Aus dem Off – Syrische Stimmen über die Zukunft ihres Landes

Aus dem Off – Syrische Stimmen über die Zukunft ihres Landes

Aus dem Off – Syrische Stimmen über die Zukunft ihres Landes

Karin Leukefeld
Ein Artikel von Karin Leukefeld

Internationale Fernsehsender bereiten den neuen Machthabern in Damaskus eine große Bühne. Der Nachrichtensender Al Jazeera (Katar) ist ganz nah an der Entwicklung und berichtet rund um die Uhr. Der entmachtete Präsident Bashar al-Assad wird für alle Verbrechen der Kriegsjahre und aus der Zeit der Regierung seines Vaters (seit 1971) verantwortlich gemacht. Der Sieger bekommt alles, dem Verlierer bleibt Hass und Hohn, daran soll es keinen Zweifel geben. Von Karin Leukfeld

An erster Stelle erfährt die Öffentlichkeit von den Treffen derjenigen, die das schutz- und kraftlose Syrien im Sturm erobert haben, den Dschihadisten von Hayat Tahrir al Scham (HTS). Deren unbestrittener Führer Abu Mohamed al-Jolani alias Ahmed al-Sharaa zieht die Fäden der Entscheidungen eines „Generalkommandos“ und bringt ausschließlich HTS-Gefolgsleute aus Idlib in die neue Übergangsregierung, die bis März im Amt bleiben und das Land auf die richtige Bahn bringen soll. 14 Minister seien bisher ernannt worden, bemerkt ein Al Jazeera-Reporter. Alse seien HTS-Verbündete oder „enge Freunde“ von Machthaber Al-Sharaa/al Jolani, da müsse man sich fragen, „formt HTS seine eigene Regierung oder eine Regierung Syriens“?

Der neue Interims-Außenminister ist demnach Asaad Hassan al-Shibani, ein Oppositioneller der ersten Stunde, der in der „Heilsregierung“ in Idlib die Abteilung für politische Beziehungen aufgebaut haben soll. Er habe „gute Kontakte zu den Vereinten Nationen“ berichtete der Radiosender Deutschlandfunk in einer Nachrichtensendung. Die Ernennung sei eine “Antwort auf die Hoffnungen des syrischen Volkes, internationale Beziehungen aufzubauen, die Frieden und Stabilität“ bringen sollten, zitierte AJE die Nachrichtenagentur Reuters, die sich auf „eine Quelle in der neuen Regierung“ berief. Neuer Interims-Verteidigungsminister ist Al Jazeera zufolge Murhaf Abu Qasra, der Insidern auch unter dem Kampfnamen „Abu Hassan 600“ bekannt sein soll. Abu Qasra soll die HTS-Truppenallianz aus mehr als 60 Kampfverbänden bei dem Marsch auf Damaskus angeführt haben.

Der neue Machthaber und HTS-Anführer Al Jolani/Al-Sharaa empfing in den letzten Tagen internationale Delegation, die sich geweigert hatten, Syrien in den vergangenen Jahren zu besuchen. Franzosen, Briten, Deutsche und US-Amerikaner trafen sich mit dem HTS-Führer. Die USA erklärten kurz darauf, das Kopfgeld zur Ergreifung von Al Jolani von 10 Millionen US-Dollar aufzuheben.

Im Gespräch mit dem UN-Sonderbeauftragten für Syrien Geir O. Pedersen konzentrierte sich der neue Machthaber auf Fragen des Wiederaufbaus und der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. An neuen Konflikten mit Nachbarländern, einschließlich Israel, das bereits Teile im Süden des Landes besetzt hat und sämtliche syrischen Militäranlagen und Rüstung zerbombte.

Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate hatten bereits nach 2018 ihre Botschaften in Damaskus wieder geöffnet. Nun folgten auch die Türkei und Katar. Die Europäische Union erklärte, ihre diplomatische Vertretung in Damaskus wieder zu eröffnen, die deutsche Delegation besichtigte die deutsche Botschaften, um den Umfang nötiger Renovierungsarbeiten ermitteln. Über der Französischen Botschaft wurde die französische Fahne wieder gehißt. Allerdings soll die Vertretung bis auf weiteres geschlossen bleiben, weil die Sicherheitskriterien nicht erfüllt seien.

Berater im Dunkel

Abu Mohamed al Jolani alias Ahmad al Sharaa scheint die Fäden zu halten, mit denen Tag für Tag neue Bereiche wieder zum Leben erweckt werden. Tausende Soldaten der alten Armee seien wieder rekrutiert worden, hieß es. Polizei- und Sicherheitskräfte sollen, ebenso wie Grenzbeamte neu eingesetzt werden.

Es ist klar, dass der neue HTS-Machthaber nicht allein handelt, sondern gemeinsam mit Beratern, die teilweise im „Generalkommando“ verortet werden können oder im Dunkel bleiben. Dass diese Berater auch aus dem nahen und fernen Ausland stammen, wie es schon zu Zeiten des Krieges der Fall war, davon kann man ausgehen. Ihre Aufgabe ist es sicherzustellen, dass der neue Machthaber in dieser „kritischen Phase“ keinen Fehler begeht. Sie bestätigen die Namen der Interimsminister und bereiten die Sprechzettel für die Gespräche mit den internationalen Delegationen vor. Das gilt vor allem für die Gespräche mit den westlichen Delegationen, die HTS als politische Vertretung Syriens anerkennen müssen, um Gelder freizugeben, Sanktionen aufzuheben, Investitionen zu fördern.

Einer dieser Berater ist Ibrahim Kalin, der Geheimdienstchef der Türkei, der Damaskus am 19.12. besucht haben soll, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtete. Neben Kalin sei auch der Chef der staatlichen Sicherheitsbehörden Katars, Khalfan al-Kaabi in Damaskus eingetroffen. Beide hätten sich mit Al-Shaara/Al Jolani und mit Interims-Ministerpräsident Mohammad al-Bashir getroffen. Das neue syrische Informationsministerium erklärte, bei den Gesprächen sei es um die neue Führung in Syrien gegangen. Am Sonntag hieß es, dass Al-Sharaa/Al-Jolani sich mit Vertretern (in Zivil) der anderen bewaffneten Gruppen getroffen habe. Berichten zufolge sollen etliche dieser Kampfverbände mit dem Vorgehen von HTS nicht einverstanden sein.

Stimmen aus dem Off

Wer nicht in den vielen Medienberichten vorkommt, sind Vertreter der innersyrischen politischen Opposition, der Zivilgesellschaft und namhafter Persönlichkeiten. Eine solche Stimme ist der Historiker Dr. George Jabbour, ein ehemaliger Berater von Präsident Hafez al-Assad. In einem kurzen über soziale Medien verbreiteten Text fragt Jabbour (20.12.24): „Wer regiert mit Legitimität“ und antwortet: „Das Volk“. Das Volk regiere durch seine gewählten Institutionen, die nicht mehr vorhanden seien. In dem Fall müsse das Volk die Möglichkeit von Wahlen haben, diese wiederum könnten durch ein Referendum organisiert werden. Wer aber dieses Referendum organisiert, sei aktuell unklar, so Jabbour weiter. Es gäbe ein Gremium das regiere, das aber nicht durch das Volk (ein Referendum) sondern durch andere, durch Kräfte von außen legitimiert worden sei. Wenn das Volk sich nicht auflehne, werde dieses Gremium de facto legitimiert. Denn „die Zustimmung der Beherrschten, ihr Schweigen, ist eine Anerkennung der Legitimität des Unterdrückers“.

Egal, wie dieses Gremium nun heiße, das sich selbst einen Status gegeben habe, den es haben wollte, es trage Verantwortung für das Land. „Das syrische Territorium wird angegriffen, die Bevölkerung wartet auf die dringende Wiederherstellung der Versorgungseinrichtungen“, also müsse das Gremium, legitim oder nicht, handeln. Jabbour fordert eine „nationale Dialogkonferenz“, dafür müsse man nicht auf „Besucher von außerhalb Syriens warten“. Niemand habe ihn nach seiner Meinung gefragt, aber er vertrete sie, so Jabbour. Und tatsächlich steht er nicht allein.

Das syrische Volk ist eins

Am vergangenen Donnerstag (19.12.24) versammelten sich vor dem Opernhaus am Ommayyaden Platz mehr als 1000 Personen, wie die Geschäftsfrau HA der Autorin telefonisch berichtete. Sie selber sei mit Freundinnen dorthin gegangen, unklar, wer die Versammlung einberufen hatte. Männer und Frauen und viele junge Leute seien gekommen und hätten Schilder mit Parolen mitgebracht oder hätten sie dort gemalt. Es habe ein Mikrophon und einen Lautsprecher gegeben und ähnlich wie an der „Speaker‘s Corner“ am Hyde Park in London seien einzelne Leute ans Mikrophon getreten, um etwas vorzutragen.

Viele hätten über ihre schlimmen Erfahrungen unter der Assad-Regierung gesprochen, doch seien auch klare politische Positionen geäußert worden. Das Opernhaus solle wie alle Kulturzentren sofort wieder geöffnet und den Kulturschaffenden zur Verfügung gestellt werden, forderte eine Sprecherin. Syrien sei bekannt für seine Kultur, die wichtig für alle sei. Ein Redner forderte die Bewaffnung aller, wurde aber von der Menge ausgebuht. Zwei bewaffnete Vertreter von HTS hätten gesprochen und gesagt, sie wollten die Gesellschaft nicht nach Religionen aufspalten, aber die Versammlung müsse einbeziehen, dass viele Menschen eine religiöse, eine islamische Verfassung für Syrien wollten. „Die Religion ist für Gott, das Vaterland für alle“ wurde eine bekannte Parole den HTS-Kämpfern entgegengehalten. Frauen forderten eine Verfassung, in der die Gleichberechtigung der Frauen verankert sein müsse. Es gebe keine freie Gesellschaft, solange die Frauen nicht freu seien, war eine Parole, die gerufen wurde. Ein Redner sagte, wer von Minderheiten spreche, spalte schon das Land. In Syrien gebe es keine Minderheiten, sondern alle Syrer seien ein Volk. Auch die Angriffe Israels auf Syrien, die Besatzung durch fremde Truppen (Israel, Türkei, USA) wurde kritisiert und der Abzug aller Besatzungstruppen gefordert.

Die Rolle der Vereinten Nationen stärken

ES, Vertreter einer alten innersyrischen Oppositionspartei, sagte im Gespräch mit der Autorin, es gebe bei der politischen Opposition kein Vertrauen in die neue Führung, Man habe die fortschrittlichen, politischen Parteien und Zusammenschlüsse gesammelt und zahlreiche Treffen abgehalten, um zu einer Bewertung der aktuellen Situation in Syrien zu kommen. „Der Westen kann es gar nicht abwarten, mit diesem Al-Jolani zu reden, das sehen wir sehr kritisch“, so ES. Die Eile, mit der dieser „Mr. Nice“ von den westlichen Staaten akzeptiert werde deute daraufhin, dass „sie die gleichen Fehler wiederholen, wie 2011. Sie haben die innersyrische Opposition ausgegrenzt und nur die bewaffneten Gruppen von außen unterstützt“, so ES. Das sei ein wesentlicher Grund gewesen, warum, der innersyrische Dialog damals gescheitert sei.

Eine Versammlung von 70 Personen aus 32 Organisation, Nichtregierungsorganisationen und Parteien habe eine Stellungnahme veröffentlicht, berichtete ES. Darin wird der israelische Angriff auf Syrien und die Besetzung syrischen Territoriums sowie die Zerstörung der militärischen Infrastruktur der syrischen Armee verurteilt und als „äußerst gefährlich“ bezeichnet. Das „Schweigen der internationalen Gemeinschaft über diese israelische Aggression“ wird verurteilt. Die Einhaltung der UN-Sicherheitsratsresolution 2254 werde gefordert, um eine politische Lösung für Syrien zu gewährleisten. Dazu gehöre die „Teilnahme aller nationalen innersyrischen Kräfte, der Zivilgesellschaft und aller einflussreichen und aktiven Persönlichkeiten“. Alle arabischen Staaten, die die Einheit Syriens auf der Ebene von Territorium und Volk erhalten wollen, werden aufgefordert, „gegen die israelische Aggression in Südsyrien auf jede Art Widerstand zu leisten, auch unter Einbeziehung der Möglichkeit arabische Truppen zu schicken, um diese Besetzung zu verhindern.“

Der Gesprächspartner betonte gegenüber der Autorin, die Rolle der Vereinten Nationen müsse gestärkt werden, um den politischen Übergangsprozess organisieren zu können. Eine Verfassung müsse von einem Verfassungskomitee erarbeitet werden, es müsse Wahlen für eine Interims-Regierung geben, die den politischen Prozess mit Unterstützung der Vereinten Nationen umsetze. Wenn es dafür keine Unterstützung der internationalen Gesellschaft, vor allem des Westens gebe, werde Syrien mit Al-Jolani/Al-Sharaa einen „neuen Diktator“ bekommen. In dieser Situation die Sanktionen aufzuheben, sei das falsche Signal für die Syrer. HTS und seine Unterstützer im In- und Ausland gehe es nur darum, in Syrien ihre Geschäfte zu machen. Die Syrer brauchten aber eine neue politische Basis, auf der sie ihre Rechte verteidigen und ihr Land wiederaufbauen könnten.

Für ihn sei es unbegreiflich, wie die Europäische Union und die westlichen Staaten sich an die Seite der Nusra Front im Mittleren Osten stellen könnten. Wie solle diese Person, die Al Qaida, die Nusra Front und HTS in Syrien gegründet habe, plötzlich die Meinung ändern und sich als „Mr. Nice“ darstellen? „Ging es dem Westen nur darum, die iranischen Interessen in Syrien zu zerstören, um die Interessen solcher Gruppen wie Nusra und Al Qaida zu stärken?“

Titelbild: © Privat

Anhang: Statement of the Forces of the Syrian Interior [PDF]

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