Das neue Jahr hat begonnen und manche huldigen dem alten Geist des Neoliberalismus. Gerade hat der Sender Phoenix Aussagen von Marie-Christine Ostermann verbreitet, die an die Agenda-2010-Zeit erinnern. Die Vorsitzende des Verbandes der „Familienunternehmer“ fordert „Reformen“ beim Bürgergeld, nämlich mehr Fordern und weniger Fördern, und überhaupt: Arbeitnehmer sollen „länger und mehr“ arbeiten. Obendrauf sollen auch noch CDU und die CSU beim Vorhaben „marktwirtschaftliche Reformen“ auf dem richtigen Kurs sein. Geht noch mehr Realitätsentfremdung? Ein Kommentar von Marcus Klöckner.
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In diesem Land gibt es ein Feindbild – und dieses Feindbild sind die Armen. Das gibt natürlich niemand offen zu. Und diejenigen, die voller Argwohn und teilweise auch Boshaftigkeit auf die Armen schauen, verstehen es oft, mimisch, gestisch und semantisch ihre Verachtung gegenüber den Armen zu verschleiern. Mit salbungsvollen Worten präsentieren sich die Vertreter einer „Sozialpolitik“, die am liebsten den Ärmsten noch die Krücken wegschlagen würde, in Talkshows, geben Interviews und beziehen Stellung. Um das Land auf Vordermann zu bringen, wollen sie bei den Schwächsten in der Gesellschaft die Axt anlegen – selbstredend im „Sinne“ der Armen, wie sie beteuern.
Die Milliarden, die für Kriege in anderen Ländern ausgegeben werden und ein immer weiter steigender Verteidigungshaushalt: bleiben unerwähnt. Diejenigen, die ohnehin ganz unten stehen, müssen schon lange als Projektionsfläche für die Vorurteile von Angehörigen oberer Schichten herhalten. Das Bild vom faulen Arbeitslosen, der in der „sozialen Hängematte“ ein gemütliches Leben führt – es wurde unter massiver öffentlicher Feindbildproduktion während der Kanzlerschaft Schröders kultiviert.
Und heute? Anstatt jene Parteien anzugehen, die über Jahrzehnte die Politik im Land geprägt haben und letztlich für die Gesamtmisere kollektiv Verantwortung tragen, sollen die Armen und die Schwachen als Blitzableiter herhalten.
Marie-Christine Ostermann ist bekannt dafür, dass sie die Arbeitgeberseite vertritt. Als Vorsitzende des Verbandes der Familienunternehmen sind ihre Interessen klar ersichtlich. Gegen Interessenvertretungen spricht in einer Demokratie nichts. Jede Gruppe soll ihre Interessenvertreter haben. Wenn Ostermann meint, dass beim „Bürgergeld“ angesetzt und zukünftig mehr gefordert als gefördert werden solle, darf sie das selbst verständlich sagen. Wie Ostermann im Großen und Ganzen zu den Armen in der Gesellschaft steht, ist an dieser Stelle nicht bekannt. Doch in Anbetracht der deutschen Gesamtlage auf die Armen zu fokussieren und von ihnen mehr zu „fordern“, lässt tief blicken. Was weiß Frau Ostermann eigentlich von Armut? Weiß Frau Ostermann aus eigener Erfahrung, wie es sich für eine alleinstehende Mutter, aus ärmlichen Verhältnissen kommend, anfühlt, ein Kind mit Bürgergeld aufzuziehen? Hat Frau Ostermann praktische Erfahrungen damit, wie es ist, mit ein paar hundert Euro den Monat für sich und das eigene Kind zu überstehen?
Ostermann ist Geschäftsführende Gesellschafterin beim Lebensmittelgroßhandel Rullko. Seit 2006 leitet sie das Familienunternehmen. Die Firma beschäftige nach Angaben auf diversen Plattformen 200 Mitarbeiter und verzeichnete 2022 einen Umsatz von etwa 82 Millionen Euro. Wie man es auch dreht: Nach Prekariat hört sich das nicht an. Kann jemand, der sich in solch einer Welt bewegt, eine Ahnung davon haben, wie sich das Leben jener Menschen anfühlt, über deren Köpfe hinweg oft genug geredet und entschieden wird? Was weiß Frau Ostermann von den harten und teils sehr harten Schicksalen, mit denen Bürgergeldbezieher zu kämpfen haben? Bei einigem von ihnen grenzt es an ein Wunder, dass sie überhaupt noch leben. Und da will Ostermann ansetzen? Pauschal mehr „fordern“? Die Matrix, auf der solche Aussagen beruhen, ist hinlänglich bekannt. Nicht bei allen, aber bei vielen derjenigen, die meinen, man müsste den Ärmsten Druck machen, spielen klassistische Denkweisen und Vorstellungen eine Rolle. Damit lassen sich aber die Armen, ihre Verhaltensweisen und die Gründe für ihr Leben am Boden der Gesellschaft nicht erfassen. Im Gegenteil.
Ein von Vorurteilen geprägter Blick bestimmt die Wahrnehmung. Und damit einher geht die Verzerrung der Probleme. Wenn Ostermann über Reformen beim Bürgergeld spricht, dann entsteht der Eindruck, zwischen der Schröder-Politik und heute sei kein Tag vergangen. Die sogenannten Reformen von damals haben zu einer tiefen Spaltung, Ausgrenzung und Abwertung der Armen geführt. Die negativen Langzeitwirkungen auf die Gesellschaft sind bis heute spürbar. Ein Land wie Deutschland scheitert nicht an den Armen. Ein Land wie Deutschland scheitert an der Ignoranz jener, die noch immer in Parteien wie der CDU die Lösung und nicht das Problem sehen wollen.
Titelbild: Screenshot Phoenix via X