einer Erstarkung der Friedensbewegung in Deutschland führen wird.
Jonas Tögel: „Kriegsspiele – Wie NATO und Pentagon die Zerstörung Europas simulieren“. Neu-Isenburg, Westend Verlag 2025, Taschenbuch kartoniert, 96 Seiten, ISBN 978-3864894886, 15 Euro.