Viereinhalb Stunden dauerte am Donnerstag die alljährliche Pressekonferenz des russischen Präsidenten, an der sich sowohl Journalisten als auch Bürger beteiligten. Wladimir Putin und die Journalisten saßen in einem Saal im Messezentrum Gostinyj Dwor, unweit des Roten Platzes. Die Bürger wurden live per Video zugeschaltet oder es wurden Telefonanrufe eingeblendet. Das Themenspektrum reichte von der Inflation, Problemen im sozialen und Gesundheitsbereich bis hin zum Ukraine-Krieg und Syrien. Aus Moskau berichtet Ulrich Heyden.
Zwei Moderatoren lasen Fragen der Bürger vor. Der Pressesprecher von Putin und der russische Präsident selbst wählten aus der großen Schar der Journalisten Fragesteller aus, die auf sich aufmerksam machten, indem sie Schilder mit Themen oder mit den Namen ihrer Städte oder Regionen hochhielten.
Die Macher der Veranstaltung (Stenogramm auf Englisch) hatten sich einiges ausgedacht, damit sich möglichst viele Menschen in der Fragestunde wiederfanden. Es kamen Jugendliche, Rentner, Soldaten, Menschen aus Städten und Dörfern zu Wort. Tagelang hatten die russischen Medien für die Veranstaltung, die auf Fernsehkanälen und im Internet übertragen wurde, geworben. Schon in den Tagen vor der Veranstaltung wurden Videos mit Fragen von Bürgern im Fernsehen gesendet. Insgesamt 2,4 Millionen Fragen an den Präsidenten wurden eingereicht. Sie wurden mit Mitteln der künstlichen Intelligenz sortiert, wie stolz verkündet wurde.
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„Ist die Welt verrückt geworden?“
Diese Frage wurde Putin gleich zu Beginn der Veranstaltung von einer Moderatorin gestellt. Der Kreml-Chef lächelte und spulte eine paar russische Wirtschaftsdaten runter, die wohl zeigen sollten, dass zumindest mit der russischen Wirtschaft alles in Ordnung sei, dass sie zumindest in einem viel besseren Zustand ist als die Wirtschaft in der EU. In diesem Jahr gäbe es in Russland ein Wirtschaftswachstum von 3,9 Prozent, wohingegen es in der EU nur zwei Prozent seien. Russland stehe in der Rangliste der Wirtschaftsleistung international auf Platz vier.
Ja, es gäbe in Russland das Problem der Inflation, aber die Einkommen der Russen seien mit neun Prozent „real gewachsen“, behauptete der Präsident. Gleichzeitig gestand der Kreml-Chef ein, dass die Inflationsrate bei neun Prozent liegt. Der Kreml-Chef erklärte, Russland könne sich jetzt selbst ernähren und sei nicht mehr auf Importe angewiesen. 66 Millionen Tonnen Getreide habe Russland im letzten Jahr exportiert. Die Zentralbankchefin, die bei der Bevölkerung wegen des hohen Leitzinses von 21 Prozent in der Kritik steht, nahm Putin in Schutz. „Die Regierung arbeitet zufriedenstellend, es wäre aber gut, Ziele für die einzelnen Wirtschaftsbranchen zu formulieren.“
Sinkende Geburtenrate
Putin gestand ein, dass Russland ein Problem bei der Geburtenrate hat. In der Sowjetunion hätte jede Frau im Schnitt zwei Kinder gehabt. Vor ein paar Jahren habe die Rate der Kinder pro Frau in Russland bei 1,7 gelegen. Sie sei jetzt aber auf 1,41 gefallen. In vielen entwickelten Ländern wie Finnland, Norwegen, Spanien, Japan und Südkorea liege die Rate aber noch niedriger. Russland brauche, um sein riesiges Territorium zu entwickeln, mehr Menschen. Das Ziel sei, den Geburten-Faktor auf 2,1 zu erhöhen. Russland biete für Familien Hypotheken mit einem Zinssatz von sechs Prozent an und auch das Kindergeld sei erhöht worden, aber das reiche noch nicht aus.
Den Schwangerschaftsabbruch zu verbieten, wie von der Journalistin des religiösen Fernsehkanals „Spas“ (Erlöser) gefordert wurde, lehnte Putin ab. Man müsse das Recht der Frau und deren soziale Situation berücksichtigen, erklärte der Präsident.
Fragestunde als Teil der politischen Kultur
Die jährliche Fragestunde mit Putin ist zu einem wichtigen Teil des russischen politischen Systems geworden. Sie symbolisiert, dass die Macht an der Meinung des Volkes interessiert ist und dass Kritik in sachlicher Form erwünscht ist. Russland zeigt mit dieser Veranstaltung auch, dass man sich gegenüber dem Westen nicht verstecken muss, was demokratische Gepflogenheiten betrifft.
Man muss wissen, dass es in Russland keine scharfen Parlamentsdebatten gibt, so wie gelegentlich in Deutschland. Während der „Sprechstunde“ mit Putin werden schonungslos soziale Probleme angesprochen. Und das Volk hört genau hin, ob der Präsident konkrete Verantwortliche für Missstände benennt oder ob er nur Besserung verspricht, wie schon das Mal zuvor. Die Fragestunde hat auch deshalb Bedeutung, weil Straßen-Demonstrationen seit der Corona-Zeit „wegen der Infektionsgefahr“ in Russland nicht mehr genehmigt werden.
Auffällig war, dass Putin Missstände in vielen Fällen eingestand. Die Fälle waren teilweise drastisch. Eine Bürgerin berichtete, der Arzt in ihrer Stadt habe nur einmal in der Woche Sprechstunde. Schon morgens um sieben müsse man Schlangestehen, um zu ihm zu kommen. Fachkräfte aus staatlichen Krankenhäusern wanderten zu Privatkliniken ab, wo sie besser bezahlt werden. Ein Bürger schilderte, er müsse sich sein Krebs-Medikament selbst kaufen. Ein anderer Bürger berichtete, es gäbe einen Mangel an Insulin. Putin antwortete, für den Gesundheitssektor sei genug Geld eingeplant. Das Gesundheitswesen sei bloß nicht richtig strukturiert.
Es gab mehrere Schilderungen von Bürgern, die sich von Betrügern und Banken im Bereich Kredite getäuscht fühlten. Putin bestritt die Schilderungen nicht, kündigte aber keine drastischen Maßnahmen an, wie von vielen erhofft.
Als der Korrespondent der Komsomolskaja Prawda in bissigem Ton kritisierte, dass der Anschlag auf den russischen General und Chemiewaffen-Experten Igor Kirillow von den russischen Sicherheitskräften nicht verhindert wurde, war das Putin sichtlich unangenehm. Die Sicherheitsorgane hätten diesen Anschlag „zugelassen“, räsonierte der Präsident. Sie müssten aus diesem Fehler Konsequenzen ziehen.
Brennpunkt Kursk
Ein Journalist der Nachrichtenagentur Tass wollte wissen, ob man mit der „Spezialoperation“ dem Sieg in der Ukraine nähergekommen sei. Bevor Putin die Frage beantwortete, ließ er von zwei Männern auf dem Podium eine Fahne der 155. Brigade der Marineinfanteristen der Pazifik-Flotte entfalten. Auf der Fahne hatten alle Soldaten der Einheiten ihre Unterschrift hinterlassen. Die Einheit kämpfe „gerade jetzt“ in dem von der Ukraine teilweise besetzten russischen Gebiet Kursk, erklärte Putin. „Wir wünschen ihnen Erfolg und die Rückkehr nach Hause.“ Der Kampf der russischen Armee laufe erfolgreich „auf der gesamten Frontlänge“ zur Restukraine, sagte der Präsident. „Jeden Tag werden Quadratkilometer erobert.“ Die Fahnendemonstration war ein starkes, emotionales Signal.
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Eine Bewohnerin des Kursk-Gebietes, die wegen des Einfalls ukrainischer Truppen aus ihrem Dorf flüchten musste, wollte wissen, wann man in die verlassenen Häuser zurückkehren könne, ob alle Häuser wiederhergestellt werden und ob man alle Häuser zurückbekomme. Putin antwortete, er könne nicht genau sagen, wann man die Häuser befreien werde, aber man werde die ukrainischen Truppen „sicher vertreiben“. Die Vertriebenen würden Zertifikate für ihr zerstörtes Wohnungseigentum bekommen.
Die Moderatorin las die Beschwerde von Soldaten vor, die im Gebiet Kursk gegen die ukrainische Armee kämpfen, aber nicht den Sold bekommen, den sie erhalten würden, wenn sie auf dem Gebiet der Ukraine kämpfen würden. Dort wird ein wesentlich höherer Sold bezahlt. Putin erklärte, er sei überrascht über diese Nachricht. „Ich entschuldige mich, dass ich nichts davon weiß.“ Das hätte das Verteidigungsministerium regeln müssen.
Überraschend war, dass zum Thema Kriegsfolgen mit der ehemaligen TV-Moderatorin Ksenija Sobtschak auch eine bekannte Vertreterin des liberal eingestellten Show-Business eine Frage stellte. Sobtschak erzählte, sie sei zusammen mit anderen Personen aus dem russischen Show-Business in den vom Krieg stark in Mitleidenschaft gezogenen russischen Grenzregionen Kursk und Belgorod auf dem Gebiet der sozialen Hilfe aktiv. 100 Familien habe man bereits geholfen. Sobtschak schlug vor, dass man in Kursk eine Stelle einrichte, die alle sozialen Fragen der Flüchtlinge und Ausgebombten kläre und Dokumente über verlorenes Eigentum ausstelle, sodass die Menschen nicht verschiedene Behörden abklappern müssen. Putin antwortete, „ich werde klären, wie wir diese Frage voranbringen“.
Wiederaufbau in Mariupol
Ein Journalist aus dem Donbass wollte vom Kreml-Chef wissen, ob Russland genug Kraft habe, den Teil des Donbass, der jetzt von Russland kontrolliert wird, wieder aufzubauen. Putin erklärte, es gäbe bereits Pläne für den Wiederaufbau. Innerhalb von drei Jahren werde man alle Straßen auf das russische Normativ bringen. Die Ukraine habe die Straßen sehr vernachlässigt. In Donezk sei eine Vorgeburtsklinik gebaut worden. In Mariupol sei ein neues Krankenhaus geplant. Der Donbass habe sehr gute Erfolgsaussichten, denn die Region sei wirtschaftlich stark und könne sich „selbst ernähren“. In der Region gäbe es jetzt einen „Bauboom“. Bereits 300.000 Menschen seien in die Stadt Mariupol zurückgekehrt.
Ein Rentner aus dem Donbass, der im Krieg seine Arbeitsnachweise verloren hat, wollte wissen, wie er nun seine 45 Arbeitsjahre nachweisen könne. Putin erklärte, solche Fälle sollten von einer speziellen Kommission geregelt werden, die noch gebildet werden müsse.
Der russische Präsident sagte noch, er setze sich dafür ein, dass die Teilnehmer der „Spezialoperation“ nach ihrer Rückkehr ins Zivilleben gute Ausbildungsmöglichkeiten bekommen, damit sie als Leiter in Gebietsverwaltungen und Betrieben eingesetzt werden können. Diese Menschen hätten noch nicht genügend Kenntnisse, um mit Menschen zu arbeiten, aber wie sein Judo-Trainer früher gesagt habe, wichtig sei, dass jemand etwas wolle und sich anstrenge. Diese Qualität hätten die Frontkämpfer allemal.
Wie effektiv ist die Oreschnik-Rakete?
Ein Journalist wollte wissen, was Putin zu den Bemerkungen westlicher Medien in Bezug auf die Oreschnik-Rakete sage. Angeblich könne die Rakete schon kurz nach dem Abfeuern abgeschossen werden. Der Kreml-Chef antwortete, das sei angesichts der Reichweite von Oreschnik nicht möglich. Die Mittelstreckenraketen der westlichen Staaten hätten eine geringere Reichweite. Außerdem lösen sich die Teilsprengköpfe schon bald nach dem Start der Rakete und gehen auf ihre eigene Flugbahn. Aber um die Leistungsstärke der Rakete zu demonstrieren, sei Russland zu einem Test bereit. Man könne alle westlichen Flugabwehrsysteme um Kiew aufstellen und Russland werde trotzdem ein Ziel in Kiew treffen.
Erinnerung an die „guten alten Zeiten“
Putin betonte immer wieder, dass er nicht gegen die EU als solche sei. Nur eine EU unter US-Dominanz hält er für fragwürdig. Auf die Frage, wer ihn während seiner Amtszeit als Präsident beeindruckt habe, nannte Putin Helmut Kohl, Jacques Chirac und Silvio Berlusconi. Von Kohl und Chirac habe er „einiges gelernt“, sagte der Kreml-Chef. Dass die von Putin genannten Politiker alle dem rechten Lager angehören, passt in die politische Strategie des Kremls. Eine politische Richtung ist nicht maßgeblich für die Partnerschaft Russlands mit anderen Staatsführern. Wichtig ist nur, ob die russischen Sicherheitsinteressen anerkannt werden.
Ausländische Medien-Vertreter
Auf der Pressekonferenz traten zwei Journalisten aus „unfreundlichen Staaten“ auf, ein Vertreter des US-Mediums NBC und ein Vertreter der britischen BBC. Der NBC-Journalist behauptete, „wenn Sie Trump treffen, sind Sie ein geschwächter Führer“. Putin erwiderte, er wisse nicht, wann er Trump treffen werde, aber er sei jederzeit bereit zu einem Treffen. Die USA wollten, dass Russland geschwächt werde, aber Russland wurde in den letzten vier Jahren ein souveränes Land. „Wir verbessern unsere Fähigkeiten.“ Der Westen dagegen habe es schwer. Eine 155mm-Granate kostete vor zwei Jahren 2.000 Euro, jetzt seien es schon 8.000 Euro. Um die Militärkosten zu finanzieren, reiche das Zwei-Prozent-Ziel der NATO-Staaten – und auch drei Prozent – nicht mehr aus.
Da der NBC-Korrespondent auch Syrien angesprochen hatte, ging Putin auch auf dieses Thema ein. Eine Niederlage habe Russland in Syrien nicht erlitten. Die Bombardierungen der Terroristen in Syrien durch die russische Luftwaffe hätten dazu geführt, dass sich die Terroristen „verändert“ hätten. Russland habe jetzt zu allen Gruppen in Syrien Kontakt. „Sie wollen, dass unsere Militärbasen bleiben“, sagte der Kreml-Chef. Mit dem geflohenen Präsidenten Assad habe er sich noch nicht getroffen, wolle dies aber tun.
„Sind Sie zu einem Kompromiss bereit?“
Der NBC-Korrespondent setzte zum Thema Ukraine nochmal nach und fragte Putin, „sind Sie zu einem Kompromiss bereit?“. Putin antwortete, „wir sind bereit, aber die Ukraine ist nicht bereit.“ Russland habe bereits im Frühjahr 2022 in Istanbul einen Kompromiss mit der Ukraine ausgehandelt. Kiew habe den Kompromiss paraphiert, aber dann sei der Mann „mit der merkwürdigen Frisur“ – gemeint war Boris Johnson – gekommen und habe alles wieder umgeschmissen.
Der BBC-Korrespondent meinte, Boris Jelzin habe Putin 1999 die Macht übergeben und ihm aufgegeben, „schützen Sie Russland“. Heute stehe Russland faktisch am Abgrund. Putin konterte, „wir verließen den Abgrund, als Jelzin kritisierte, dass Jugoslawien bombardiert wird. Ich habe alles für die Souveränität von Russland getan“. Man sei bereit, mit Großbritannien zu verhandeln.
Zum Ende der Pressekonferenz wurde Putin von der Moderation gefragt, ob er sich in den letzten drei Jahren verändert habe. Der Präsident antwortete, er mache weniger Witze und lache auch weniger. Wenn er sich jetzt mit jungen russischen Sportlern und Wissenschaftlern treffe, sei er glücklich und fühle sich wie in einer Familie mit ihnen verbunden.
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