Die Quote: Voraussetzung oder Hemmnis für die Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Programmauftrags?
Mit dem folgenden Beitrag setzen wir die mit dem Artikel von Erika Fuchs „Occupy WDR“ auf den NachDenkSeiten angestoßene Debatte über den Programmauftrag, über Qualitätsansprüche und journalistisches Profil des öffentlich-rechtlichen Rundfunks fort. Der WDR-Hörfunkdirektor hat auf unserer Website geantwortet und unsere Autorin hat kurz erwidert. Die Diskussion über dieses medien- und kulturpolitisch wichtige Thema – angestoßen durch eine Programmreform des Kulturradiosenders WDR 3 – hat inzwischen beachtlich große Kreise gezogen: Fast 17.000 Interessierte unterzeichneten einen Offenen Brief einer neu gegründeten Initiative für Kultur im Rundfunk, „Die Radioretter“.
Der „Initiativkreis Öffentlicher Rundfunk“ (IÖR) hat ein Symposion zum Thema „Was soll der öffentlich-rechtliche Rundfunk für die Gesellschaft leisten?“ veranstaltet. Gert Monheim hat uns sein dort gehaltenes Referat mit einer Kritik am Einfluss der Einschaltquote auf die Programminhalte zur Verfügung gestellt. Dr. Manfred Kops, der Vorsitzende des IÖR, hat auf dieser Tagung ein Schlusswort gehalten, das wir in einer überarbeiteten und erweiterten Fassung dokumentieren.
Die Quote als Kürzel für die programm- und medienpolitische Ausbalancierung des öffentlich-rechtlichen Programmauftrags
Der Begriff der Quote ist heute in vielen Referaten angesprochen worden. Er wurde dabei meistens nicht im Sinn der Werbewirtschaft verstanden, als Einheit zur Messung (und Abgeltung) des Erfolgs von Werbebotschaften, sondern allgemeiner, sozusagen als Kürzel für die programm- und medienpolitische Ausbalancierung des öffentlich-rechtlichen Programmauftrags. Ich möchte in meinem Schlusswort jetzt nicht auf die Inhalte der einzelnen Referate eingehen. Diese waren zu komplex, als dass man ihnen in den wenigen Minuten, die dafür zur Verfügung stehen, gerecht werden könnte. Deutlich geworden ist für mich aber, dass die wissenschaftlichen Positionen und Befunde zum öffentlich-rechtlichen Programmauftrag, wie sie unter anderem heute Vormittag entwickelt worden sind, stärker in die programm- und medienpolitischen Entscheidungen einfließen sollten.
Bei dieser Verknüpfung von Theorie und Praxis besteht noch Luft nach oben. So beziehen sich ARD und ZDF in den medienpolitischen Auseinandersetzungen gern – und auch zu Recht – auf die Argumente für einen staats- und kommerzfernen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, wie sie das Bundesverfassungsgericht in seiner ständigen Rechtsprechung entwickelt hat; diese Argumentation gilt uneingeschränkt auch für die neuen Medien. Bei konkreten Programmentscheidungen, etwa zur Ersetzung von Dokumentationen durch Talkformate auf attraktiven Sendeplätzen oder zur Ausstrahlung von Boxkämpfen, scheinen die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten diese Argumente aber doch häufiger aus dem Blick zu verlieren Ich kann da nur Herrn Monheim zustimmen, der in seinem Referat an konkreten Beispielen eindrucksvoll dargelegt hat, wie die Quotenorientierung die Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Programmauftrags erschwert.
Die Bedeutung der Quote im dualen System
Herr Monheim hat seine Kritik an der Quote dabei aus der Sicht eines Redakteurs, sozusagen aus der “Innensicht” entwickelt, beschränkt auf die innerhalb der öffentlich-rechtlichen Säule unserer dualen Rundfunkordnung wirksamen Einflüsse. Bei einer von außen vorgenommenen Betrachtung, bei der der öffentlich-rechtliche Rundfunk nur eine der beiden Säulen dieser dualen Ordnung darstellt und bei der er auch durch die “Performance” der anderen, der kommerziellen Säule beeinflusst wird, lassen sich weitere Vorbehalte gegenüber der Quote als Erfolgsmaßstab öffentlich-rechtlicher Angebote erkennen, auf die ich hier gerne noch hinweisen möchte. Sie knüpfen an einen Befund an, der wichtige Implikationen für die Ausgestaltung des dualen Systems hat: Die private und die öffentlich-rechtliche Säule des dualen Systems sind miteinander verbunden, sie hängen miteinander zusammen, und sie hängen voneinander ab.
Veränderungen der kommerziellen Säule des dualen Systems beeinflussen also auch den Funktionsauftrag der öffentlich-rechtlichen Säule, und sie verändern dessen Möglichkeiten, diesen Funktionsauftrag zu erfüllen. Wenn die Marktkräfte in der kommerziellen Säule stärker werden, wenn der Wettbewerbsdruck, vielleicht auch die Profitgier, zunehmen, so vermindert dies den Beitrag, den die kommerzielle Seite zur freien Meinungsbildung und zur gemeinwohlorientierten öffentlichen Kommunikation beisteuert. Dieser Beitrag entspricht schon heute nicht mehr den optimistischen Erwartungen, die manche mit der Zulassung privater Veranstalter Mitte der Achtziger Jahre verbunden hatten; eher haben sich die Befürchtungen derjenigen bestätigt, die auf die Logik der Märkte, vor allem der aus Werbung finanzierten Medienmärkte hingewiesen und daraus die Gefahr mangelnder Vielfalt und mangelnder Gemeinwohlausrichtung oder gar gemeinwohlschädlicher Ausrichtung abgeleitet haben. Das waren übrigens nicht in erster Linie Wirtschaftswissenschaftler, die die Funktionsweise und -ergebnisse des Marktes besonders gut kennen sollten, sondern vor allem Rechtswissenschaftler; auch die diesbezüglichen Ausführungen in den Rundfunkurteilen des Bundesverfassungsgerichts, damals zum Teil als Schwarzmalerei abgetan, haben sich im Rückblick als realistisch und weitsichtig erwiesen. Heute wird das Programmangebot der kommerziellen Rundfunkveranstalter – trotz einzelner positiver Ausnahmen wie ich finde zu Recht – als insgesamt “verflacht” oder gar “verdummend” kritisiert, vom „Unterschichtfernsehen“ ist gar die Rede. Die vorliegenden empirischen Untersuchungen, z. B. der aktuelle Programmbericht 2011 der Landesmedienanstalten, stützen nach meiner Ansicht eine solche Beurteilung, vor allem wenn man die privaten Angebote im Vergleich zu den öffentlich-rechtlichen Angeboten oder auch in der Langzeitentwicklung betrachtet. Ich glaube auch, dass dieses negative Urteil im Großen und Ganzen auch für die Telemedien gilt, auch wenn dazu noch keine ähnlich langfristigen und standardisierten empirischen Studien vorliegen wie für den linearen Rundfunk. Von daher dürfte auch die Gewährleistungsaufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks für die freie individuelle und öffentliche Meinungsbildung heute eher noch wichtiger sein als in früheren Zeiten des dualen Systems, in denen die Marktkräfte durch die publizistische Verantwortung von Verlegern und privaten Rundfunkveranstaltern noch gezähmt wurden (deshalb ist mir übrigens der Begriff des “dualen Systems” nicht sonderlich sympathisch; er bringt nur zum Ausdruck, dass es die beiden Säulen eines öffentlich-rechtlichen und kommerziellen Rundfunks gibt, nicht aber, dass sich über die Zeit die gesellschaftliche Leistungsfähigkeit und Wirkkraft dieser beiden Säulen erheblich verändern kann, und damit auch die Qualität der dualen Medienordnung insgesamt).
Race to the Bottom oder Race to the Top?
Für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist der rückläufige publizistische Wert der kommerziellen Angebote eine zweischneidige Sache. Einerseits wird er dadurch noch wichtiger, er wird, wie es das Bundesverfassungsgericht es formuliert hat, zu einer noch weniger verzichtbaren Voraussetzung dafür, dass private Angebote überhaupt zugelassen werden können. Er wird noch wichtiger für die Gewährleistung einer freien individuellen und öffentlichen Meinungsbildung, und er wird – ausgedrückt in der eher pragmatischen Sprache der Ökonomie – noch wichtiger für die Funktions- und Leistungsfähigkeit moderner medialer Gesellschaften.
Andererseits wird die Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks dadurch aber auch schwieriger. Seine Angebote müssen sich dann nämlich noch stärker von den kommerziellen Angeboten absetzen. Wenn sie das nicht tun, wenn sie dem Massengeschmack des Publikums nachgeben und sich den kommerziellen Angeboten angleichen, machen sie sich verwechselbar und verzichtbar. Sie tragen dann auch zum “Race to the Bottom” bei; zu dieser Wirkungsspirale, die sich ergibt, wenn die Rezeption von wenig Gutem und wenig Gemeinwohlorientiertem (wenngleich vom Rezipienten goutierten) zu einer Verarmung der Rezipientenerwartungen führt, die ihrerseits wieder durch noch schlechtere und noch weniger gemeinwohlorientierte (oder gar gemeinwohlschädliche) Inhalte bedient werden. Wenn sich die öffentlich-rechtlichen Angebote umgekehrt stärker von kommerziellen Angeboten absetzen, wenn sie versuchen, das von den Privaten in Gang gesetzte “Race to the Bottom” aufzuhalten und die von ihnen ausgehenden negativen gesellschaftlichen Wirkungen durch ein in Anspruch, Qualität und Vielfalt erhöhtes Angebot zu kompensieren oder gar in ein „Race to the Top“ umzukehren, so entfernen sich noch weiter vom Massengeschmack, und sie verlieren dann weiter an Publikum. In einer Welt, in der der Zuspruch des Publikums, die Quote, als Maßstab für die Qualität, den Erfolg und die gesellschaftliche Akzeptanz von Medienangeboten betrachtet wird und in der die Politik anhand dieser Maßstäbe über die Auslegung und Finanzierung des Programmauftrags entscheidet, läuft der öffentlich-rechtliche Rundfunk Gefahr, sich durch eine solche kompensatorische Programmpolitik selbst abzuschaffen. Medienpolitiker, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf ein elitäres, überambitioniertes Nischenprogramm beschränken wollen, erhöhen diese Gefahr.
Ebenso energisch ist aber auch denjenigen zu widersprechen, die hohe Quoten als Ausdruck und Voraussetzung für die Existenzberechtigung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks betrachten. Angesichts des Auseinanderdriftens der beiden Säulen des dualen Systems kann heute nicht einmal mehr gefordert werden, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk die früher von ihm erreichten Quoten verteidigt. Das könnte er wegen der Veränderungen der kommerziellen Angebote – nicht nur des Rundfunks, sondern auch der anderen Mediengattungen – nur, wenn er noch mehr Abstriche an seinem Auftrag machen würde, durch vielfältige und publizistisch hochwertige Angebote zur freien Meinungsbildung im dualen System beizutragen.
Veränderungen des Quotenerfolgs öffentlich-rechtlicher Angebote im Zeitablauf sind deshalb auch kein Beleg für Veränderungen ihrer Qualität, noch sind sie Beleg für Veränderungen ihres Programmanspruchs. Wertungen sind nur unter Berücksichtigung der veränderten Performance der kommerziellen Säule und der (dadurch zum Teil verursachten) säkularen Veränderungen des Publikumsgeschmacks möglich.
Unter Berücksichtigung dieser strukturellen Faktoren des dualen Systems muss öffentlich-rechtliches Programm immer wieder neu ausbalanciert werden zwischen einem unterambitionierten Angebot, das sich zu stark an den Publikumsgeschmack (und damit zugleich an das Angebot der Privaten) angleicht, und einem überambitionierten Angebot, das nicht die von ihm zu erwartenden und erzielbaren gesellschaftlichen Wirkungen entfaltet, weil es zu wenige Bürger erreicht. Diese Notwendigkeit zur Ausbalancierung ist grundsätzlich seit langem erkannt und ausführlich thematisiert worden. Die Kommunikationswissenschaftler Rowland und Tracey haben sie schon 1989 in ihrem Aufsatz “Selbstmord aus Angst vor dem Tod” treffend beschrieben. Die Passage zwischen Skylla und Charybdis ist heute aber noch enger geworden und für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk noch schwerer bestimmbar.
Die Arithmetik der Kaigasse
Die dahinter stehende Optimierungsaufgabe lässt sich gut mit der Arithmetik der Kaigasse beschreiben, die allen Kölnern geläufig ist, zumal so kurz nach Karneval. Die lautet im Text des Lieds von Willi Ostermann: “Drei mol Null is Null”. Übersetzt auf unser Thema: Wenn drei Zuschauer ein Programm rezipieren, das keinerlei öffentlich-rechtlichen Mehrwert besitzt, ist das Ergebnis für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nutzlos, genauer: dann brauchen wir ihn nicht. Das gilt gleichermaßen auch für “Dreitausend mol Null”, für “Drei Millionen mol Null” (was etwa das doppelte an Zuschauern wäre, die Thomas Gottschalk derzeit mit seinem Vorabendtalk erreicht), und für “30 Millionen mol Null” (was etwa der Publikumsgröße entspricht, die heute noch mit den quotenträchtigsten Sportübertragungen erreicht werden kann).
Das gleiche Ergebnis ergibt sich allerdings auch, wenn man die Mengenkomponente und die Wertkomponente umkehrt: “Null mol Drei” ist ebenfalls Null, sprich: Auch ein Programm, dessen Inhalte dem öffentlich-rechtlichen Programmauftrag entsprechen, aber von niemandem rezipiert werden, ist für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk – und man muss hinzufügen: auch für die Gesellschaft – nutzlos. Gleiches gilt Angebote mit einer zehn- oder hundertmal höheren Wertkomponente, die von niemandem zur Kenntnis genommen werden: Auch “Null mol 30” und “Null mol 300” ist Null. Dieses Gesetz der Kölner Kaigasse ist übrigens auch in der Finanzwissenschaft bekannt – als sogenanntes “Swiftsches Steuereinmaleins”, das besagt, dass mit einem (ich sage mal wieder: unterambitionierten) Einkommensteuersatz von 0 % selbst eine riesige Bürgerschaft kein Steueraufkommen aufbringt, ebenso wenig aber auch bei einem (offensichtlich überambitionierten) Steuersatz von 100 % (bei dem kein Bürger mehr bereit ist, steuerpflichtige Einkünfte zu erwirtschaften).
Wie dort geht es auch bei der Ausgestaltung des öffentlich-rechtlichen Programmauftrags offensichtlich um eine Optimierung des Produktes aus einer Wertkomponente und einer Mengenkomponente. Insofern ist auch richtig, dass Informationen über den Quotenerfolg von Sendungen hilfreich sind. Aber man sollte hinzufügen, dass sie in die Irre führen, wenn sie den einzigen Maßstab für die Programmplanung bilden.
In der Praxis ist die Optimierung des Produkts von Wert- und Mengenkomponente aus mehreren Gründen auch eine äußerst schwierige Aufgabe. Unstrittig ist zwar, dass bei einem überambitionierten Programmangebot, das so weit vom Publikumsgeschmack entfernt ist, dass es von niemandem rezipiert wird, eine Absenkung der Wertkomponente erforderlich ist; und ebenso unstrittig ist, dass bei einem unterambitionierten Programmangebot, das sich in keiner Weise von den Angeboten der Privaten unterscheidet, die Wertkomponente erhöht werden muss. Innerhalb dieser Grenzfälle ist der trade-off aber schwer. Ob und wie ein Programm statt einem Produkt von 0 (wie es für die Grenzformen “drei mol Null” und “null mol drei” anfiele) zum Beispiel ein Produkt von 2 (“Ein mol zwei”) oder 4 (“Zwei mol zwei”) erreichen kann, oder sogar ein Produkt von 4,095 (“2,1 mol 1,95”), ist schwer zu sagen. Dafür müsste z. B. geklärt sein, ob die Abstriche am öffentlich-rechtlichen Programmauftrag, die mit einer “Boulevardisierung” von Nachrichtensendungen verbunden sind, durch eine zugleich erhöhte Quote kompensiert oder gar überkompensiert werden. Dass konsensuale Entscheidungen auf diesem Wege getroffen werden könnten, ist illusorisch angesichts der großen Meinungsunterschiede über den publizistischen Wert von Medieninhalten und -formaten und angesichts der gravierenden methodischen Schwierigkeiten, die mit der Operationalisierung der Wertkomponente, aber auch der Mengenkomponente, verbunden sind.
Audience-Flow und Senderbindung als Argumente für die Quote
Diese Schwierigkeiten erhöhen sich noch dadurch, dass alle Programmangebote sich auf die Wert- und Mengenkomponenten anderer Programmangebote auswirken. So kann eine einschaltstarke Unterhaltungssendung, die selbst keinen öffentlich-rechtlichen Mehrwert transportiert und gemäß der “Drei mol Null-Regel” der Kaigasse keinen Platz im öffentlich-rechtlichen Rundfunk haben dürfte (die Übertragung eines Boxkampfes?), die Zuschauerschaft, die „Mengenkomponente“ einer daran anschließenden Sendung mit hoher Wertkomponente (“Das Wort zum Sonntag”?) erhöhen. Wenn sie durch diesen Audience-Flow indirekt ebenfalls einen Beitrag zum öffentlich-rechtlichen Programmauftrag leistet, kann sie als Bestandteil des öffentlich-rechtlichen Angebotes gerechtfertigt sein. Ähnlich kann für Angebote argumentiert werden, die dem Image oder der Senderbindung der öffentlich-rechtlichen Anstalten dienen (Sportübertragungen?) – und damit indirekt ebenfalls zur Erhöhung der Zuschauer- und Zuhörerschaft derjenigen ihrer Angebote beitragen, die einen hohen öffentlich-rechtlichen Mehrwert bieten.
Dieses Argument verliert erst seine Berechtigung, wenn sich die Mediennutzer ihre Inhalte jeden Tag und jede Minute neu zusammenstellen, wenn ihr Nutzungsverhalten nicht mehr von Gewohnheiten und Erfahrungen mit früheren Nutzungen beeinflusst wird, wenn der „relevant set“ nicht 10, sondern 100 oder 500 Anbieter umfasst. In diesem Sinn „perfekte Märkte“, auf denen „homogene“ Güter ohne Suchkosten ausgetauscht werden, wird es für die Medien aber nie geben (nicht einmal für die neuen audiovisuellen Dienste, bei denen die Transaktionskosten zur Reduzierung von Informationsasymmetrien geringer sind als beim linearen Rundfunk). Weil Teile der Medien immer „Vertrauensgüter“ bleiben werden, deren Qualität die Nutzer nicht direkt beurteilen können, werden bei ihrer Auswahl immer auch die Erfahrungen einbezogen werden (müssen), die die Nutzer mit früheren Angeboten gemacht haben; insofern wird die Reputation der Anbieter, man könnte auch sagen: die Anbieter- bzw. Senderbindung, stets eine Rolle spielen, und insofern wird es auch immer berechtigt bleiben, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk Angebote, die einen hohen Public Value bieten, aber nur kleine Publika erreichen, mit Angeboten kombiniert, die sich von kommerziellen Angeboten kaum oder auch überhaupt nicht unterscheiden, aber breite Publika ansprechen. „Anfüttern“ nennt man das in der Anglersprache. Dieses Ergebnis lässt sich sowohl mit der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Rechtsfigur der Grundversorgung (im Sinn von Vollversorgung) vereinbaren als auch mit der in den Wirtschaftswissenschaften üblichen Begründung jeder nicht-marktlichen Güterbereitstellung aus der Existenz von “Marktmängeln”. Wenn man genau hinschaut und bei der Bestimmung solcher Mängel die Befunde anderer Wissenschaften, etwa der Publizistikwissenschaft, zur Kenntnis nimmt, führt diese ökonomische Herangehensweise nämlich keinesfalls zu einem öffentlich-rechtlichen “Nischenrundfunk”, der nur das anbieten darf, was als nicht profitabel in den kommerziellen Angeboten fehlt.
Anfüttern ja, aber nur mit vertretbaren Streuverlusten
Aufgrund der methodischen Schwierigkeiten, die Bedeutung von Audience-Flow und Senderbindung zu messen, ist es gleichwohl strittig, in welchem Umfang ein solches „Anfüttern“ stattfinden sollte. Bisweilen wird das Argument wohl überzogen, um Programmentscheidungen, die ausschließlich der Quotenmaximierung dienen, kompatibel zu machen mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an öffentlich-rechtliche Angebote. Zweifelhaft wird das vor allem dann, wenn die Früchte einer höheren Anbindung an die öffentlich-rechtlichen Vollprogramme gar nicht mehr geerntet werden können, weil die spezifisch öffentlich-rechtlichen Programmangebote in Spartenkanäle oder Digitalkanäle ausgelagert worden sind. In einem Teich, in dem es keine Fische mehr gibt, würde es auch keinen Sinn mehr machen, anzufüttern. Anders formuliert: Die mit einer Verstopfung von attraktiven Sendeplätzen, auf denen nur noch „angefüttert“ wird (Vorabendprogramm, Prime Time, langes Sportwochenende), verbundenen „Streuverluste“ sind dann unvertretbar hoch, weil genau diese Sendeplätze zugleich für die Programme nicht mehr zur Verfügung stehen, mit denen der öffentlich-rechtliche Programmauftrag am besten erfüllt werden könnte.
Hinzu kommt, dass der Nutzen bestimmter Programmangebote sich erst im Lauf der Zeit erschließt, manchmal erst nach der ein- oder auch mehrmaligen Wiederholung, oder/und erst im Zuge einer “Anschlusskommunikation” über andere Medien, etwa über die Presse oder über Blogs im Internet. Deutlich wird dies zum Beispiel bei Gesundheitsmagazinen, die medizinische Erkenntnisse publizieren und deren Verbreitung und Verwertung fördern, bei investigativen politischen Magazinen, die gesellschaftliche Missstände aufdecken und – etwa nach intensiver Diskussion in den Printmedien und ihrer Diffusion in den politischen Raum – deren Beseitigung vorbereiten, oder auch bei den öffentlich-rechtlichen Kulturwellen, deren zahlenmäßig kleine Publika viele Multiplikatoren umfassen, die die Kulturszene, das kulturelle Leben insgesamt, wesentlich beeinflussen. Die aktuelle Debatte um die Reform des WDR 3 Hörfunkprogramms liefert hierzu zahlreiche Einsichten.
Die mittelbaren Wirkungen dieser Angebote gehen also weit über den Kreis der Rezipienten hinaus, sie erreichen und begünstigen wesentlich mehr Personen, als es in der Quote zum Ausdruck kommt, möglicherweise alle Bürger des Landes. Also 80 Millionen bei einem Programm, das eine Quote von vielleicht 100.000 Zuhörern oder Zuschauern erzielt hat! Auf die damit verbundene Unterscheidung zwischen dem vom Markt bedienten „Konsumentennutzen“ und dem vom Markt vernachlässigten „Bürgernutzen“ der Medien habe ich an anderer Stelle aufmerksam gemacht, ebenfalls auf die sich daraus ergebenden Verpflichtungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, seinen Programmentscheidungen eben nicht die Zahl der direkt erreichten „Konsumenten“ zugrunde zu legen. Auch aus dieser Perspektive wird deutlich, dass die Quote selbst als Maßstab für die Mengenkomponente der Angebote wenig taugt, und dass sie eine Programmpolitik, die sich auf diesen Maßstab bezieht, fehlleitet.
Schluss mit dem Quatsch der Quote
Dass die Quote die Entscheidungen vieler Programmverantwortlicher noch immer (oder immer mehr?) beeinflusst, ist angesichts all dieser Mängel erstaunlich. Es wird Zeit, diese Unsitte zu beenden, vor allem bei den öffentlich-rechtlichen Anbietern, aber auch bei den kommerziellen Anbietern, die schließlich ebenfalls gesellschaftlichen Zielen verpflichtet sind. Die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit der Operationalisierung der Mengen- und Wertkomponente medialer Angebote befasst haben, und auch die Methodiker, die an der empirischen Messung dieser Konzepte gearbeitet haben, sind dazu aufgerufen, ihre Überlegungen stärker miteinander zu verzahnen und Maßzahlen zu entwickeln, die den gesellschaftlichen Wert, den Public Value der Medien, ausdrücken. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk sollte dabei eine Vorreiterrolle einnehmen, auch im eigenen Interesse.