1992 rief der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“ aus – Liberalismus, Demokratie und Marktwirtschaft hätten sich nun weltweit durchgesetzt. Das war’s. Ende. Der Westen hätte den Wettbewerb der Systeme gewonnen. Es kam anders. Heute würde diese These wohl Stirnrunzeln hervorrufen. Niemand ist weltweit so unzufrieden mit seiner Regierung wie die Menschen in den westlichen Demokratien. In keinem einzigen größeren westlichen Land kommt der jeweilige aktuelle Regierungschef auf positive Zustimmungswerte. Im globalen Süden und in den hierzulande so gescholtenen „Autokratien“ sieht dies anders aus. Vielleicht wird das 21. Jahrhundert am Ende ja nicht als das Ende der Geschichte, sondern als das Ende der liberalen Demokratie in die Geschichtsbücher eingehen? Von Jens Berger.
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Wenn man sich die Zustimmungswerte zur jeweiligen Regierung anschaut, die das Unternehmen Morning Consult Anfang Dezember letzten Jahres in 27 Ländern ermittelt hat, kommt durchaus Endzeitstimmung auf. Lediglich der – in westlichen Medien gerne als „Autokrat“ gescholtene – indische Premier Narendra Modi, der rechtslibertäre argentinische Präsident Javier Milei, die frisch gewählte linke mexikanische Präsidentin Claudia Sheinbaum und die letztjährige – in der Schweiz rotieren die Regierungschefs im Jahresturnus – Schweizer Präsidentin Viola Amherd kommen überhaupt auf positive Werte – das heißt, es gibt mehr Menschen, die ihnen zustimmen, als Menschen, die sie und ihre Arbeit ablehnen. Einmal Asien, zweimal Lateinamerika, einmal Europa – und hier ausgerechnet das Land, dessen politisches System wohl am wenigsten repräsentativ für das westlich-liberale Europa des 21. Jahrhunderts ist. Das ist doch bemerkenswert.
Für die „klassischen“ westlich-liberalen Demokratien sieht es indes düster aus. Nimmt man beispielsweise die Gründungsländer der EU, dann stechen – wenn auch mit miserablen Ergebnissen – ausgerechnet zwei Länder noch am positivsten hervor, die nach gängigen Demokratievorstellungen „krisengeschüttelt“ sind. Da wäre Belgien, dessen kommissarischer Regierungschef De Croo auf 39 Prozent Zustimmung kommt. Seine Partei wurde jedoch im Juni 2024 mit Pauken und Trompeten und nur 5,4 Prozent der Stimmen abgewählt, jedoch findet sich – in Belgien nicht unüblich – keine neue Regierung, weshalb De Croo das Land als eine Art Demokratieverweser kommissarisch regiert und dabei offenbar beliebter ist als seine regulär gewählten Amtskollegen anderer EU-Staaten. Und da wäre Italien. Ja ausgerechnet das chronisch instabile Italien, ausgerechnet eine Faschistin, möchte man da sagen. Aber auch die 38 Prozent Zustimmung, die Giorgia Meloni noch verbuchen kann, sind beileibe kein guter Wert.
Ganz düster sieht es indes in anderen „Musterdemokratien“ aus. Das Schlusslicht bildet der putschende Südkoreaner Yoon Suk-Yeol mit 15 Prozent Zustimmung, aber auch Petr Fiala (Tschechien), Emmanuel Macron (Frankreich) und unser Olaf Scholz können mit 17 Prozent, 18 Prozent und 19 Prozent nur Zustimmungswerte vorweisen, die man eigentlich nur als katastrophal bezeichnen kann. In den Staaten, die heute von westlichen Politikern und Journalisten gerne als „Systemgegner“ bezeichnet werden, sieht es indes diametral anders aus. Auch wenn es keine direkt vergleichbaren Zahlen für Russland gibt, kann man die Daten des als seriös geltenden Lewada Centers durchaus heranziehen. Diesen methodisch ähnlich erhobenen Daten zufolge liegt die Zustimmungsrate für Wladimir Putin derzeit bei 87 Prozent und die Zustimmung für die gesamte russische Regierung bei 72 Prozent. Einzig für China gibt es keine methodisch vergleichbaren Daten. Dass Xi Jinping trotz an Schwung verlierender Wirtschaftskraft sehr hohe Zustimmungswerte bei den Chinesen erzielt, bezweifelt jedoch niemand ernsthaft. Demokratie nach westlicher Lesart scheint, das zeigen die Daten, heute kein Garant für Zufriedenheit mehr zu sein.
Das überrascht vielleicht den einen oder anderen. Bei einer funktionierenden Demokratie sollte man ja eigentlich davon ausgehen, dass die Regierung mehr Anhänger als Gegner hat. Das ist ja schließlich die Idee von Wahlen – die Vorstellungen der Mehrheit sollten sich durchsetzen. Unsere real existierenden westlich-liberalen Demokratien zeigen jedoch, dass heutzutage das genaue Gegenteil die Regel und nicht die Ausnahme ist. Sei es der scheidende US-Präsident Biden, die in dieser Woche zurückgetretenen Regierungschefs Trudeau (Kanada) und Nehammer (Österreich) oder die noch vergleichsweise frischen Premiers Starmer (Großbritannien) und Ishiba (Japan) – keiner kommt auf deutlich mehr als ein Drittel Zustimmung.
Und Wahlen scheinen daran nichts zu ändern. Starmers Vorgänger Sunak war sogar – was ein Kunststück ist – noch unbeliebter und ob Biden-Nachfolger Trump auf höhere Werte kommen wird, ist eher unwahrscheinlich; dafür ist das Land zu polarisiert. Und auch in Deutschland wird es auf absehbare Zeit keine beliebte Regierung geben. Wenn im Februar vorgezogen gewählt wird, treten zum ersten Mal in der Geschichte drei Kanzlerkandidaten an, die allesamt im Politbarometer negative Beliebtheitswerte haben – also von einem Großteil der Befragten negativ gesehen werden. Auch wenn die Regierungen westlicher Demokratien in der Regel über parlamentarische Mehrheiten verfügen, so sind sie, was die Zustimmung des Volkes angeht, doch Minderheitsregierungen.
Sicher, Demokratie lebt vom Widerspruch und es ist per se nicht problematisch, dass in einigen Ländern zu einigen Zeiten die Regierungen eher unbeliebt sind. Wenn allerdings in allen Ländern zu allen Zeiten die Regierungen unbeliebt sind, ist dies eine Legitimationskrise des Systems. Woran liegt es, dass die liberalen Demokratien des Westens in einer derart tiefen Legitimationskrise stecken? Die Antworten darauf würden den Rahmen eines normalen NachDenkSeiten-Artikels sprengen und sind zum Teil auch komplex. Da dies ein globales Phänomen ist, sollte man die sicherlich ebenfalls relevanten nationalen Debatten einmal ausblenden. Alle westlichen Demokratien haben jedoch auch einige Faktoren gemein, die für den Trend mitverantwortlich ist. Stichwortartig zu nennen wären da …
- Der relative Abstieg des Westens
- Das Ende des ökonomischen Aufstiegsversprechens
- Öffnen der Einkommens- und Vermögensschere
- Rückkehr der Klassengesellschaft
- Ökonomisierung der Gesellschaft
- Globalisierung
- Elitenversagen/Elitenverdrossenheit
- Pessimistische Zukunftsprognosen/Hoffnungslosigkeit
- Zunehmende Polarisierung der politischen und gesellschaftlichen Debatten
- Versagen der Medien
- Siegeszug der sozialen Netzwerke
- Unterdrückung unliebsamer Meinungen
- Kulturkampf von oben
Diese Liste ist sicher unvollständig und jeder der genannten Punkte hätte es eigentlich verdient, ausführlich debattiert zu werden. Das tun die NachDenkSeiten seit ihrer Gründung vor mehr als 20 Jahren. Was meinen Sie? Schreiben Sie uns doch mal Ihre Meinung.
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