Sicherheit und Frieden für Europa von Europa – Voraussetzungen zur Rückgewinnung politischer Gestaltungskraft

Sicherheit und Frieden für Europa von Europa – Voraussetzungen zur Rückgewinnung politischer Gestaltungskraft

Sicherheit und Frieden für Europa von Europa – Voraussetzungen zur Rückgewinnung politischer Gestaltungskraft

Alexander Neu
Ein Artikel von Alexander Neu

Am 20. Januar wird D. Trump als der 47. US-Präsident der USA vereidigt werden. Welche Auswirkungen der zu erwartende Kurswechsel in den USA auf die europäischen Verbündeten haben wird, ist derweil nicht abschließend einschätzbar. Aber es ist unwahrscheinlich, dass alles so bleiben wird, wie wir es gewohnt sind. Und damit sind wir bei der Problematik der EU und Deutschlands. Die – und das muss man mit schonungsloser Klarheit auch so benennen – freiwillige Unterwerfung unter die US-Interessen bis hin zur Leugnung eigener europäischer sowie deutscher Interessen dürfte dem alten Kontinent nun auf die Füße fallen. Von Alexander Neu.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wer die Interessen der EU und Deutschlands immer noch mit den US-Interessen gleichsetzt, führt die EU und Deutschland in den Abgrund. Die deutsche Wirtschaft bewegt sich irgendwo zwischen Rezession und Stagnation. Die Insolvenzquote im November 2024 liegt bei 12,6 Prozent und die im Oktober 2024 bei 22,9 Prozent im Vergleich zu den Vorjahresmonaten. Insgesamt scheint sich die tendenzielle Deindustrialisierung Deutschlands zu bestätigen. Als Grund wird der russische Krieg gegen die Ukraine genannt.

Aber wie viel Überzeugungskraft besitzt diese Argumentation der Verantwortungsverschiebung unserer Probleme, oder besser gefragt: Wie viel Selbstverschulden mangels realistischen und strategischen Denkens steckt darin? Ja, Russland hat die Ukraine im Februar 2022 militärisch angegriffen, und diese Handlung ist eindeutig völkerrechtswidrig. Und dieser Krieg hat eine lange Vorgeschichte, was keine Entschuldigung sein darf für die Verantwortung Russlands, aber dennoch benannt werden muss, um die gesamte Dimension dieses Krieges sowohl zeitlich als auch räumlich zu verstehen: Denn der Krieg hat faktisch bereits 2014 begonnen. Dem Staatsstreich im Februar 2014 in Kiew liegt eben auch und besonders eine geopolitische Motivation zu Grunde: die Integration der Ukraine in die westliche Einflusszone. Und somit ist dieser Krieg eben auch eine besonders grausame Ausdrucksform der gegenwärtigen geopolitischen Neuvermessung der Welt.

Europäische und deutsche Abhängigkeiten

Der Angriffskrieg Russlands hat nicht zu einem Umdenken in der deutschen und der EU-Außen- und Sicherheitspolitik geführt, sondern den Weg der von den USA kreierten „regelbasierten Ordnung“, mithin der allein gültigen westlichen Ordnungsvorstellungen, sogar noch weiter geebnet:

Zum einen, indem diplomatische Instrumente nicht mehr gedacht, sondern geradezu diffamiert werden; und zum anderen, indem die EU bzw. ihre Mitgliedsstaaten und besonders auch Deutschland seine souveränen Handlungsspielräume sogar noch weiter an die USA abgetreten und ihre nationalen Interessen weitgehend aufgegeben haben. Beispielhaft steht hierfür die gemeinsame Pressekonferenz des nun scheidenden US-Präsidenten J. Biden mit dem nun ebenfalls scheidenden Bundeskanzler O. Scholz zur Thematik Nord Stream 2 im Februar 2022: Regungslos stand der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland da und ließ sich coram publico erklären, dass bei einer weiteren Zuspitzung mit Russland die USA die Pipeline auf ihre Weise abschalten werden – wohlgemerkt ein deutsch-russisches Wirtschaftsprojekt. Und auf wundersame Weise explodierten im September 2022 drei der vier Stränge der Nord-Stream-Pipelines, und bis heute will nicht geklärt werden, wer tatsächlich diesen Angriff auf die deutsche Energiesouveränität zu verantworten hat.

Insbesondere der weitgehende Importstopp günstiger russischer Energieträger ist eine zentrale Ursache für die hohen Energiekosten. Währenddessen erfreuen sich die USA der erhöhten deutsche Nachfrage nach US-Frackinggas. Die Preise liegen über den russischen Pipelinegaspreisen. Diese Preise sind neben den höheren Produktions- und Lieferkostenkosten auch mit der weitgehend einseitigen Ausrichtung auf die USA als Lieferant zu erklären. Wurde die einseitig energetische Abhängigkeit von Russland politisch und auch medial kritisiert, so ist über die nicht minder große einseitige Abhängigkeit von den USA plus höhere Kosten keine besondere politische oder mediale Debatte wahrnehmbar.

Zwar berichtete im Januar 2024 der „Energieinformationsdienst“ über eine besorgte Stimmung in Europa hinsichtlich wachsender Unsicherheiten über die Lieferung von LNG aus den USA. Und ausgerechnet Wirtschaftsminister R. Habeck beklagte zuvor, nämlich im Oktober 2022, also kurz nach der Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines, die „Mondpreise“ für LNG aus befreundeten Staaten, unter anderem aus den USA. Dass einem Wirtschaftsminister die Konsequenzen von quasi Monopolstrukturen mit einseitiger Abhängigkeitsausrichtung nicht klar sind, ist bereits mehr als befremdlich. Dass ihm indessen auch noch die alte politische Weisheit, wonach Staaten keine Freunde, sondern Interessen haben, wohl immer noch nicht bekannt ist, ist unfassbar.

Etwas satirisch zusammengefasst lautet das Credo: Warum günstiges, zuverlässiges und relativ methan- und CO2-armes Pipelinegas aus Russland, wenn man auch teures, unzuverlässiges und methan- sowie CO2-reiches US-Frackinggas beziehen kann.

Ein weiteres Beispiel der Abhängigkeit stellt der US-Nuklearschirm für die europäischen NATO-Staaten dar. Ich erinnere mich an eine Diskussion im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestags, in der die Frage einer Annäherung an Frankreich mit Blick auf den Nuklearschirm einmal eine Rolle spielte. Die damalige Verteidigungsministerin A. Kramp-Karrenbauer erteilte der Überlegung nach mehr Frankreich und somit nach mehr europäischer Unabhängigkeit zugunsten einer fortgesetzten Unterordnung unter die USA eine klare Absage. Damit unterstütze ich keineswegs Nuklearwaffen für Deutschland oder für die EU. Deutlich wurde hier jedoch erneut, wie sehr man Politik auf militärisch basierte Sicherheitspolitik reduziert und diese militärisch basierte Sicherheit ausschließlich an die USA bindet.

Folgt man prioritär diesem militärisch basiertem Sicherheitsverständnis, welches nahezu zwingend in Blockdenken enden muss, so unterwirft man sich der transatlantischen Bindung mit zunehmendem Verlust an souveränen Handlungsspielräumen. Folgt man hingegen einem offenem Sicherheitsverständnis, bei der die Diplomatie das prioritäre Instrument und das Ziel einer kollektiven Sicherheit im Zentrum stehen, so sind die Grundlagen für die Rückgewinnung der Souveränität für Europa gegeben. Kurzum: Stabilität durch Waffen und Abschreckung führt zu fortgesetzten Abhängigkeiten von den USA und somit faktischen Souveränitätseinbußen Europas. Stabilität durch Diplomatie, vertrauensbildenden Maßnahmen sowie Abrüstungs- und Rüstungskontrollabkommen würde zu Souveränitätsgewinn der EU und Deutschlands führen, da die einseitigen Abhängigkeiten von den USA im gegenwärtigen Ausmaß wegfielen.

Die selbstverschuldete Abhängigkeit von den USA begründet sich nicht nur in dem fatalen, militärisch basierten Sicherheitsverständnis, sondern auch in der Ideologie des Transatlantizismus. Dieser dominiert das Denken und Handeln in Politik und so manchen Medien mittlerweile in einer Art, die objektiv den deutschen Interessen und die der übrigen EU-Mitgliedsstaaten abträglich ist.

Und nun kommt D. Trump am 20. Januar als Präsident zurück und signalisiert eine veränderte Prioritätensetzung mit Blick auf das transatlantische Verhältnis: weniger Europa (und Ukraine) und mehr Ostasien, insbesondere China. Die EU bewegt sich derweil irgendwo zwischen Schockstarre sowie außen- und sicherheitspolitischem Aktivismus. Dieser Aktivismus ist die Reaktion auf die selbstverschuldete Unfähigkeit, Sicherheit für Europa von Europa zu schaffen. Das Einzige, was den politischen Entscheidern einfällt, sind Aufrüstung und steigende Militärausgaben. Selbst wenn von strategischer Autonomie der EU geredet wird, bleibt ein Problem: Das Konzept ist gleichbleibend, nämlich die Fortsetzung der einfältigen, militärisch basierten Sicherheitspolitik. Keine Idee, kein Konzept zu einer nachhaltigen neuen Friedensordnung für Europa von Europa, die die EU zu einem echten souveränen Akteur mit Gestaltungspotenzial erheben könnte. Die EU besitzt nicht einmal die Kraft zur Regulierung innereuropäischer Konflikte – siehe die Nicht-Beilegung des Ukraine-Krieges.

D. Trump wird mit hoher Wahrscheinlichkeit das tun, wozu die EU nicht in der Lage ist: einen Waffenstillstand unter US-amerikanisch-russischen Bedingungen herbeiführen. Ob die USA auch die Friedensverhandlungen für die Europäer führen werden und die EU mit den Ergebnissen der Friedensverhandlungen – politische Konsequenzen und finanzielle Belastungen – in die Verantwortung entlassen werden oder ob die Trump-Administration der EU gesichtswahrend sogar die formalen Friedensverhandlungen in dem bereits von Washington und Moskau gesetzten engen Rahmen des Waffenstillstandes überhelfen, ist derzeit offen. Und über diese dann noch zu „gestaltenden Friedensverhandlungen“ in dem von den USA und Russland gesetzten Korsett besteht die Gefahr massiver Spannungen innerhalb der EU hinsichtlich der Fragen zur Finanzierung der Ukraine und des künftigen Verhältnisses zu Russland. So oder so, die EU wird faktisch als Zaungast die Entscheidungen für einen Waffenstillstand zwischen Washington und Moskau zähneknirschend hinnehmen müssen, da die Bedingungen für die russisch-ukrainische Konfliktregulierung weit von dem entfernt sein werden, was in EU-Europa seit 2022 propagiert wurde: Sieg der Ukraine.

Befreiung vom ideologischen Überbau des Transatlantizismus

Eine Entideologisierung der transatlantischen Beziehungen sowie eine Zurückholung europäischer und deutscher Souveränität heißt nicht, dass die Beziehungen zu den USA beeinträchtigt werden sollten – es wäre unpolitisch. Es heißt aber, dass diese Beziehungen von einseitig romantischer Lyrik befreit, durch eine rationale Brille betrachtet sowie auf eine gesunde Stufe gestellt werden – also Realpolitik statt wertebasierter transatlantischer Romantik, die mit D. Trump ohnehin nicht zu machen ist. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten müssen für sich selbst Verantwortung übernehmen und eine multivektorale Außenpolitik praktizieren. Nur dann kann die EU als ein ernst zu nehmender Akteur in der sich neu formierenden multipolaren Welt einen Gestaltungsanspruch erheben.

Titelbild: Shutterstock / saava_25