Wider den Schlaf der Vernunft

Wider den Schlaf der Vernunft

Wider den Schlaf der Vernunft

Ein Artikel von Frank Havemann

Daniela Dahn kritisiert in „Der Schlaf der Vernunft. Über Kriegsklima, Nazis und Fakes“ die Wurzeln der Krise des Neoliberalismus und benennt ideologische, juristische und politische Auswüchse. Eine Rezension von Frank Havemann.

So bekannt einem ihre Art zu argumentieren ist, das neue Buch von Daniela Dahn ist wieder eine fesselnde Lektüre. Abermals bietet sie eine Fülle interessanter Zusammenhänge und neuer Aspekte der politischen und gesellschaftlichen Situation und ihrer historischen Wurzeln. Dabei kann sie sich oft auf eigene Erfahrungen beziehen. Schon zu DDR-Zeiten arbeitete sie als freie Publizistin, weil sie sich in keine Institution einfügen wollte. 1989 war sie Mitbegründerin des Demokratischen Aufbruchs, machte aber dessen Abdriften in Richtung CDU nicht mit. Sie moderierte eine große Protestveranstaltung gegen Polizeigewalt rund um den letzten DDR-Geburtstag in der Gethsemane-Kirche unter der Überschrift: Wider den Schlaf der Vernunft. Diese Diagnose ist ihr also nicht neu. Im Buch gibt es davon Fotos.

Von der PDS wurde sie 1998 als brandenburgische Laien-Verfassungsrichterin vorgeschlagen, nach heftigen Debatten befanden aber zu viele Abgeordnete ihre Publikationen offenbar als zu kritisch in Bezug auf die Verfassungswirklichkeit im vereinten Deutschland. Sie rief mit auf zur großen Friedensdemonstration von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer und mahnte auf dem BSW-Gründungskongress als Gastrednerin an, auf die anhaltende „Gültigkeit der revolutionären Forderung: Prekarier aller Länder, vereinigt euch!“ zu achten. Die Rede ist im Buch nachlesbar.

Angesichts des eskalierenden Krieges in der Ukraine, der Gewaltspirale im Nahen Osten, der unzureichenden Bekämpfung der voranschreitenden Klimakatastrophe, des Vormarsches der Rechten im „wertebasierten“ Westen kommt man nicht umhin, an der Vernunft von Politikern zu zweifeln.

„Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer.“ Die Ungeheuer, die im Hintergrund von Goyas berühmter Radierung zu sehen sind, haben äußerlich wenig gemein mit Elon Musk und den anderen Gestalten von Trumps Regierungsmannschaft, auch nicht mit Figuren, die man nicht von ihren Karikaturen in der „Anstalt“ unterscheiden kann, wie Friedrich Merz und Großmutter Courage ‒ sie gruseln aber mehr als Goyas Eulen: Die Instabilität der aktuellen Weltlage macht sie gefährlich. Wie wünschte man sich die Vernunft der Entspannungspolitik zurück, die solcher Visionäre wie Bahr, Brandt, Palme und Gorbatschow!

Wir sind es von Daniela Dahn gewohnt, dass sie nicht pauschal kritisiert, sondern die konkreten Ursachen gesellschaftlicher Fehlentwicklungen analysiert und uns mit sorgfältig recherchierten historischen und juristischen Details überrascht. Ihr neuestes Buch bildet hierin keine Ausnahme. Wir erfahren ihre Sicht auf aktuelle Entwicklungen.

„Wann beginnt eine Geschichte?“ Wie wichtig es ist, gerade darauf zu achten, zeigt sie gleich zu Beginn an zwei Versionen eines Diagramms zur Wirtschaftsentwicklung in Ostdeutschland: Nur den langsamen Aufstieg zu zeigen, ohne zuvor den radikalen Einbruch durch die Währungsunion, verkehrt das Bild propagandistisch ins Gegenteil. Es hat schließlich 18 Jahre gedauert, bis auch nur die Wirtschaftskraft vom Ende der DDR wieder erreicht war.

Wo eine Geschichte beginnt, ist auch in Bezug auf die aktuellen Kriege Anlass heftigster Debatten. Die Autorin beleuchtet kritisch die Politik der NATO und seziert die Mechanismen, mit denen die Gesellschaft kriegstüchtig gemacht wird: Unter Überschriften wie „Deutsche Großmedien auf Nato-Linie wie nirgends sonst“ und „Verteidigungsbellizismus, bis nichts Verteidigenswertes übrig ist?“. Ein Kapitel widmet sie den Defiziten der kapitalistischen Demokratie: „Wo kein Haben ist, da ist kein Sagen“.

Das deutsche Ost-West-Verhältnis, „das Drama ohne Ende“, hat die Autorin in mehreren ihrer Bücher ausführlich diskutiert. Zuletzt hat sie in Tamtam und Tabu (zusammen mit Rainer Mausfeld) aufgedeckt, mit welchen manipulativen Methoden und Falschnachrichten die Stimmung in der DDR 1990 gekippt wurde. Immerhin sagten noch sechs Wochen vor der Volkskammerwahl im März alle Umfragen der Sozialdemokratie eine absolute Mehrheit voraus. Doch dank der Panikmache siegte statt der Revolution ‒ wie so oft ‒ die Restauration. Eine, die sogar das Privateigentum an den Produktionsmitteln vollständig restaurierte.

Daniela Dahn begrüßt die wiederbelebte Diskussion durch neue Bücher, erwägt etwa Verdienste und Grenzen von Dirk Oschmanns Buch: Es „bleibt der widersprüchliche Eindruck, das Ziel sei, die Ostdeutschen endlich gleichberechtigt im Status quo ankommen zu lassen, nicht, sie zu ermutigen, diesen Status verändern zu wollen“. Sie schätzt auch die Analysen von Steffen Mau, hält aber seine Behauptung, es gäbe keinen „Ossismus“ durch „gruppenbezogene Diskriminierung“, für einen „kolossalen Irrtum“. Das „Sonderrecht Ost“ habe flächendeckend diskriminiert – die Belege dafür sind Grund genug, anhaltend empört zu sein.

Das „Ungeheuer“ der Kolonisierung des Ostens teilt sich im aktuellen Buch den Platz mit den andere Ungeheuern, zu denen auch Hass und Antisemitismus gehören. „Der Rechtsruck kommt aus dem Inneren des Staates.“ Unter dieser Überschrift wird darauf hingewiesen, wie auch die von westlicher Seite betriebene „Entzauberung des Antifaschismus“ in der DDR, der ja gar nichts anderes als „verordnet“ sein konnte, wie „eine staatliche Ermutigung für Neonazis“ wirkte. Namen von Antifaschisten waren nicht mehr für Straßen, Schulen gelitten. „Gleichzeitig ist es bis heute nicht möglich, endlich alle NS-belasteten Namen von Bundeswehrkasernen umzubenennen.“

Dass der Klimawandel durch Krieg und Rüstung von der Ökologiebewegung unterbelichtet wird, bedauert Dahn: „Schon in Friedenszeiten verursacht das Militär laut SIPRI ein Viertel der weltweiten Umweltverschmutzung. Es ist damit der größte institutionelle Verbraucher fossiler Brennstoffe. Doch die Staaten, als wären sie unbelehrbar, gaben schon bisher sechsmal weniger für die Bewahrung des Klimas aus als fürs Kriegswesen.“

Die Frage, was man angesichts so schlafender Vernunft noch hoffen darf, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch und wird auch zum berührenden Fazit: Nach biblischer Friedensvision wird dem Messias die Kraft zugesprochen, die Völker den Krieg verlernen zu lassen. Doch nach 3000 Jahren sehnsuchtsvollen Hoffens sollte klar sein: „Die Wartezeit ist abgelaufen! Die dem Messias zugeteilte Arbeit ist in Wahrheit unsere Arbeit.“

Daniela Dahn: Der Schlaf der Vernunft. Über Kriegsklima, Nazis und Fakes, Rowohlt Verlag 2024, 192 Seiten, 16,00 Euro