Der Heilige Abend, an dem wir nicht zur Kirche gingen

Der Heilige Abend, an dem wir nicht zur Kirche gingen

Der Heilige Abend, an dem wir nicht zur Kirche gingen

Ein Artikel von: Redaktion

Der Winter von 1947 auf 1948 war zwar nicht so schrecklich kalt wie die beiden vorangegangenen Winter, aber wir froren nach wie vor in unserer Barackenunterkunft und hatten nur wenig zu essen. Wie wir, lebten in dem Barackenlager vor der Stadt noch mehr als hundert Flüchtlinge und Vertriebene, die hofften, bald in ihre alte Heimat in Schlesien oder Ostpreußen zurückkehren zu können. Weihnachten rückte näher, in der Stadt war in einigen Schaufenstern mit Sternen und bunten Kugeln geschmücktes Tannengrün zu bewundern, und über die Einkaufsstraße waren ein paar kümmerliche Girlanden gespannt. Eine Nachkriegsgeschichte von Wolfgang Bittner.

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Das führte allerdings nicht dazu, dass bei uns so etwas wie Weihnachtsstimmung aufkam. Mein Vater, der in den letzten Kriegstagen noch schwer verwundet worden war und erst kürzlich seine Krücken weggelegt hatte, war der Meinung, dass wir trotz allem Weihnachten feiern sollten. Das sei Tradition, sagte er, und man müsse allmählich zu normalen Verhältnissen zurückkehren. Also begann meine kleine Schwester, einen Topflappen als Geschenk für unsere Mutter zu häkeln, und ich überlegte, was es an den Feiertagen außer Kartoffeln oder Steckrüben zu essen geben könnte. Ein Festtagsbraten schwebte mir vor, aber das schien eine Illusion zu sein, denn Fleisch konnten wir uns nicht leisten.

Nun hatten meine Eltern gehört, dass in der Pfarrei manchmal sogenannte Care-Pakete verteilt wurden, die von wohlmeinenden Menschen aus den USA kamen. Darin befanden sich Corned Beef, Trockenobst, Schmalz, Zucker, Mehl, Kakao, Kaffee und sonstige wertvolle Lebensmittel. Danach hatte meine Mutter bei passender Gelegenheit den Pfarrer gefragt. Doch der hatte ihr eine drastische Abfuhr erteilt: „Wer nicht regelmäßig in die Kirche kommt, so wie Sie und ihre Familie, hat keinen Anspruch auf solche Gaben“, war seine Antwort gewesen.

Dennoch hatte die mitleidige Haushälterin, die auch aus Schlesien kam und meine Mutter kannte, hinter dem Rücken des Pfarrers ein paar Lebensmittel zusammengepackt: Ein Kilo Mehl, etwas Speck, eine Dose mit Pfirsichen und ein Pfund ranzig gewordene Butter. Immerhin. Es reichte, den Speisezettel für ein paar Tage aufzubessern.

Damals las ich mit heißen Ohren Abenteuerromane, die im amerikanischen Westen und im kanadischen Norden spielten. Ich konnte sie für fünf Pfennige bei einem Friseur ausleihen, der in seinem Laden eine kleine Leihbibliothek eingerichtet hatte. Und manchmal stieß ich dabei auf lehrreiche Anleitungen zum Bau von Fallen und zum Auslegen von Schlingen, mit denen man wilde Tiere fangen konnte.

Natürlich ging es mir nicht um Pelztiere oder Wölfe. Aber in der Nähe des Barackenlagers gab es zwischen den Feldern ein sandiges, von Disteln, Heidekraut und Büschen überwuchertes Gelände um einen von den Engländern gesprengten Bunker herum, in dem während des Kriegs Munition gelagert worden war. Dort hatte ich Kaninchen bemerkt, und dort fand ich auch eine alte Elektrospule mit Kupferdraht, aus dem sich ausgezeichnete Schlingen herstellen ließen.

Inzwischen war es Mitte Dezember geworden und vereinzelt hatte es ein wenig geschneit, sodass ich die Kaninchenpfade nachverfolgen konnte. So ein Kaninchenbraten wäre ein wunderbares Weihnachtsessen, dachte ich und begann, mehrere Schlingen zu legen. Und tatsächlich hatte ich kurz vor Weihnachten Erfolg. Da mein Vater sich nicht in der Lage fühlte, meiner Beute das Fell abzuziehen, wie er sagte, bat ich einen Nachbarn, es mir zu zeigen. Kein Problem, ich zerlegte das Kaninchen, und schon am nächsten Tag, dem Heiligen Abend, brutzelten am späten Nachmittag mehrere köstlich duftende Bratenstücke in der Pfanne.

Wir konnten uns nach längerer Zeit wieder einmal richtig satt essen. Zum Nachtisch gab es Pfirsichhälften aus der Dose, die meine Mutter in der Pfarrei erbettelt hatte. Wir schwelgten, und nach dem Essen bereiteten die Eltern den Heiligen Abend vor. Ein kleiner Tannenbaum, den mein Vater nachts heimlich aus dem Wald geholt hatte, wurde mit Lametta, Sternen aus Silberpapier und ein paar Kerzen geschmückt, die uns die Haushälterin des Pfarrers geschenkt hatte.

Draußen schneite es ein wenig, der Heilige Abend hatte begonnen und der Weihnachtsbaum glänzte in hellem Kerzenschein. Wir sangen die alten Lieder und tranken heißen Tee mit dem erahnbaren Geschmack von Zucker. Dann wurden die Weihnachtsgeschenke ausgepackt. Erstaunlich, was da zusammenkam: Der Topflappen für die Mutter, ein geschnitzter Brieföffner und ein Paar Socken für den Vater und ein Pullover für meine Schwester, den die Mutter abends gestrickt hatte, wenn wir Kinder schon im Bett waren. Ich bekam endlich das Taschenmesser, das ich mir schon lange gewünscht hatte; außerdem ein Buch, in dem ich sofort zu lesen begann. Es handelte von einem Jungen namens Mogli, der seine Eltern verloren hatte und im Dschungel bei Wölfen aufwuchs. Ich kam den ganzen Abend nicht mehr davon los.

Später beschlossen meine Eltern, zur Mitternachtsmesse in die Kirche zu gehen. „Das haben wir zu Hause immer so gemacht“, sagte meine Mutter und meinte damit: zu Hause in Schlesien. Sie wandte sich an uns Kinder und meinte: „Weil Weihnachten ist, dürft ihr ausnahmsweise länger aufbleiben und mitkommen.“

Doch meine Schwester erklärte kategorisch, dass sie nicht mitgehen werde. Was denn in sie gefahren sei, wollte unsere Mutter wissen, warum sie denn um Himmels willen nicht mit in die Kirche gehen wolle. „Das fragst du noch?“, erwiderte meine Schwester aufgebracht, wie ich sie selten gesehen hatte. „Erinnerst du dich nicht, wie dich der Pfarrer neulich abgefertigt hat, als Du nach einem Care-Paket gefragt hast? Und dem soll ich zuhören, wenn er von der Geburt des armen Jesuskindes spricht?“

Darüber wurde des Längeren diskutiert, und auch an späteren Weihnachtsfesten war das Aufbegehren meiner Schwester immer mal wieder ein ergiebiges Gesprächsthema. An diesem Heiligen Abend gingen wir jedenfalls nicht zur Kirche. Wir sangen noch “Es ist ein Ros entsprungen“ und “Stille Nacht, heilige Nacht“ und gingen eigentlich recht glücklich und miteinander versöhnt zu Bett.

Über den Autor: Der Schriftsteller und Publizist Wolfgang Bittner ist Autor zahlreicher Bücher, darunter der Roman „Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen“, Verlag zeitgeist 2019. Siehe auch https://wolfgangbittner.de

Titelbild: Roland Oster/shutterstock.com

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