„Die westlichen Eliten haben vergessen, was Krieg ist und was ein Atomkrieg ist“ – Interview mit Sergej Karaganow

„Die westlichen Eliten haben vergessen, was Krieg ist und was ein Atomkrieg ist“ – Interview mit Sergej Karaganow

„Die westlichen Eliten haben vergessen, was Krieg ist und was ein Atomkrieg ist“ – Interview mit Sergej Karaganow

Gábor Stier
Ein Artikel von Gábor Stier

Das westliche Entwicklungsmodell ist ins Stocken geraten und versucht nun, den Abbau der Hegemonie mit allen Mitteln zu verlangsamen. Dieser selbstmörderischen Politik muss Einhalt geboten werden. Bis zu einem neuen Gleichgewicht der Kräfte ist es allerdings noch ein weiter Weg, und Spannungen sind in dieser Situation unvermeidlich, aber ein Abdriften in Richtung Weltkrieg muss verhindert werden. Eine stärkere nukleare Abschreckung kann dazu beitragen, dies zu erreichen, erklärte der russische Professor Sergej Karaganow, Leiter der Abteilung für Weltpolitik an der Moskauer Wirtschaftshochschule und Ehrenvorsitzender des Russischen Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, gegenüber Moszkvater.com. Das Interview mit ihm führte Gábor Stier, aus dem Ungarischen übersetzt von Éva Péli.

Gábor Stier: Wir leben in biblischen Zeiten, schreiben Sie mehrmals in Ihren Beiträgen. Das westliche Entwicklungsmodell habe sich erschöpft, sei den neuen Herausforderungen nicht gewachsen und treibe nur noch den Konsum an, was zur Degradierung des Menschen führt. Der Westen verliere immer mehr an Boden und hole nun verzweifelt zum Gegenangriff aus. Die Welt driftet auf einen dritten Weltkrieg zu, den wir um jeden Preis vermeiden müssen. In der gegenwärtigen Übergangsphase geht es darum, neue Gleichgewichte zu finden, und das bringt Spannungen mit sich. Wie lange wird diese Phase Ihrer Meinung nach dauern, und wird sie wirklich unweigerlich zu Konflikten und Kriegen führen?

Sergej Karaganow: Eine große Transformation wie die jetzige ist ohne Konflikte und Krieg nicht denkbar. Was jetzt geschieht, ist also völlig logisch. Die eigentliche Frage ist, ob wir diesen Wandel der Weltordnung ohne einen dritten Weltkrieg überstehen können. Die Spannungen zwischen dem Westen und anderen Weltregionen drohen zu eskalieren, während gleichzeitig der Wettbewerb zwischen aufstrebenden Mächten intensiver wird. Länder wie Indonesien gewinnen zunehmend an Bedeutung, während in der arabischen Welt neue Konfliktlinien entstehen. Ein zentraler Konfliktpunkt ist der Versuch des Westens, seine Einflusssphären durch militärische Mittel zu verteidigen. Die Ukraine ist nun der wichtigste Schauplatz dieser Transformation. Moskau verteidigt seine Souveränität und seine Sicherheitsinteressen in der Ukraine, aber dieser Krieg ist eigentlich ein Krieg zwischen Russland und dem Westen. Die Aufgabe Russlands besteht darin, den Westen zu besiegen, ihn von seinen derzeitigen Positionen zu verdrängen, die Ereignisse in Richtung eines relativ friedlichen Übergangs zu lenken und das Abdriften in Richtung eines Weltkriegs zu stoppen. Zu diesem Zweck muss die Politik der nuklearen Abschreckung aktiviert werden. Die nukleare Abschreckung wird nicht nur in der Konfrontation zwischen dem Westen und Russland hilfreich sein, sondern auch in den Konflikten zwischen nichtwestlichen Ländern, die in der neuen Weltordnung unweigerlich entstehen werden.

Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass Russland gezwungen sein wird, im Krieg in der Ukraine taktische Atomwaffen einzusetzen?

Aktive nukleare Abschreckung ist notwendig, denn es ist das mangelnde Vertrauen in die nukleare Abschreckung, das im Februar 2022 zur Einleitung einer „besonderen Militäroperation“ führte. Die USA glaubten, dass der Westen einen Stellvertreterkrieg gegen Russland führen könnte, ohne einen Atomschlag befürchten zu müssen. Die westlichen Eliten haben vergessen, was Krieg ist und was ein Atomkrieg ist, und wir stehen nun vor der Notwendigkeit, zu verhindern, dass Konflikte zu einem Weltkrieg eskalieren. Dies erfordert eine neue Abschreckungsstrategie. Man muss in der Lage und entschlossen sein, Atomwaffen einzusetzen, wenn die grundlegenden Interessen Russlands verletzt werden. Die US-Amerikaner beginnen zu begreifen, was auf dem Spiel steht, und sind vorsichtiger geworden, aber Europa, der Haupttreiber des Krieges, muss gestoppt werden, auch um diesen Preis, wenn es nicht zur Vernunft kommt.

Ich akzeptiere, dass die Haltung der Vereinigten Staaten viel rationaler ist als die Europas. Gleichzeitig glaube ich nicht, dass Europa der Hauptbösewicht und der Grund für all das ist. Es ist bereits von den USA abhängig, also tut im Wesentlichen das, wozu Washington es drängt. Die Verantwortung liegt also eher bei den Vereinigten Staaten, nicht wahr?

Nein! Europa zerrt Amerika in den Konflikt hinein.

Nun ja …

Die Brüsseler Eliten wollen den Krieg, um den Zusammenbruch des „Projekts EU“ zu vertuschen. Die Vereinigten Staaten haben das nicht nötig, sie profitieren einfach vom Krieg. In geopolitischer Hinsicht schwächen sie Russland und Europa, und in wirtschaftlicher Hinsicht machen sie riesige Gewinne im Militär- und Energiesektor.

Europa scheint nicht zu verstehen, was mit ihm geschieht. Nehmen wir zum Beispiel die Frage der Integration der Ukraine, für die weder die Europäische Union noch die Ukraine bereit sind …

Die Ukraine wird nicht Mitglied der EU oder der NATO sein. Die Ukraine wird auseinanderfallen und ihre Kapitulation ist unvermeidlich. Russland wird bekommen, was es territorial braucht, und der Rest der Ukraine wird neutral und entmilitarisiert sein.

Sie wird immer noch eine Art Sicherheitsgarantie brauchen …

Die NATO gibt keine Garantien. Artikel 5 ist ein Mythos, und die Vereinigten Staaten würden Europa auch dann nicht zu Hilfe eilen, wenn Russland beispielsweise einen Atomangriff starten würde. Es ist kein Zufall, dass sie sich in der seit anderthalb Jahren andauernden Debatte über dieses Thema nicht ein einziges Mal zu Wort gemeldet haben. Die US-amerikanische Gesellschaft würde ihre Sicherheit in dieser Frage nicht riskieren. Auch die Polen sind vorsichtiger geworden, weil sie wissen, dass ein Atomschlag in erster Linie sie treffen würde.

Zurück zu dem Satz, dass Russland bekommen wird, was es braucht: Welches Gebiet würde das Ihrer Meinung nach in einem optimalen Fall bedeuten?

Im Optimalfall das linke Ufer des Dnjepr und die Schwarzmeerküste, das sogenannte Noworossija.

Mit dem Rest kann der Westen machen, was er will?

Der Westen hat bereits bekommen, was er von der Ukraine wollte – unter anderem billige und weiße christliche Arbeitskräfte.

Sie haben erwähnt, dass es Russlands Ziel ist, vor allem Europa zu besiegen. Unterstützt der sogenannte Globale Süden Moskau dabei?

Grundsätzlich ja, aber er hat natürlich seine eigenen Interessen. Sie wollen zum Beispiel nicht unbedingt gegen die Vereinigten Staaten antreten.

Wie solide ist die strategische Partnerschaft zwischen Russland und China?

Ziemlich. Diese Partnerschaft ist für beide Seiten vorteilhaft, und die beiden Länder ergänzen sich gut im eurasischen Großraum. China strebt nicht die gleiche Dominanz an wie die Vereinigten Staaten.

Wenn wir über die neue Weltordnung sprechen, ist es auch klar, dass die derzeitigen Institutionen reformiert und erneuert werden müssen. Können diese reformiert werden, oder sollten neue geschaffen werden?

Es muss Wettbewerb geschaffen werden, es müssen parallele Institutionen eingerichtet werden, denn nur so kann die Modernisierung der bestehenden Institutionen erzwungen werden.

Und was ist mit den Vereinten Nationen?

Die Vereinten Nationen arbeiten derzeit nicht effektiv, deshalb muss die Organisation erneuert werden. Wir müssen mit dem Sekretariat beginnen, denn es dient dem Westen und ist daher ein Hindernis für die Durchsetzung eines veränderten Kräfteverhältnisses in der Organisation.

Wie Sie sagten, ist die Ukraine heute der heißeste Punkt der globalen Konfrontation. Wann wird sich Ihrer Meinung nach ein Fenster öffnen, um den Konflikt zumindest einzufrieren?

Hoffentlich so bald wie möglich. Russland hat Zeit, aber es muss seine Menschen schonen. Der schnellste Weg, diesen Krieg zu beenden, ist die Verstärkung der nuklearen Abschreckung. Denn Europa muss irgendwie bewusst gemacht werden, dass es eine selbstmörderische Politik betreibt, weil es viele Menschen mit in den Abgrund reißen könnte. Das muss verhindert werden, und das ist eine Aufgabe für Russland.

Inwieweit kann der Sieg von Donald Trump dazu beitragen?

Darum geht es nicht, denn die Vereinigten Staaten hätten auch bei einem Sieg von Kamala Harris einen vorsichtigen Rückschritt gemacht. Das Weiße Haus verlagert die Finanzierung des Krieges schon seit einiger Zeit zunehmend nach Europa, und dieser Prozess wird sich noch beschleunigen.

Wir haben mit der Umgestaltung der Weltordnung begonnen, also lassen Sie uns mit dieser Frage enden. Wie lange wird es Ihrer Meinung nach dauern, bis sich nach der derzeitigen Übergangsphase der Spannungen und Kriege ein neues Gleichgewicht der Kräfte einstellt?

Noch etwa 15 bis 20 Jahre. Dieser Prozess ist bereits seit einiger Zeit im Gange, ich schätze den Beginn der Transformation auf 2008. Diese Turbulenzen waren unvermeidlich, aber ein Weltkrieg ist vermeidbar.

Das Interview wurde ursprünglich in der ungarischen Wochenzeitung „Demokrata“ veröffentlicht.

Anmerkung der Redaktion: Sergej Karaganow ist als Leiter der Abteilung für Weltpolitik an der Moskauer Wirtschaftshochschule und Ehrenvorsitzender des Russischen Rates für Außen- und Verteidigungspolitik eine gewichtige beratende Stimme in Fragen der russischen Geopolitik. Es ist selbstredend, dass die NDS-Redaktion nicht alle Einschätzungen von Karaganow teilt. Aber unser Anspruch ist es, unseren Lesern ein breites Maß an Einschätzungen und Perspektiven zur Information und eigenen Meinungsbildung zu bieten.

Titelbild: Shutterstock/ Maxal Tamar

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