Ja, spinnen die denn, die Rumänen? Erst wollen sie einen Russlandfreund zum Präsidenten wählen und eine Woche später bei den Parlamentswahlen sichern sie die Vormacht der NATO-Parteien. Das kann doch nur mit „rechten“ Dingen zugegangen sein, wofür prompt der Beweis aus dem Hut gezaubert war: eine Kampagne im Auftrag des Kreml. Von wegen. Inzwischen zeichnet sich ab: Die Trolle wurden aus der Staatskasse bezahlt, durch die Partei des rumänischen Staatsoberhaupts. Und von einer Einmischung Putins fehlt jede Spur. Besser vergessen das Ganze, findet der Wertwesten. Von Ralf Wurzbacher.
Das war ein Paukenschlag. Am 6. Dezember schaffte es das sonst eher blasse Rumänien für einen kurzen Moment ins grelle Licht der Weltöffentlichkeit. Die erste Runde der Präsidentenwahl vom 24. November – einfach annulliert. So verkündete es das rumänische Verfassungsgericht und sorgte damit für ein Novum der europäischen Rechtsgeschichte. Begründung: Eine „ausländische Macht“ habe im Wahlkampf Einfluss genommen und dem Überraschungssieger Călin Georgescu mittels einer TikTok-Kampagne zum Sieg verholfen. In Windeseile wehte das zugehörige, auch von deutschen Medien transportierte Narrativ um den ganzen Globus: Die bösen Einmischungen erfolgten aus dem Kreml und der Profiteur war der Kandidat Wladimir Putins, ein Russenfreund also, dazu ein ultranationaler Rechtspopulist, mehr noch, ein Rechtsextremer und Verschwörungstheoretiker, was auch sonst.
Der parteilose Günstling Putins soll demnach eine Kampagne über die Sozialen Medien lanciert haben, die Millionen Wähler quasi umgedreht hat, zu Agenten Moskaus. Und wären sie den Manipulateuren nicht auf den Leim gegangen, hätten sie alle ganz was anderes und wen anderes gewählt, nämlich die Fraktion des Westens, also die Freunde Washingtons und Brüssels, vorneweg den amtierenden Premierminister Ion-Marcel Ciolacu von der sozialdemokratischen PSD, der beim Urnengang böse baden ging und es als Drittplatzierter nicht einmal in die Stichwahl schaffte, die nun aber flugs abgeblasen wurde, weil sie den Willen des Volkes ja vollends auf den Kopf gestellt hätte.
„Sozialkanal für Halbstarke“
Das ist harter Tobak und wer so etwas verbreitet, hat sicherlich harte Beweise im Gepäck. Die sollen sich in den sogenannten Geheimdokumenten finden, deren Geheimhaltung Staatspräsident Klaus Werner Johannis von der Nationalliberalen Partei (PNL) am 5. Dezember eilends aufgehoben hatte, damit die Verfassungsrichter Einblick nehmen können. Daraus geht behauptetermaßen hervor, dass der gesamte Wahlprozess von mangelnder Transparenz insbesondere bei der Wahlkampffinanzierung sowie von der Einmischung ausländischer „staatlicher Entitäten“ geprägt gewesen sei. Obendrein will auch der Oberste Verteidigungsrat, dem Johannis selbst vorsteht, „ein wachsendes Interesse“ Russlands festgestellt haben, Einfluss auf die öffentliche Meinung in Rumänien zu nehmen. Die investigative rumänische Webseite Snoop.ro zitierte aus einem vom Rat freigegebenen Dokument, demzufolge die Georgescu-Kampagne „identisch“ sei mit der russischen Bruder-für-Bruder-Kampagne in der Ukraine kurz vor der Invasion Anfang 2022.
Ob das so ist, sei dahin gestellt, und dass der Kreml auch diesmal hinter den Kulissen gewirkt haben könnte, ist keineswegs ausgeschlossen. Aber reicht das für den Schluss aus, die Präsidentenwahl für nichtig zu erklären und zu verschieben, weil angeblich Schiebung in großem Stil betrieben wurde? Wohl kaum. Zum Beispiel stellte die Berliner Zeitung, die dazu Ende Dezember hinter der Bezahlschranke berichtete, die Frage, „inwieweit ausgerechnet eine TikTok-Kampagne (man denke an das spezifische Profil des Teeniemediums) im ländlich geprägten Rumänien mit seinen rund 18 Millionen Wahlberechtigten ursächlich oder ausschlaggebend sein kann“. Für Martin Sonneborn, Satiriker und EU-Parlamentarier für Die Partei, könnte Georgescu an „fliegende Spaghettimonster, Karl Marx, den Klimawandel und die Zahnfee glauben“, die Wahl sei nicht wegen etwaiger Überzeugungen oder Ansichten eines Kandidaten annulliert worden, „sondern wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten auf einem Sozialkanal für Halbstarke“. Sonneborn bringt in seinem sehenswerten Stück „Über Demokratie & Alles. Und über Rumänien“ einen alternativen Drahtzieher ins Spiel: „Ein gewisses State Department sowie ein Außenminister namens Blinken.“
Richter in schlechter Verfassung
Selbst die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), einer Nähe zu Putin gänzlich unverdächtig, titelte am 8. Januar: „Der Mythos von der russischen Einmischung“. In dem Beitrag (hinter der Bezahlschranke) ließ das Blatt den rumänischen Rechtswissenschaftler Csongor Kuti zu Wort kommen, der von einer „Reihe unglücklicher Entscheidungen“ der Verfassungsrichter sprach, die „im Widerspruch zur verfassungsmäßigen Ordnung, zu den Prinzipien des Rechtsstaats oder zur Idee der Demokratie“ gestanden hätten. Wie viele Menschen frage sich auch Kuti, welche Rolle die Geheimdienste „bei dem odysseischen Zickzackkurs“ des Gerichts gespielt hätten. So sei es „unerklärlich“, dass das Bestehen von Unregelmäßigkeiten und rechtswidrigen Handlungen dem Landesverteidigungsrat erst nach der ersten Wahlrunde mitgeteilt worden sei. Ebenso „unerklärlich“ sei es, dass das Gremium mit den Informationen der Dienste erst an die Öffentlichkeit trat, nachdem das Gericht das Wahlergebnis zunächst für gültig erklärt hatte.
Die „Unerklärlichkeit“ könnte sich mit dem erklären, was abermals die Enthüller von Snoop.ro inzwischen noch so alles an Licht befördert haben. Demnach gab es im Vorfeld der Wahl tatsächlich eine dubiose TikTok-Kampagne, die auch ganz offensichtlich Georgescu zugute kam, indem sie sehr eindeutig mit diesem sympathisierte. Aber: Die Kampagne wurde nicht von ihm selbst, sondern durch die Partei von Präsident Johannis in Auftrag gegeben. Die Journalisten berufen sich auf Erkenntnisse der rumänischen Steuerbehörde, wonach die PNL öffentliche Gelder aus der Parteienfinanzierung „zur Förderung eines anderen Kandidaten“ verwendet habe. Stimmte das, wäre das nicht nur äußerst merkwürdig, sondern dazu hochgradig pikant und brisant. Denn damit fiele die Erzählung vom schlimmen Russen, der mal eben eine Wahl in einem EU-Grenzstaat korrumpiert hat, in sich zusammen.
Influencer auf Abwegen?
Konkret soll die PNL eine Million Rumänischer Leu, rund 200.000 Euro, an die Agentur Kensington Communications mit Hauptsitz im kanadischen Toronto überwiesen haben. Diese engagierte daraufhin die international operierende Plattform FameUp, die laut Berliner Zeitung „Multiplikatoren“ an die Social-Media-Front schickte, „die bestimmten Zielgruppen als Rollenvorbilder dienen“. Das waren in diesem Fall 130 Influencer, die man mit einem Skript und einem Video versorgte, das die Eigenschaften und Fähigkeiten eines rumänischen Wunschpräsidenten beschrieb – allerdings ohne namentliche Nennung eines bestimmten Kandidaten. Eben diese jungen Frauen und Männer wurden nach dem Georgescu-Sieg beschuldigt, von dessen Mittelsmännern bezahlt worden zu sein, weshalb die Steuerbehörde sie durchleuchtete. Und diese Prüfung ergab dann wohl, dass sie ihr Geld nicht von Russen, sondern der Präsidentenpartei erhalten haben.
Der Vorgang liefert Stoff für allerlei Spekulationen. Eine geht dahin, das Projekt sei irgendwie aus dem Ruder gelaufen und eine eigentlich auf den PNL-Kandidaten gemünzte Kampagne habe auf wundersame Weise den Falschen begünstigt. Demnach hätten einige Influencer das PNL-Video mit dem Namen des späteren Wahlsiegers kommentiert, wodurch das Ganze eine ungewollte Eigendynamik entwickelte. Laut Snoop.ro soll auch der rumänische IT-Experte Bogdan Peșchir, bekannt als „BogPR“, mehr als eine Million Euro an Nutzer von TikTok-Konten gespendet haben, die für Georgescu warben. Nach einem ersten Dementi räumte Kensington ein, für die „Sensibilisierungskampagnen“ verantwortlich zu zeichnen, und dies sehr wohl im Auftrag der PNL, allerdings mit Botschaften „zur Bekämpfung von Extremismus und zur Förderung euroatlantischer Werte“. Nur seien diese „völlig falsch interpretiert“ worden, was den Verdacht nahelege, die Kampagne könnte „geklont“ oder zu Gunsten des einen oder anderen Kandidaten „gehackt“ worden sein.
Hacker im Präsidentenpalast
Waren es also doch die Russen? Die FAZ liefert eine andere Version, eine zwar unbelegte Vermutung, die es aber in sich hat. Danach gebe es in Rumänien „die Ansicht, das Ziel der PSD“, also der Sozialdemokraten, „sei es von Anfang an gewesen, außer ihrem eigenen einen rechtsradikalen Präsidentschaftsbewerber in die Stichwahl zu hieven“. Das Kalkül dahinter: „Der PSD-Mann werde in der zweiten Runde einen sicheren Sieg über den für eine Bevölkerungsmehrheit vermeintlich unwählbaren Rechtsradikalen einfahren können.“ Diese Rechnung sei nicht aufgegangen, da die Regierungspartei die Wut der Bevölkerung auf die etablierten Kräfte unterschätzt habe. Fazit: „Die regierende Klasse in Bukarest hat das russische Schreckgespenst nur an die Wand gemalt, um von ihrem eigenen Versagen und dem Misserfolg ihrer gescheiterten machttaktischen Spielchen abzulenken – und um einen Vorwand zur Annullierung einer Wahl zu haben, deren Ergebnis nicht nach dem Geschmack der Machthaber war.“
Das ist fraglos eine krasse Ansage und ließe gar auf ein parteiübergreifendes Komplott schließen. Jedenfalls können die PSD und und die PNL sehr gut miteinander. Vor Weihnachten hatten sich beide Parteien auf die Bildung einer neuen proeuropäischen Regierungskoalition unter Mitbeteiligung von Vertretern ethnischer Minderheiten geeinigt. In der abgelaufenen Legislaturperiode hatten sie noch als Zweierbündnis über die Geschicke des Landes bestimmt. Ciolacu als alter und demnächst neuer Premier nannte als „wichtigstes Ziel“ seines Kabinetts, „die demokratischen Werte zu verteidigen, und zwar innerhalb der NATO“.
Verdacht auf Staatsstreich
Dieser Kurs ist längst nicht mehr nach den Geschmack aller Rumänen. Bei der Parlamentswahl am 1. Dezember mussten die Etablierten starke Verluste einstecken, während das rechte Lager aus drei Parteien auf fast ein Drittel der Stimmen kam. Die Allianz für die Union der Rumänen (AUR) schaffte allein 18 Prozent, nach neun Prozent vier Jahre davor. AUR-Chef George Simion erkennt in der Annullierung der Präsidentschaftswahl einen „regelrechten Staatsstreich“. In besagten Geheimdienstdokumenten „haben wir keinen einzigen Beweis, kein einziges Argument gefunden, um die Behauptungen über die Beteiligung eines ‚ausländischen staatlichen Akteurs‘ zu stützen“, sagte er der Berliner Zeitung. Die FAZ sieht noch einen Pferdefuß mehr. Die Parlamentswahl, die nur eine Woche später stattgefunden hatte, soll ganz frei von Manipulationen abgelaufen sein, obwohl es da doch um viel mehr ging. „Sollte der Kreml seine Bots und Trolle also nur für die Präsidentschaftswahl in Marsch gesetzt haben, bei der Parlamentswahl sieben Tage später aber nicht?“
Nun ja. Bei der einen Wahl konnte das rumänische Politestablishment seine Macht noch behaupten, bei der anderen ist irgendetwas schiefgegangen. Denn machtlos ist der Präsident mitnichten, anders als etwa Grüßonkel Frank-Walter Steinmeier (SPD) aus Deutschland. Sein Pendant in Rumänien bekleidet zwar auch überwiegend repräsentative Funktionen, verfügt aber über substanzielle Kompetenzen im Bereich der Verteidigungspolitik: Er ist oberster Befehlshaber der Armee und Vorsitzender des Obersten Rats für Landesverteidigung. Wäre der Posten an „Putin“ gegangen, hätte das allerhand Ärger im politischen Bukarest provoziert – vielleicht auch in Berlin, Paris, Brüssel, Washington …
Lupenreine Demokratie
Aber das prowestliche Parteiensyndikat hat noch einmal die Kurve gekriegt, indem es augenscheinlich selbst einen Vorwand schuf, „sich des unliebsamen Konkurrenten zu entledigen“, wie Telepolis festhielt. Offen bleibe nurmehr: „Hat die PNL die Kampagne bewusst finanziert, um die Wahlen zu vereiteln, oder wollte sie mit der Kampagne ursprünglich ein anderes Ziel erreichen und hat sich verkalkuliert?“ Ob sich dafür auch die Bundesregierung interessiert? Von den NachDenkSeiten auf der Bundespressekonferenz zu den Vorgängen befragt, hatte sich der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Sebastian Fischer, Mitte Dezember noch so geäußert: „Rumänien ist ein Rechtsstaat und eine Demokratie.“ Man darf sicher sein: Das ist und bleibt auch so – bis zum russischen Einmarsch.
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