Eine Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbands bereinigt die offizielle Armutsstatistik um den Faktor Wohnkosten. In der BRD stecken demnach nicht zwölf Millionen, sondern über 17 Millionen Bürger in existenziellen Nöten. Der Befund ist überaus wertvoll und wird den Widerstand gegen Platzmangel und Mietwucher hoffentlich weiter befeuern. Von Ralf Wurzbacher.
Armut in Deutschland ist eine große Nummer, aber kein großes Thema. Sie wächst und wächst, aber die Reichen und Mächtigen sehen darüber weg wie über einen brüchigen Fußnagel. Socke hoch, aus dem Sinn, und weiter geht’s beim Treten nach unten. Die Tafeln müssen vor Weihnachten die Lebensmittel rationieren, schlug dieser Tage deren bundesweite Dachorganisation Alarm. Von derlei Versorgungseinrichtungen gibt es bundesweit beinahe tausend Stück. 330 waren es 2003, ein Jahrzehnt davor gab es eine einzige. Inzwischen müssen täglich 1,6 Millionen Leidtragende für eine kostenlose Speise anstehen. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs und der folgenden Preisexplosion haben die Ausgabestellen im Schnitt 50 Prozent mehr „Kunden“ als davor, Tendenz steigend. Verbandschef Andreas Steppuhn: „Der Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes zeigt, dass etwa 14 Millionen Menschen in Deutschland von Armut bedroht sind. Kämen alle zur Tafel …“
Korrektur! Hierzulande leben deutlich mehr Menschen, die nicht nur von Armut bedroht, sondern schlicht arm sind. Allerdings taucht ein beträchtlicher Teil von ihnen nicht in der Statistik auf. Gemeint sind all die Personen und Haushalte, die zwar offiziell genug zum Leben haben, aber nach Abzug der Miete dann doch unter die Armutsschwelle rutschen. Die Forschungsstelle des Paritätischen Wohlfahrtsverbands hat nachgezählt. 5.413.000 und damit deutlich über fünf Millionen Menschen wohnen sich arm und vergrößern damit das Heer der Deklassierten in der BRD auf über 17,5 Millionen. „Wohnen entwickelt sich mehr und mehr zum Armutstreiber“, erklärte Joachim Rock, Hauptgeschäftsführer des Verbands bei der Vorstellung der Ergebnisse am vergangenen Freitag. „Die Schere geht durch die steigenden Wohnkosten immer weiter auseinander.“
„Bahnbrechende“ Rechnung
„Wohnen macht arm“, ist die 28 Seiten starke Kurzexpertise betitelt, deren Verfasser diese mit Recht als „bahnbrechend“ bezeichnen. Nach gängiger Lesart gilt als „armutsgefährdet“, wer monatlich weniger als 60 Prozent des sogenannten Medianeinkommens zur Verfügung hat, wozu auch sämtliche Transferzahlungen wie Bürger- und Wohngeld zählen. 2023 fielen knapp über zwölf Millionen Menschen in diese Rubrik oder 14,4 Prozent der Bevölkerung. Was für ein so reiches Land an sich schon skandalös ist, bildet die Wahrheit dennoch nicht einmal zu zwei Dritteln ab. Nimmt man die hinter der Wohnungstür verborgene und bislang „unsichtbare“ Armut hinzu, dann sind 21,2 Prozent betroffen, also mehr als ein Fünftel der Gesellschaft. Oder anders: Jeder Fünfte lebt im Notstand.
Die Studie basiert auf einer Sonderauswertung durch das Statistische Bundesamt. Dabei wurden die Einkommen erstmals um die Wohnkosten (Warmmiete und Strom) bereinigt und so eine Wohnarmutsgrenze ermittelt. Diese beläuft sich für 2023 auf 1.016 Euro pro Monat. Die Forscher spielen verschiedene Beispiele durch. Zwei Rentnerinnen aus Berlin erhalten beide ein Altersgeld von 1.770 Euro. Frau Müller hat einen langjährigen Wohnraumvertrag mit einer Warmmiete von 450 Euro, womit sie über der Schwelle von 1.016 Euro bleibt und nicht als arm gilt. Frau Schmidt muss wegen einer körperlichen Beeinträchtigung in eine barrierefreie Wohnung umziehen, die mit 900 Euro zu Buche schlägt. Damit sackt sie 146 Euro unter die Wohnarmutsgrenze, selbst bei Bewilligung von Wohngeld bliebe sie mit 100 Euro darunter. Dann ist da eine Studentin in Leipzig mit monatlichen Mitteln in Höhe von 1.350 Euro. Damit liegt sie knapp über der konventionellen Armutsgrenze von 1.314 Euro. Zunächst lebt sie kostenfrei bei einer Freundin, muss nach deren Umzug aber ein Zimmer in einem Wohnheim zu 400 Euro beziehen. So gerät sie unter die Schwelle und damit in Armut.
Schleichender und schlagartiger Absturz
Die in den zurückliegenden Jahren horrend gestiegenen Wohnkosten haben zwei fatale Entwicklungen befeuert. Inzwischen müssen viele Haushalte über ein Drittel ihres Einkommens zur Begleichung der Miete hinblättern, laut der Analyse „manche sogar mehr als die Hälfte“. Damit schwindet das zum Leben verbleibende Budget empfindlich, mithin bis zu dem Punkt, an dem man in die „unsichtbare“ Armut abgleitet. Das kann schleichend passieren, infolge wiederholter Mieterhöhungen, oder schlagartig, nämlich dann, wenn man zu einem Wohnungswechsel genötigt ist. Eigenbedarfskündigung, ein neuer Beruf, das Wunschstudium oder der Abschied vom Elternhaus, diese und andere Umzugsgründe können Menschen über Nacht in Armut stürzen.
Angesichts des fast allerorten herrschenden Wohnraummangels und eines „weitgehend unregulierten Mietmarkts“ sei eine neue Bleibe „selten ohne finanzielle Überlastung“ zu finden, schreiben die Autoren. Und weiter: „Über den Lebensstandard entscheidet nicht mehr nur die Höhe des Einkommens, immer wichtiger werden die Fragen, wie viel Geld eine Person fürs Wohnen ausgeben muss und wie viel Geld darüber hinaus noch übrigbleibt.“ Im Lichte der neuen Erkenntnisse erscheint auch die laufende Debatte um einen vermeintlich überbordenden Sozialstaat nur noch unanständig. Gerade die Unionsparteien machen derzeit üble Stimmung gegen das Bürgergeld, wollen dieses nach einem Wahlsieg gleich wieder abschaffen. Nimmt man die neu ermittelte, um die Wohnkosten bereinigte Armutsschwelle, liege der Regelbedarf „rechnerisch über 500 Euro“ darunter, heißt es in der Studie. Für 2023 ergab sich demnach eine sogenannte Armutslücke (Differenz zwischen Regelsatz und Wohnarmutsgrenze) von 514 Euro. Das Urteil der Forscher: „Bürgergeld, Sozialhilfe und Grundsicherung im Alter schützen nicht vor Armut.“
Bremen im Notstand
Die sozialen Unwuchten durchs Wohnen zeigen sich auch daran, dass die entsprechenden Belastungen in Relation höher ausfallen, je niedriger das vorhandene Haushaltsbudget ist. Wer schon wenig hat, gibt vergleichsweise mehr für ein Dach über dem Kopf aus. Dagegen bleibt bei besser Begüterten nach Abzug der Wohnkosten im Verhältnis mehr vom Verfügbaren für andere Zwecke übrig. Auch gelten von den Wohneigentümern mit 13,3 Prozent unterdurchschnittlich wenige als wohnarm, unter Mietern sind es 28,9 Prozent. Zu den Leidgeplagten gehören allen voran Erwerbslose (61 Prozent), dazu Alleinerziehende (36 Prozent), junge Erwachsene (31 Prozent) und Menschen ab 65 (27 Prozent). Von Rentnern in Singlehaushalten sind knapp 42 Prozent betroffen, das sind fast 13 Prozentpunkte mehr als die amtliche Statistik als „armutsbedroht“ ausweist.
Auch bei der Aufschlüsselung nach Bundesländern ergeben sich massive Abweichungen zwischen den offiziellen und bereinigten Kennziffern. „Führend“ ist Bremen mit einer Wohnarmutsquote von 29,3 Prozent bei einer konventionellen Quote von 21,5 Prozent. Danach folgen Sachsen-Anhalt mit 28,6 Prozent und Hamburg mit 26,8 Prozent. Lediglich drei Länder – Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz – bleiben unter der 20-Prozent-Marke. Der große Rest bewegt sich in einem Korridor zwischen 20 und 24 Prozent. Extrem daneben liegen Hamburg und Schleswig-Holstein in puncto Armutsbemessung. Für die Hansestadt ergibt sich eine Lücke von 11,8 Prozentpunkten zwischen amtlichem und realem Niveau, für den angrenzenden Nordstaat eine von 10,3 Prozentpunkten. So zeigte eine Auswertung des Zensus von 2022, dass dort neue Mietverträge bis zu 40 Prozent teurer sind als alte.
SPD schielt auf Superreiche
Der Paritätische hat eine Reihe an Vorschlägen, um der Misere zu begegnen. „Eine zielgerichtete Politik zur Vermeidung von Armut in Deutschland braucht gute Löhne, bessere soziale Absicherung und eine Wohnungspolitik, die Mieten bezahlbar hält“, bemerkte Hauptgeschäftsführer Rock. Die Zahlen unterstrichen die Notwendigkeit einer ambitionierten Wohnungspolitik und von Maßnahmen zur Begrenzung der Wohnkosten. Dazu zählten ein Mietendeckel, mehr Schutz vor Wohnraumverlust, rechtssichere und geförderte Wohngemeinnützigkeit, eine „Entfristung von Sozialbindungen“, ein effektives kommunales Vorkaufsrecht und allgemein mehr öffentlicher Wohnungsbau. Nicht zuletzt brauche es „eine Begrenzung von Profiten“.
Hat die Politik verstanden? Wohl kaum. Läuft es ganz schlecht, droht im kommenden Jahr die ohnehin nur gebremst wirksame Mietpreisbremse auszulaufen, weil sich Regierung und Opposition nicht auf eine Verlängerung verständigen können. Und wie steht es um eine Profitbremse? Tatsächlich will die SPD mit einer Vermögenssteuer Wahlkampf machen. Greifen soll die ab: 100 Millionen Euro! Von solchen Superreichen gibt es in Deutschland 3.300. Und wo bleiben die restlichen 1,6 Millionen Millionäre?
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