Ein juristisches Gutachten betont eine staatliche Schutzpflicht gegenüber denen, die bei der Digitalisierung nicht mitmachen können oder wollen. In der Realität werden die Betroffenen immer mehr abgehängt und ausgegrenzt. Der öffentliche Sektor steht dem privaten dabei in nichts nach. Alles, was Kosten spart oder Profite verspricht, könnte es bald nur noch online geben. Dem muss der Gesetzgeber einen Riegel vorschieben – in der Verfassung. Von Ralf Wurzbacher.
Bloß die Idee eines Rechts oder gar Grundrechts auf ein analoges Leben wäre vor 30 Jahren gewiss müde belächelt worden. Dass man damals ein weit überwiegend analoges Leben führte, dürfte kaum einem bewusst gewesen sein, geschweige denn, dass dieses irgendwann einmal gegen ein digitales Leben behauptet werden müsste. Das Internet steckte noch in den Kinderschuhen, war vor allem Spielwiese für Nerds, und nur die größten Enthusiasten sahen die technischen, ökonomischen und kulturellen Umbrüche kommen, die heute so bestimmend, ja beherrschend sind in unserer Welt der Bits und Bytes. Wobei „beherrschend“ sich längst im buchstäblichen Sinne versteht: Die Digitalisierung übt Macht über uns aus beziehungsweise tun dies die politischen und wirtschaftlichen Kräfte, die sich ihrer zur Sicherung ihrer Interessen bedienen.
Aber die wenigsten ahnen das oder stören sich daran. Die allermeisten glauben, nichts als Vorteile für sich zu verbuchen: die unbegrenzten Möglichkeiten, Informationen zu beschaffen, über alle physikalischen Grenzen hinweg zu kommunizieren, allzeit zu konsumieren und ganz bequem die tollsten Dienstleistungen zu beanspruchen. Die Kehrseiten nehmen sie nicht wahr oder sehen darüber hinweg, während sie sich mit ihrem Smartphone freiwillig einer Rundumbeschattung ausliefern, in erster Linie durch kommerzielle Akteure, mithin aber auch staatliche Stellen, Geheimdienste oder Kriminelle. Und sie bemerken nicht, dass andere ausgeschlossen, ins Abseits gedrängt werden. Denn wo eine Mehrheit durch ihr Verhalten neue Standards setzt, bleiben Minderheiten auf der Strecke: Menschen, die bei all dem Neuen nicht mitmachen können oder wollen, und solche, die zum Mitmachen genötigt sind.
Mensch ist kein Objekt
Für sie alle brauche es ein „Recht auf analoge Teilhabe“, findet der Verein Digitalcourage. Aber nicht irgendeines: Um echte Wirkung zu entfalten, gehöre die Bestimmung ins Grundgesetz, als ein neues Grundrecht neben andere wie das auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit oder das auf ein menschenwürdiges Leben. Um Würde geht es auch bei der Digitalisierung. In der Vorwoche stellte die Initiative ein Rechtsgutachten des Netzwerks Datenschutzexpertise vor. Erfolge eine „totale Digitalisierung des Alltags, so wird die Schwelle des Würdeverstoßes überschritten“, heißt es in der von Karin Schuler und Thilo Weichert verfassten Analyse, und weiter: „Der Mensch darf nicht zum ausschließlichen Objekt der Technik werden.“
Laut Statistischem Bundesamt hatten 2022 knapp sechs Prozent der zwischen 16- und 74-jährigen Bürger in Deutschland noch nie das Internet genutzt. Das sind nahezu 3,4 Millionen Menschen. Die größten Anteile fallen auf die über 65-Jährigen mit 17 Prozent Netzabstinenz, bei den zwischen 45- bis 64-Jährigen sind es fünf Prozent und selbst von den unter 45-Jährigen sind es immerhin zwei Prozent. Oft sind die Betroffenen, gerade die älteren, schlicht überfordert von den technischen Herausforderungen oder wegen Krankheit oder Behinderung eingeschränkt. Andere hingegen können sich die nötigen Geräte und Anschlüsse finanziell nicht leisten. Wieder andere meiden die neuen Techniken aus Sorge um ihre Daten zwecks Bewahrung ihrer informationellen Selbstbestimmung. Zu besagten über drei Millionen Offlinern kommt obendrein eine nicht bezifferte Gruppe an Menschen, die zwar einen PC, aber kein Smartphone haben, sowie diejenigen, die die Digitalisierungswelle nur widerwillig mitreiten, weil sie andernfalls bestimmte Bedürfnisse nicht erfüllen können. Kurzum: Eine sehr beträchtliche Kohorte der Bevölkerung ist in ihren Freiheiten beschränkt, wenn offline so gut wie nichts mehr läuft.
Online oder nichts
Und genau dahin geht der Trend. Die Studie liefert eine ganze Reihe an Beispielen: Inzwischen setzen fast alle Banken auf digitale Kontoverwaltung, dünnen ihr Filialnetz aus und verlangen Gebühren für eine Kontoführung auf Papier. Die Terminvereinbarung beim Arzt erfolgt immer häufiger über Vermittlungsplattformen (Doctolib). Eintrittskarten für Museen, Schwimmbäder oder Freizeitparks lassen sich vielfach nur noch elektronisch erwerben. Es gibt Strom-, Gas-, Wasser- und IT-Anbieter, die inzwischen vollständig auf Onlinekommunikation umgestellt haben und die Entgegennahme von Mitteilungen per Post oder Telefon verweigern. Bei Kultur- und Sportveranstaltungen lässt sich der Erwerb von Eintrittsberechtigungen zum Teil nur noch per Smartphone nachweisen. Digitalzwang entsteht auch dort, wo Einkaufsmöglichkeiten vor Ort so beschränkt sind, dass die Befriedigung von Grundbedürfnissen nur mehr durch Onlineshopping möglich ist.
Mit schlechtem Beispiel voran geht ausgerechnet die Deutsche Bahn. Ein Bahnticket ohne PC oder Smartphone zu erwerben, ist heute nur mit Zumutungen zu bewältigen. Schalter im Bahnhof sind rar, das Personal ist wegrationalisiert und die Fahrscheinautomaten bringen Kunden zum Verzweifeln. Die Bahncard gibt es neuerdings nicht mehr als „Card“. Wer kein Smartphone hat, muss im Zug einen papiernen Fresszettel vorzeigen. Auch im hoheitlichen Bereich brechen traditionelle, analoge Strukturen weg. So mussten 2,8 Millionen Studierende und Fachschüler 2023 zur Beantragung einer Energiepreispauschale von 200 Euro eine „BundID“ einrichten, ein digitales Nutzerkonto, worüber sich nach dem Leitbild „E-Government“ Verwaltungsleistungen unterschiedlichster Behörden online beantragen lassen. Die bayerische Künstlerförderung ist nur digital beantragbar. In Baden-Württemberg sind öffentliche Bekanntmachungen, etwa in Form eines Aushangs, nicht mehr verpflichtend.
Hotline und Servicewüste
Die Aufzählung gibt auch einen Eindruck davon, dass die Digitalisierung längst nicht immer die Verheißungen einlöst, mit denen Politik und Wirtschaft sie so gerne bewerben. Mit einem Klick einzukaufen, ist komfortabel und oft billiger als im stationären Einzelhandel. Bei der Mehrzahl an Dienstleistungen, vor allem denen zur Daseinsvorsorge – Energie, Post, Telekommunikation, Gesundheit, öffentliche Verwaltung –, ist Digitalisierung dagegen ein Synonym für Servicewüste. Die neuen Techniken dienen vor allem der Kosteneinsparung, dem Abbau der Vorortversorgung und -betreuung und der Streichung von Arbeitsplätzen. Wen das Bürgeramt oder der Kinderarzt in seinen Hotlines hängen lässt, kann nach zehn Minuten ein Liedchen davon summen. Was Mensch bei all dem vor allem verlernt, ist der direkte, verbale Austausch mit anderen, also das Zwischenmenschliche oder anders: seine Menschlichkeit.
So schwarz will man bei Digitalcourage nicht sehen. Vielmehr erkennen die Gutachter an, dass Digitalisierung durchaus zu größerer Bürgernähe und Wirtschaftlichkeit führen könne. Aber es gelte, eine Balance herzustellen zwischen den Interessen derer, die profitieren, und den Belangen jener, die nicht daran teilhaben können oder wollen. Tatsächlich bestehen bereits gesetzliche Vorschriften, die regeln, wann hoheitliche Aufgaben rein digital erfüllt werden können und wann es einer analogen Alternative bedarf. So sind Ausnahmen von der elektronischen Übermittlung der Einkommensteuererklärung festgelegt. Beim Parken ohne Barzahlung darf auf die Parkscheibe zurückgreifen, wer nicht über elektronische Zahlungsmittel verfügt. Dies seien aber nur Einzelregelungen für besondere Fälle, und insbesondere für private Dienstleistungen fehlten klare juristische Vorgaben, monieren die Autoren.
Frankreich macht‘s vor
Hier müsse der Gesetzgeber eingreifen. „Wenn ein Vertragspartner so viel Gewicht hat, dass er den Vertragsinhalt einseitig bestimmen kann, ist es Aufgabe des Rechts, hier für Ausgewogenheit zu sorgen“, und gebe es eine „staatliche Schutzpflicht, eine zumutbare Alternative zu garantieren“.
Verwiesen wird auf den Fall Frankreich, wo 2023 ein Gesetz über öffentliche Dienste verabschiedet wurde, das besage: „Niemand darf gezwungen werden, in seinen Beziehungen mit der Verwaltung auf entmaterialisierte Verfahren zurückzugreifen.“ Das bekräftige auch ein Recht, mit Menschen zu interagieren. „Ein sinnvolles Nebeneinander von Digitalisierung und analogen Alternativangeboten ist weder fortschrittshemmend noch unzumutbar“, lautet ein Fazit der Expertise.
Konkret zielen die Initiatoren darauf, Artikel 3 des Grundgesetzes, der Benachteiligung und Diskriminierung untersagt, um ein Verbot zu ergänzen, Menschen bei der Grundversorgung zu benachteiligen, wenn sie ein bestimmtes Gerät oder eine digitale Plattform nicht nutzen. Wer die Forderung unterschreiben will, kann dies tun. Digitalcourage hatte schon im Mai anlässlich des 75-jährigen Bestehens der Verfassung eine entsprechende Petition gestartet. Diese richtet sich ausdrücklich auch an solche Bürger, die gerne online unterwegs sind. Denn: „Auch wenn wir selbst gerne die Technik nutzen, sollten wir uns trotzdem dafür einsetzen, dass es stets eine nicht-digitale Alternative gibt.“
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