Am 26. Dezember 2024 enterte die finnische Küstenwache den Tanker „Eagle S“. Er war mit Erdöl beladen aus dem russischen Hafen Ust-Luga ausgelaufen und auf dem Weg ins ägyptische Port Said. Die finnischen Behörden werfen der Crew, die aus georgischen und indischen Staatsbürgern besteht, vor, mit dem Anker des Schiffes das zwischen Estland und Finnland verlaufende Stromkabel „EstLink 2“ beschädigt zu haben. Der 20 Jahre alte Tanker fährt für ein in den Vereinigten Arabischen Emiraten registriertes Unternehmen unter der Flagge der Cook Islands. Der Vorgang steht sinnbildlich für eine neue maritime Front, die die NATO im Kampf gegen Russland eröffnet hat. Von Hannes Hofbauer.
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Vor zehn Jahren hatte derselbe Tanker – damals unter anderem Namen – vor der chilenischen Küste ein Verbindungskabel zu einem Terminal zerstört, was zum Auslaufen einer größeren Menge Rohöl führte. Im März 2024 wurden durch den sinkenden britischen Frachter Rubymar mehrere Unterseekabel im Roten Meer zerstört, was den digitalen Datentransfer stark beeinträchtigte. Zeitgleich fielen eine Reihe von Untersee-Glasfaserkabeln vor der Westküste Afrikas aus, ohne dass die Ursachen bekannt geworden wären. Schäden an Seekabeln sind also keine Seltenheit, ganz im Gegensatz zur Kaperung von Schiffen, insbesondere in der Ostsee.
Das Verschleppen der „Eagle S“ durch staatliche Organe auf den finnischen Ankerplatz Svartbäck ist ein äußerst ungewöhnlicher Vorgang. Es könnte der Auftakt einer neuen, maritimen Front im Kampf der NATO gegen Russland sein. In der Auseinandersetzung um offenen Meerzugang kann Russland übrigens auf eine 550-jährige Geschichte zurückblicken.
Vom EU-Ölpreisdeckel zur russischen Schattenflotte
Es begann mit dem 6. Sanktionspaket. In diesem hatte die EU-Kommission am 3. Juni 2022 – wie immer ohne Befassung der nationalen Parlamente – ein Verbot beschlossen, „Rohöl und bestimmte Erdölerzeugnisse, die ihren Ursprung in Russland haben oder aus Russland ausgeführt wurden, unmittelbar oder mittelbar zu kaufen, einzuführen oder in Mitgliedstaaten zu verbringen sowie ein Verbot der Versicherung oder der Rückversicherung des Transports dieser Güter auf dem Seeweg in Drittländer.“[1] Nach einer Übergangsfrist ist diese Maßnahme im Dezember 2022 in Kraft getreten.
Funktioniert hat sie nicht, vor allem deshalb, weil die Kontrolle, wohin russisches Erdöl geliefert wurde, nicht gelungen ist und wohl auch nicht gelingen kann. Und Versicherungsverbote sind auf dem Weltmarkt der Versicherer von Brüssel aus auch nicht zu überwachen. Also versuchte man die Sanktionsschrauben gegen russische Ölexporte stärker anzuziehen – und mehr Länder in den Wirtschaftskrieg gegen Moskau hineinzuziehen. Zusammen mit den G 7 gelang ein besonderer ökonomischer Schurkenstreich. Nach kurzen Verhandlungen verfielen Experten auf eine reichlich absurde Idee: Russisches Erdöl sollte auf dem Weltmarkt nur mehr verkauft werden dürfen, wenn der Preis 60 US-Dollar pro Barrel nicht überstieg, die polnische Regierung träumte sogar von 40 US-Dollar. Mit anderen Worten: für Energie aus Erdöl, sobald diese aus russischer Förderung stammte, wurde von den G 7 unter Führung der EU ein politischer Preis diktiert, den auch Indien, China, Indonesien und der Globale Süden einhalten müssten. Wer sich das ausgedacht hat, hätte bei der sowjetischen Fünfjahresplanung eine steile Karriere gemacht, in der kapitalistischen Wirklichkeit des unregulierten Weltmarktes glich der Plan einer Verhöhnung der allgemeinen Spielregeln. Entsprechend konnten die Folgen beobachtet werden, wenn z.B. ein indischer Tanker in Rotterdam anlandete und dort Erdöl in die Leitung pumpte, die nach Deutschland führte. Woher die Ladung stammte, war schwer zu bestimmen, sicherlich nicht aus Indien.
Die russische Antwort auf den westlichen Ölpreisdeckel ließ nicht lange auf sich warten. Griechische und andere Reedereien warteten nur darauf, ihre Tanker unter allerlei bunten Flaggen mit russischem Öl zu befüllen, entweder direkt in den Häfen der Ostsee oder indem das Öl auf hoher See umgepumpt wurde. Geworden ist daraus in wenigen Wochen eine 600 Frachter umfassende Schattenflotte für Rohöl. Das entspricht ca. einem Viertel der weltweit vorhandenen Kapazitäten. Wie Konkurrenz gerade auch in diesem Fall unser Wirtschaftssystem belebt, beschreibt der stellvertretende Generalsekretär für maritime Angelegenheiten im estnischen Ministerium, Kaupo Läänerand, resigniert: „Als ein Land sich auf Druck der USA weigerte, Schiffe der Schattenflotte unter seiner Flagge zu registrieren, erklärte sich ein anderer Staat sofort bereit, diese Schiffe unter seine Jurisdiktion zu nehmen. Dadurch fließen Steuern und Gebühren, und es findet sich immer ein Land, das sich zur Aufnahme solcher Schiffe unter seine Jurisdiktion bereiterklärt.“[2]
In Reaktion auf den Misserfolg agiert Brüssel wie gehabt nach dem Motto „mehr vom Gleichen“ und beginnt seit Dezember 2024, einzelne Tanker, denen sie die Umgehung der Sanktionen vorwirft – warum sollten sie sich auch an EU- bzw. G-7-Sanktionen halten? –, auf schwarze Listen zu setzen. Ihnen wird die Anlandung in Häfen der EU verboten. Mit dem 15. Sanktionspaket vom 16. Dezember 2024 wuchs diese Liste auf 79 Öltanker an. Sie fahren unter Flaggen von Panama, Russland, Singapur, Samoa, Barbados, Gabon, Swaziland, Cook Islands, Kamerun, Djibuti, der Komoren und vielen anderen.[3] Damit wurden etwas mehr als 10 Prozent der Schattenflotte von Brüssel identifiziert, wobei auch diese Zahl mit Vorsicht zu genießen ist.
Die NATO rüstet sich in der Ostsee
Am 21. Oktober 2024 eröffnete der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius das neue regionale NATO-Hauptquartier in Rostock. Dass die Umwandlung der Hanse-Kaserne zum künftigen Marinestützpunkt des transatlantischen Kriegsbündnisses in der Ostsee einen Bruch des Zwei-plus-Vier-Vertrages aus dem Jahr 1990 darstellt, focht die deutsche Seite nicht an; und die Vertragspartner aus den USA, Großbritannien und Frankreich könnten dies sogar als gelungene Provokation gegen Russland absichtlich forciert haben. Denn anstelle der im Artikel 5 des Vertrages verbotenen Stationierung ausländischer Streitkräfte auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, also in Rostock, hätte das neue maritime NATO-Hauptquartier für die Ostsee ja auch in Gdańsk oder Kiel eröffnet werden können.
Bereits zuvor fand im Juni 2024 mit „Baltops“ eines der größten Seemanöver der NATO in der Ostsee statt. 9.000 Soldaten trainierten als amphibische Kampftruppen mit 50 Schiffen und 80 Flugzeugen vom litauischen Klaipeda aus, wie der russischen Marine beizukommen ist und „die Kriegsführungspläne zur Verteidigung des euro-atlantischen Raumes“ in der Ostsee umgesetzt werden können, so Konteradmiral Craig Wood in einer Presseerklärung.
Konkreter ging es dann ein halbes Jahr später zur Sache. Vom 2. bis 15. Dezember 2024 übten 2.000 Soldaten aus NATO-Ländern eine Blockade des finnischen Meerbusens. Offensichtliches Ziel der „Pikne“ (dt: „Blitz“) genannten Operationen war es, das Auslaufen von Schiffen aus Sankt Petersburg, Kronstadt und Ust-Luga zu kontrollieren bzw. im Ernstfall zu verhindern. Diesen Ernstfall sieht die NATO im Zusammenhang mit der Erdöl-Schattenflotte bereits als gegeben an.
Vom 16. bis 17. Dezember 2024 fand dann im estnischen Tallinn ein Koordinationstreffen der Joint Expeditionary Force (JEF) statt, an dem das NATO-„Blitz“-Manöver analysiert und weitere strategische Maßnahmen zur Bekämpfung der russischen Schattenflotte erörtert wurden. Die JEF wurde unter britischer Dominanz im Anschluss an die Eingliederung der Krim in die Russländische Föderation gegründet und am NATO-Gipfel von Wales im September 2014 scharf gemacht. Ihr gehören neben Großbritannien und den USA Deutschland, Dänemark, die Niederlande, Estland, Lettland, Litauen, Finnland, Schweden, Norwegen, Polen und – seit kurzem – auch Island an. Estlands Premierminister Kristen Michal erklärte zum Auftakt des JEF-Treffens, dass die russische Schattenflotte eine allgemeine Bedrohung darstelle, und zwar gleichermaßen für die Sicherheit der Ostsee und der Weltmeere, die Wirtschaft und die Umwelt; und deshalb, so fügte er hinzu, müssen koordinierte Schritte unternommen werden, um die russische Schattenflotte einzudämmern und Versuche zur Umgehung von Sanktionen zu verhindern.
Dazu ist auch eine neue Idee aufgetaucht, nämlich die Anhaltung sämtlicher aus russischen Häfen auslaufenden Tankern zwecks Kontrolle ihrer Versicherungspapiere. Diese führen wegen der EU- und US-Sanktionen keine westlichen Versicherungsdokumente mit sich, sondern versichern sich in der Regel bei zentralasiatischen Unternehmen. Für einen Flaggenstaat, der eine solche Versicherung anerkennt, ist damit dem Seerecht Genüge getan. Genau dieses Seerecht soll nun, geht es nach der Europäischen Union, ausgehebelt werden. Als Mittel dazu könnte auch die Erweiterung der sogenannten „Anschlusszone“ in Anschlag gebracht werden. Der frühere estnische Außenminister Urmas Reinsalu brachte diese Maßnahme bereits Anfang 2023 ins Gespräch. Sie soll Estland eine Erweiterung seiner Hoheitsrechte auf bis zu 24 Seemeilen (44 Kilometer) entlang des finnischen Meerbusens ermöglichen. Eine solche „Anschlusszone“ ist nach dem Seerechtsübereinkommen der UNO grundsätzlich möglich, wiewohl in ihr nur Zollkontrollen erlaubt sind. Doch um internationale Verträge geht es den führenden baltischen und EU-europäischen Politikern schon längst nicht mehr. Sie wollen die russische Schattenflotte stoppen und in einem weiteren Schritt Russland vom Meerzugang abnabeln.
Der aggressivste, Russland feindlich gesinnte baltische Kleinstaat Estland agiert dabei immer heftiger als treibende Kraft. Mit der neuen EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas stellt er auch diesbezüglich europäisches Spitzenpersonal. Die frühere estnische Ministerpräsidentin ist in Russland wegen „Schändung von Kriegsdenkmälern“ zur Fahndung ausgeschrieben, nachdem sie die Befreiungsdenkmäler der Sowjetarmee in ihrer Heimat allesamt schleifen hat lassen.
550 Jahre Kampf um freien Meerzugang
Eine Konstante russischer Außenpolitik besteht darin, dem Binnenland einen eisfreien Meerzugang zu ermöglichen. Dafür kämpften und kämpfen russische Machthaber seit 550 Jahren. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts erweiterte der damalige Moskauer Großfürst Iwan III. seinen Einflussbereich beträchtlich. Mit der Einnahme der Republik Novgorod im Jahr 1478 sah ein russischer Herrscher, der sich darob zum Zaren ausrufen ließ, erstmals die Ostsee, und zwar genau dort, wo heute der Leningrader Oblast liegt. Damals stieß der russische Vormarsch auf den Deutschen Orden, der im benachbarten Baltikum einen Staat errichtet hatte. Der Kampf um die Ostsee dauert seither an.
Der Zugang zur Ostsee war auch der strategische Schlüssel im Nordischen Krieg, in dem sich Anfang des 18. Jahrhunderts über 20 Jahre lang Schweden und Russland gegenüberstanden. Der damalige russische Zar, Peter der Große, galt in Europa als Reformer und war auch deshalb in Herrscherkreisen freundlich angesehen, weil er eine zweite Front gegen die Osmanen im Asowschen Meer eröffnet hatte. Auf westliche Unterstützung für sein Vorhaben, einen Zugang zum Schwarzen Meer zu erlangen, konnte er allerdings nicht zählen.
Russische Häfen sah das Schwarze Meer erst nach dem Frieden von Kütschük Kainardschi, der im Juli 1774 den sechsjährigen russisch-türkischen Krieg beendete. Die Annexion des Krim-Khanats durch Truppen Katharina II. war die Folge und auch der freie Schiffverkehr durch die Dardanellen ins Mittelmeer fußt auf der osmanischen Niederlage. Übrigens wusste auch die Habsburgermonarchie aus der Schwäche der Hohen Pforte Profit zu schlagen und verleibte sich zu diesem Zeitpunkt die Bukowina ein.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde jahrelang zwischen Russland und der mittlerweile unabhängigen Ukraine über das weitere Schicksal der Schwarzmeerflotte und die Nutzung der Marinestützpunkte in Sewastopol auf der Krim verhandelt. Erst ein zwischen Moskau und Kiew am 31. Mai 1997 abgeschlossener Freundschaftsvertrag schuf Klarheit. Man einigte sich auf eine militärische Nutzung des Hafens durch die russische Flotte über Pachtkosten, die mit der Lieferung von russischem Gas in die Ukraine ausgeglichen wurden. Dieser „Flottenvertrag“ wurde 2010 verlängert und sollte eine Gültigkeitsdauer bis 2017 haben. Unter der Präsidentschaft von Wiktor Juschtschenko erklärte das Kiewer Außenministerium im Oktober 2008, dass es einer in Vorbereitung befindlichen Verlängerung des Flottenvertrages auf keinen Fall zustimmen werde. Damit waren die Claims deutlich abgesteckt und Moskau war beunruhigt: eine NATO-orientierte Regierung würde Russlands Marinestützpunkt auf der Krim schließen. Nach dem verfassungswidrigen Regimewechsel im Februar 2014, mit dem der gewählte, Russland freundlich gesinnte Präsident Wiktor Janukowitsch aus dem Land gejagt wurde und der Wahlkampfmanager des west-orientierten Juschtschenko, Oleksandr Turtschynow, als Interimspräsident die Macht übernahm, schrillten in Moskau die Alarmglocken. Der Erhalt des Marinehafens in Sewastopol hatte oberste Priorität. Er wurde mit dem Unabhängigkeitsreferendum auf der Krim und in Sewastopol sowie der kurz darauf erfolgten territorialen Eingliederung der Halbinsel in die Russländische Föderation gesichert.
Diese im Westen als Annexion bezeichnete Maßnahme wird bis heute als entscheidender Auslöser für den Ukrainekrieg gesehen – sowohl in Kiew als auch unter den Führern des transatlantischen Raums. Der russische Meerzugang im Süden über das Schwarze Meer ins Mittelmeer – nun freilich durch die unsichere Lage um das syrische Tartus gefährdet – steht damit im Mittelpunkt einer historischen geopolitischen Auseinandersetzung. Parallel dazu spitzt sich die Lage um den russischen Zugang zur Ostsee zu, der – wie oben beschrieben – von NATO-Staaten, insbesondere der kleinen estnischen Republik, behindert oder verhindert werden soll.
Von Hannes Hofbauer ist zum Thema erschienen: „Im Wirtschaftskrieg. Die Sanktionspolitik des Westens und ihre Folgen. Das Beispiel Russland“, Promedia Verlag 2024
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