Bedeutende Menschen schreiben gern Bücher, die sie für wichtig halten. Jetzt tat das auch die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel, die über eine sehr lange Zeit, von 2005 bis 2021, die Macht innehatte und nun meinte, ihre geneigte Leserschaft endlich umfassend zu informieren, was sie alles geleistet hat und warum das damals alles so war, wie es war. So weit, so gut. Ihr Buch „Freiheit“ zu lesen, kommt mir trotzdem nicht in den Sinn. Ein Zwischenruf von Frank Blenz.
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Angela Merkel steht für mich bis heute für eine heuchlerische wie raffinierte Machtpolitik, die sich in Wahrheit von vielen Menschen abwendet und dabei aber so tut, als würde sie genau das Gegenteil und nur das Wohl des Volkes im Sinn haben. Derartiges wie das Merkel-Buch zu lesen, habe ich keinen Bedarf. Wichtig ist mir aber, darauf hinzuweisen, wessen Klasse sie angehört und dass ihre Leistungen kritikwürdig sind. Zunächst: Deutschland erscheint wie ein reiches Land mit vielen Menschen, die immer noch sagen, es gehe ihnen gut, sie seien froh und frei. Der Preis für deren Reichtum, welcher nicht fair verteilt ist, ist sehr hoch. Deutschland ist ein Land der Sieger und Verlierer. Verlierer gibt es zu viele – das Verlieren wird von der politischen Klasse, den Etablierten, denen, die es geschafft haben, von den in Komfortzonen eingerichteten Nichtbetroffenen achselzuckend als „Schicksal“ der anderen hingenommen. Das ist Freiheit.
Nun so ein Buch: Merkels Wälzer heißt auch „Freiheit“, er ist ein Buch mit über 700 Seiten. Für mich ist das Werk kein Grund zum Lesen, dafür ein Ärgernis. Denn das Werk zieht bei mir aus den Sphären des Vergessens Erinnerungen aus der Zeit der Regentschaft Merkels wieder hoch. Allein ihr Wiederauftauchen dank des Sachbuchs und eines großen, aufdringlichen Medienauflaufs ist keine Sternstunde. Von wegen bescheiden und dankbar und demütig – ihr sei entgegnet: Frau Merkel kann schreiben, was sie will, die Geschichte, die sie „mitgestaltet hat“, wird davon nicht besser. Soll sie ihren Ruhestand genießen und gut.
Die deutsche Geschichte von 2005 bis 2021: Die Liste ihres Schaffens und der Folgen der „Merkel-Macht-Jahre“ ist lang. Die Politik der CDU-Politikerin und ihrer Gefolgschaft erlebte ich als keine gute, die heute nicht besser wird, wenn Merkel versöhnlich resümieren will. Ihre Hinterlassenschaften beeinflussen den Alltag vieler Menschen (trotz der zahlreichen Wohlhabenden) negativ und darüber hinaus bis heute dramatisch. Tragisch wie normal für die Qualität der gegenwärtigen politischen Klasse ist, dass die nachfolgenden, jetzt Macht habenden Politikerkollegen Angela Merkels deren Hinterlassenschaften nicht korrigieren. Es ist zum Heulen.
Am Tisch mit der Merkelbuchpyramide mitten im Advent
„Die müssen doch verrückt sein, 42 Euro für so ein Buch“, beschwert sich ein älterer Mann gegenüber seiner Frau. Beide Rentner stehen kopfschüttelnd am Warentisch einer Buchhandlung in meiner Heimatstadt, auf dem eine Art Pyramide aufgebaut ist. Das Paar schimpft über Merkel und hat Worte parat, die in dem dicken Buch vor ihnen sicher nicht vorkommen. Die Bausteine der aufdringlichen Werbeaktion sind Exemplare des Buches „Freiheit“ der Altkanzlerin. Warum wird eigentlich für andere, schönere Bücher nicht so ein Aufwand betrieben? Stimmt, alle sollen sehen, das Buch hat doch was: Der Umschlag schimmert in Blau, der Blazer Merkels ist blau, der Schriftzug „Freiheit“ schimmert in einem sehr sehr hellen Blau. Merkel lächelt auf dem Titelbild, wirkt aufgeräumt, blickt optimistisch, mit sich im Reinen, nach vorn. Das Signal an die Leser soll sicher sein: Sie war und ist vertrauenerweckend. Und das in der Adventzeit. Clever.
Die PR-Maschinerie wirkt. Das Buch, über 400.000-mal gedruckt, ist laut Hitliste ein richtiger Renner: Platz 1. Wer kauft nur das Buch? Im Laden bei mir um die Ecke steht die Pyramide der vielen Freiheitsbücher wie eine feste Mauer gleich am Eingang. Ich frage mich: In unseren Wendezeiten, im selbstzerstörerischen Taumel Richtung wehrhafter Einsatzbereitschaft – was braucht es das rückblickende, wohlwollende Fazit über eine doch im Großen und Ganzen gute Zeit, gemacht von einer im Großen und Ganzen lieben Frau? Es braucht es nicht. Und damit nicht genug: Wer nicht selbst lesen mag, kann dem Hörbuch lauschen, keine geringere Künstlerin als die berühmte Corinna Harfouch spricht Satz für Satz. Wem es gefällt, ja. Ansonsten? Danke, nein.
Ein Land, in dem wir gut und gerne leben
Mit einem Mal – das kommt mir jedenfalls so vor – ist Angela Merkel also wieder da. Hätte Merkel kein Buch geschrieben, ich hätte nicht mehr an sie gedacht, jedenfalls nicht wie aktuell. Ohne eine Zeile gelesen zu haben – ich brauche die Art Anschubser der Altkanzlerin nicht –, fällt mir nach und nach als Bürger ein, was Merkel solo und mit ihrer und für ihre politische Klasse der Etablierten über eine lange, sehr lange, viel zu lange Zeit in unserem Land zustande und nicht zustande gebracht hat. In 16 Jahren Merkelismus und darüber hinaus. Ärgerliches. Jetzt kommt also eine Nachlese auf Merkeldeutsch? Die Ex-Kanzlerin brachte nicht zustande oder hatte gar nicht vor, was sie in Neujahrsansprachen gern versprach: dass wir in einem Land weilen, in dem wir (alle) gut und gerne leben. Und ja, doch, Merkelnutznießer gab und gibt es auch, wie ich schon erwähnte. Das müssen viele sein, die den schweren Band erwerben, siehe Verkaufszahlen von „Freiheit“. Dabei stört auch nicht, dass Bewertungen auf Internetportalen über „Freiheit“ dagegen schon mal sehr viel weniger lobend ausfallen. Die Kommentarspalte wird dann halt einfach geschlossen, was der Altkanzlerin im Basta-Stil bestimmt gefällt.
Man muss sich das mal vor Augen halten: 16 Jahre Merkel. Vier Legislaturperioden. Ihr Abgang kam, endlich, so etwas wie ein Aufatmen seufzte durch das Land. Doch dann? Ihr Abschied hat von 2021 bis heute nicht wie erhofft zur Folge, dass sich die bleierne Zeit der Bundeskanzlerin hin zu einer besseren Phase ändert. Der ehemalige Partner der viel gelobten Großen Koalition übernahm in neuer Koalition, die von fantasiereichen Redakteuren (wie originell) wie ein Signal im Straßenverkehr bezeichnet wurde. Doch die Zeit wurde und wird heute schlimmer. Merkel bekommt all das sicher auch mit. Sie weiß, wie sehr sie involviert in das Spiel mit dem Feuer war und ist – einfach mal „Merkel und der Ukrainekonflikt“ im Internet nachschlagen.
Die sogenannte Zeitenwende wurde nach Merkel auf die Tagesordnung gesetzt und in der Art verkauft, als würde solch eine Wende natürlicherweise über uns Menschen kommen. Das geschieht logischerweise – Ironie aus – ohne das Zutun der Macher, ohne Leute wie Merkel, die an den Hebeln sitzen und diese nur so umlegen, wenn es darum geht, den Gürtel enger zu schnallen und zu konstatieren, dass die fetten Jahre vorbei seien. Gab es etwa vorher fette Merkeljahre? Für ihresgleichen und für die, für die sie fette Beute generierte, sicher.
Raffiniert hat die Altkanzlerin derlei Wende schon in ihrer Zeit ganz ohne großes Aufsehen, mit langem Atem, stoisch ruhig und unbeirrt gegen Widerstände der Zivilgesellschaft eingeleitet: mit ihrer Wir-schaffen-das-Schwindelei, mit ihrem kühlen Durchregieren, in ihrer gerissenen Machtbewusstheit, ihrem hinterlistigen „Dienen“ für eine Sache, die nicht die aller Bürger war und ist und bleibt. Genau das sieht die Gesellschaftskonstruktion Kapitalismus auch nicht vor, das weiß sie sicher. Also muss man drum herumreden, damit das Volk alle Kröten schluckt, patriotisch und treu stillhält und Mutti trotzdem gut findet. Sie ist ja auch sympathisch. Ich denke nur an ihren unverfälschten, herrlichen Jubel auf der Ehrentribüne im Maracana-Stadion zu Rio de Janeiro, als im Fußball-WM-Finale 2014 der Mario Götze grandios das 1:0 erzielte, auch, weil der Reporter rief: „Mach ihn! Mach ihn! Er macht ihn.“ Deutschland wurde Weltmeister. Ich sah bei Merkel zwei Personen: die, die sie sein müsste, und die, die sie wirklich trotz Jubel ist – die Frau, die als Machtmensch wieder zur harten Tagesordnung übergeht.
Klar fällt es Merkel dank ihrer Kunst des Politikmachens nicht schwer, ein sehr großes Wort zu bemühen. Davor scheut sie sich bis heute nicht, auch wenn das Wort gar nicht zutrifft für viele, für unser Land, für unsere Möglichkeiten: „Freiheit“.
Eine Aufzählung, die Merkel nicht ausmacht
Eine Aufzählung, die Merkel nicht ausmacht: wirkliche, gelebte und gestaltete Einheit, ein Ostdeutschland, das sie, die Ostdeutsche, im Blick hat. Die Entscheidung, den Posten des Ostbeauftragten abzuschaffen und stattdessen wirklich einheitszugewandte Politik zu betreiben. Gleichberechtigung, Integration, ehrliche Migration, soziale Gerechtigkeit, friedliche Koexistenz. In Europa und weltweit ein guter Nachbar sein für unsere Nachbarn.
All die genannten Stichworte, deren Existenz in unserem Leben, die sah und sehe ich bei Merkel, durch Merkel nicht oder allzu wenig. Als die Erde brannte – sie brennt immer noch – und Flüchtlinge sich auf den Weg machten: Was tat Merkel vorher und während dieser Zeit? Für Frieden sorgen? Die Bündnispartner zur Räson bringen? Sie sprach von Räson, als sie über Israel sprach. In ihrer Amtszeit tobte in Palästina der Krieg. Ihre Sturheit, die Arroganz der Macht, sie herrscht selbst nach ihrer Abdankung immer noch vor und ruft Schäden hervor, die nicht zu reparieren sind, viele Jahre nicht mehr. Vor unseren Augen verschwinden Menschen, ganze Völker, und wir blicken zurück auf die Wir-schaffen-das-Jahre. Dass die Kanzlerin Angela Merkel 16 Jahre in solch einer Weise wirken konnte, dass die Widerstände dagegen stets abgeschmettert werden konnten, zeigt die Machtfülle, die sie innehatte und/oder die ihr zugestanden wurde. Denn Alleingängerin war und ist sie nicht – sie ist Elite.
Wie war das damals 2011 und folgend – Syrien?
Ich las gerade einen Aufsatz der sehr geschätzten Korrespondentin Karin Leukefeld, die zu den schlimmen Ereignissen in und um Syrien schreibt. Allein die Jahreszahl 2011 und die folgenden Jahre liegen im Zeitraum der Machtausübung Merkels. Sie sah zu, sie schaute weg, sie machte beim schäbigen Spiel, politische Interessen durchzusetzen, mit. Und nein, die folgenden Zeilen sind keine aus Merkels Buch:
Seit dem Frühsommer 2011 hatten die Bundesregierung und die Europäische Union mit einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen gegen Syrien zum wirtschaftlichen Mangel des Landes beigetragen und einen Wiederaufbau verhindert. Die USA setzten mit dem „Caesar-Gesetz“ noch eins drauf und drohten Einzelpersonen, Unternehmen und Staaten mit Sanktionen, sollten sie mit Syrien Handel treiben oder dort Investitionen tätigen. Seit fast 10 Jahren halten US-Truppen die syrischen Ölquellen im Nordosten des Landes besetzt und kontrollieren – in Koordination mit den Truppen der Verbündeten Türkei, Jordanien und Israel – nahezu alle Grenzen des Landes.
Bashar al Assad, der seinem Vater Hafez nach dessen Tod im Jahr 2000 im Präsidentenamt folgte, stand spätestens seit dem völkerrechtswidrigen Irak-Krieg 2003 unter offenem Druck der USA: Der damalige US-Außenminister Colin Powell forderte vom syrischen Präsidenten 2002, wie Jordanien Land und Grenzen für den Vormarsch der US-Truppen in den Irak zu öffnen. Vergeblich, Syrien stellte sich an die Seite des bedrängten Irak, der von den USA schließlich – unter dem Vorwand, Massenvernichtungswaffen zu besitzen – überfallen und besetzt wurde. Die Massenvernichtungswaffen wurden nie gefunden, weil es sie nicht gab. Der Irak wurde zerstört, Millionen flohen, Tausende wurden in einem angefachten interreligiösen Krieg getötet.
Der Druck auf Damaskus hielt an. Syrien solle das Bündnis mit dem Iran kappen, so die Forderung aus Washington. Die Golanhöhen solle Damaskus Israel überlassen und es müsse die Unterstützung für die Palästinenser stoppen. Im Gegenzug wurden Syrien blühende Landschaften versprochen, die Bevölkerung solle im Frieden des US-amerikanischen Hegemons [sic] – und seines regionalen Wächters Israel – zufrieden und glücklich sein.
Syrien beharrte auf seiner souveränen Politik, öffnete sich nach innen und außen und prosperierte. Die Syrer unterstützten den jungen Präsidenten, der ihr Leben um vieles erleichtert hatte. Genau in dieser Zeit begann der Krieg 2011. Aus mehr als 150 Staaten zogen Dschihadisten nach Syrien, um den „Heiligen Krieg gegen das Assad-Regime“ zu führen. Die Türkei und Jordanien ermöglichten deren Passage, USA und arabische Golfstaaten lieferten die Waffen. Syrien wurde verwüstet und gespalten. Die ressourcenreichen Gebiete – Baumwolle, Wasser, Oliven und Ölquellen – wurden besetzt und dem Land entzogen.
Syrien wurde absichtlich zerstört. Weil es sich weigerte, sich den geopolitischen Interessen der USA zu unterwerfen.
(Quelle: Globalbridge)
Freiheit. Geld.
Wenn ich in meiner Heimatstadt eine kleine Gasse in der Altstadt entlanglaufe, lese ich im Vorübergehen an einer bestimmten Stelle immer einen aufgesprayten Spruch: Geld ist ein Synonym für Freiheit. In der Tat bewirkt die Menge an finanziellen Mitteln Möglichkeiten, die den, der (viel) Geld hat, frei(er) macht.
Der Freiheitssäuselei der Altkanzlerin fehlt genau das: auf Geld und Freiheit als Einheit hinzuweisen, ebenso Worte wie Reichensteuer, echte Mietpreisbremse, faire Löhne. Freiheit hat weitere Facetten. Als Frau hat sie geschafft, dass für die Gleichberechtigung kein großer Wurf gelang. Sie hat Kanzler Schröders Hartz-Wahnsinn nicht zurückgenommen. Der Sozi agierte asozial, die Christin folgte. Ihrem jetzigen Nachfolger Scholz ist zunächst zugutezuhalten, dass er Hartz für eine Weile pausieren ließ und auf zivilere Weise Bürgergeld auszahlte. Damit ist jetzt aber bald Schluss, jubeln die Reaktionäre, auf dass das „Bürgergeld“ seinen Namen nicht mehr verdient – weil Geld oder die Verweigerung dessen ein sehr probates Sanktionsmittel gegen all die Menschen ist, die in der Freiheit-Geld-Welt keinen würdigen Platz haben, haben sollen. Verachtung aber schon.
Unter Freunden geht das gar nicht – doch, Frau Merkel
Ich hörte, Merkel soll sich in ihrem Wälzer über Obama äußern, über Putin. Ersterer soll gut wegkommen, der Mann, der sogar den Friedensnobelpreis bekommen hat, obwohl er als First Man of the USA die meisten Waffengänge seines Landes weltweit nach dem Zweiten Weltkrieg befehligte. Bei „Obama trifft Merkel“ fällt mir noch ein, dass sie ein Mal aufmuckt, aber so richtig, als sie staunend davon erfährt, dass ihr Smartphone von den Freunden hinterm großen Teich abgehört, die Inhalte mitgeschnitten, analysiert werden und so weiter. Unter Freunden ginge das gar nicht, beschwert sie sich. Danach tritt Stille ein, Schwamm drüber.
Der zweite Politiker, Putin, aus dem größten Land der Erde, darf hingegen, ganz deutsch und traditionell und eingebläut, nicht gut wegkommen. Merkel hat in Moskau studiert. Merkel weiß, wie Menschen der Sowjetunion denken, Menschen in Russland. Sie schafft es in 16 Jahren nicht, Brücken zu bauen, die vorhandenen nachhaltig abzureißen jedoch schon. Gute Nachbarn unter Nachbarn?
Zwei Jahre – bewusst erzeugter Super-GAU
Die abschließenden zwei Jahre Merkel-Regierung, in der ohnehin schon vorher viele Daten in Richtung „Unten“ neigen (Armut, Bildung, Infrastruktur, Kultur, Verkehr, Wohnen, Forschung, Mittelstand, Auseinanderdriften der „gut und gerne leben wir hier“-Gesellschaft, Migration, Bürokratie): Die Jahre 2020 und 2021 werden final und bewusst zum Super-GAU weitergeführt. Corona, Corona-Maßnahmen, die harte Hand, wieder dieses „Wir schaffen das“. Beifallklatschen von Balkonen, machtloser Künstler-Protest „Ohne uns wird es still“, Eskalation von oben, vor allem Pflichten, Bußgeldkataloge. Den widersprechenden Menschen wird Verschwörungsschwurbelei vorgehalten, Dummheit vorgeworfen, was wissen die schon.
Der mächtige, konsequente, eitle Angriff auf viele Rechte der Bürger, auf die zivilisatorische Ordnung insgesamt – ein stoisches Werk Merkels und derer, die im ganzen Land mit von dieser Partie waren. Wir sind kein Land, in dem wir gut und gerne leben wollen würden. Nirgends sehe ich rückblickend einen Ansatz, bei dem Frau Merkel die Hand reicht, wo sie handelt wie ein einfacher Mensch, der empathisch ist, den kein profitabler Hintergrund motiviert, der nach Möglichkeiten sucht und sie auch findet, wie ein Land Entspannung findet, Ausgleich, Verbindlichkeit, Solidarität, Miteinander, Verständnis. Wo hat Merkel einen Satz losgelassen wie „Wir lassen das jetzt mal mit den Daumenschrauben, wir stellen die Maßnahmen in Frage, wir gehen in uns und stellen uns unseren Irrtümern, unserer Selbstgefälligkeit.“? Wo ist zu lesen, dass Merkel sagt: „Die mächtigen Interessen der Privatindustrie – hier die Pharmakonzerne – hatten die Oberhand. Ich sage als Kanzlerin jetzt: hatten.“?
Einmal Kanzler, Kaiser oder König
Was will ich damit erzählen? Beim Lesen meiner eigenen Zeilen hier stoße ich auf die Metapher der Macht, die in Wahrheit nur einen Wunsch vieler Menschen zum Ausdruck bringt: einmal Chef von Deutschland sein, Kanzler, Kaiser oder König (m/w/d). Was würde man machen, wäre man Kanzler oder König? Gute Chefs schmeißen zumindest im Märchen ihren Laden recht gut. Im wahren Leben aber? Wie hätte ich mich gefreut, wenn Angela Merkel unser Land kraftvoll wie behutsam geführt hätte, vielleicht so im teils progressiven Geiste der Gründerväter, im Geist der sozialen Marktwirtschaft, nach den Texten des Grundgesetzes. Was wäre das gewesen, wenn sie, die Ostdeutsche, darauf gepocht hätte: „Wir machen das jetzt mal klar, ja, mit der gemeinsamen, neuen Verfassung“? Was wäre das gewesen, wenn Merkel die vielen eingebrachten Gesetzesinitiativen in den Parlamenten, die eine gerechte Gesellschaft befördern, aktiv und stoisch begleitet und unterstützt hätte? Bezahlbares Leben schaffend, das Gemeinwesen fördernd, das öffentliche Leben; nicht das Geld als Mittel, die Welt zu regieren, sondern das Geld in allen Bereichen des Lebens als Türöffner verwendend. Und ja, es gibt auch Lösungen, dass dem, der den Türöffner „Geld“ nicht oder wenig besitzt, die Tür dennoch geöffnet wird. Merkel hat in keiner Rede gesagt, das behaupte ich, dass sie für ein Deutschland sorgt, in dem es keine Verlierer gibt, kein Oben und Unten. Sie schwärmt lieber von Freiheit. Leere Phrase. Frau Merkel, nur eine egalitäre Gesellschaft ist frei! Oder wie es die Franzosen an allen ihren Portalen wichtiger Gebäude stehen haben: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
Das steht sicher auch nicht im Buch – eine Anzeige
Mitten im Jubel über das blaue Buch über Merkels Freiheit wird bekannt, dass unsere Altkanzlerin auf einer Liste mit wichtigen deutschen Politikern steht, die von einem Berliner Bürger im Zusammenhang mit deren Handeln während der Corona-Zeit angezeigt wurden. Die von der Staatsanwaltschaft angenommene und registrierte Anzeige ist heftig formuliert, es fallen Worte wie Verdacht auf Betrug, Nötigung und gefährliche Körperverletzung. Nichts da mit „wir werden uns viel zu verzeihen haben“, wie Merkels Ex-Minister Spahn nach den Corona-Skandalen der Entscheider feige davonkommen will. Merkel und die anderen Politiker bekommen um die Ohren gehauen, dass sie Jahre voll auf das Pedal traten, die Bevölkerung im Unklaren und an der kurzen Leine hielten (auch ihre Gefolgschaft, die, denen es ja gut geht, die stillgehalten haben deswegen), dass sie von Fremdschutz sprachen, eine Impflicht durchpeitschen wollten, zur Impfung nötigen und dabei doch die Schattenseite all dessen kannten. Nebenwirkungen, Schäden, Opfer? Augen zu und durch. Die, die nicht mitmachten, nicht folgten, denen erging es schlecht. 3G, 2G usw. Nur nebenbei: In dieser Zeit wurde enorm viel Geld verdient. Stimmt: Geld. Freiheit. Gut nur, dass sich nicht wenige Menschen die Freiheit nahmen, kämpften, nicht aufgaben, anders zu handeln als von Mutti und Co. gewünscht. Trotz Pein, trotz Pression. Nix mit Basta.
Endlich Zapfenstreich
Zum Schluss etwas Fröhlichkeit. Die kam auf, als Kanzlerin Merkel im Dezember 2021 endlich in den Ruhestand verabschiedet wurde – und zwar mit einem zünftigen preußischen militärischen Zapfenstreich (woher nur dieses komische Wort stammt?). Nebenbei: unter 2G-Bedingungen. Darauf muss man erstmal kommen. Angela Merkel durfte sich die Musik auswählen. Sie entschied sich für Nina Hagens „Du hast den Farbfilm vergessen“, Hildegard Knefs Ballade „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ und einen Choral „Großer Gott, wir loben dich“, aufgespielt vom Stabsmusikkorps der Bundeswehr. Das Musiktrio: Wildheit und jugendliche Unbekümmertheit, romantische Hingabe sowie fromme Bescheidenheit – das wäre auch ein Verhaltensmuster für eine Kanzlerin gewesen, bei der ich dann das Wort „Freiheit“ als Beschreibung hätte gelten lassen. Doch stattdessen liegen viele Scherben vor ihr und uns, und diesem Haufen werden weiter täglich Scherben hinzugefegt – von ihren Nachfolgern.
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