Kaum jemand hätte vor einigen Jahren gedacht, dass die Vernunft Wladimir Putins eines Tages die vielleicht größte Garantie dafür sein würde, dass Russland und die NATO nicht direkt aufeinanderprallen. Irgendwo tief im Inneren verlässt sich auch der Westen darauf, wenn er die „roten Linien“ überschreitet, was Moskau immer wieder provoziert. Währenddessen bereitet sich Europa auf einen großen Krieg vor. Wie lange kann dieses Spiel mit dem Feuer noch weitergehen? Welche Seite wird zum Bewusstsein zurückkehren? Ein Beitrag von Gábor Stier, aus dem Ungarischen übersetzt von Éva Péli.
Russland bereitet sich darauf vor, bis 2029 jedes Land angreifen zu können, einschließlich der NATO-Mitgliedstaaten. Das sagte Feldmarschall Christian Freudling, Leiter der Sonderkommission für die Ukraine des deutschen Verteidigungsministeriums, gegenüber der ukrainischen Zeitung Prawda. Er erklärte, dass Russland in absehbarer Zeit sicherlich die größte Sicherheitsbedrohung für Europa, für Westeuropa, darstellen werde. In den vergangenen Monaten haben mehrere führende NATO-Politiker gewarnt, dass sie glauben, Russland plane einen Angriff auf die Allianz und die europäischen Länder sollten daher ihre Verteidigungsausgaben deutlich erhöhen. In einer hysterischen Stimmung bereitet sich das Atlantische Bündnis ebenfalls auf einen großen Krieg vor.
Auf der Jahrestagung der Parlamentarischen Versammlung der Nordatlantischen Allianz in Montreal wurde kürzlich eine Resolution verabschiedet, in der dazu aufgerufen wird, die Ukraine bis zum Sieg zu unterstützen. Die Resolution 494 verurteilt auf das Schärfste den unprovozierten und ungerechtfertigten Krieg Russlands nach dem NATO-Narrativ, seine Aggression gegen die Ukraine, seine illegale und vorübergehende Besetzung ihres Territoriums. Die NATO sieht in der rücksichtslosen Politik Russlands, die durch nukleares Säbelrasseln unterstützt wird, eine direkte Bedrohung der euro-atlantischen Stabilität. Die Resolution steht für die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine. Sie bezeichnet den Weg Kiews zur Vollmitgliedschaft in der Allianz als unumkehrbar und begrüßt die auf dem Washingtoner Gipfel getroffenen Entscheidungen – institutionalisierte gemeinsame Analyse und militärische Planung, Ausbildung, langfristige Sicherheitshilfe –, die die Unterstützung für die Ukraine berechenbarer gemacht haben. In dem Dokument wird hervorgehoben, dass Russland nach wie vor die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit des Bündnisses darstellt und diese Bedrohung eine langfristige Gefahr bleibt, auf die man eine Antwort braucht.
Angesichts dieses Säbelrasselns ist es nicht verwunderlich, dass Schweden Informationsblätter verteilt, um die Bevölkerung auf den Krieg vorzubereiten, Deutschland angesichts der sich verschlechternden internationalen Bedrohungslage eine Bestandsaufnahme möglicher Schutzräume durchführt und die Esten bereits die Evakuierung des gesamten Landes vorbereiten.
Der Kommandeur der estnischen Streitkräfte machte auf einem Seminar klar, im Falle eines Angriffs bestehe das vorrangige Ziel der Streitkräfte des Landes darin, die russische Armee zu verlangsamen, und der Preis dafür sei die systematische Zerstörung Estlands. Generalmajor Andrus Merilo erklärte, dass die Verteidigungstaktik der estnischen Armee im Falle eines Angriffs Moskaus darin bestünde, die eigenen Städte einschließlich der Infrastruktur zu zerstören.
Während einige bereits über den Schutz und die Evakuierung der Zivilbevölkerung nachdenken, hat der NATO-Generalsekretär in Athen zu mehr Hilfe für die Ukraine aufgerufen, und die Parlamentarische Versammlung hat die westliche Gemeinschaft aufgefordert, der Ukraine Mittelstreckenraketen zu liefern.
In ähnlicher Weise versprach der deutsche Verteidigungsminister, dass die Europäer die militärische Unterstützung für die Ukraine verstärken würden. Boris Pistorius äußerte sich in Berlin, nachdem er Gastgeber eines Treffens der Fünfer-Gruppe – Großbritannien, Frankreich, Italien, Polen und Deutschland – war. Die Minister diskutierten darüber, wie die Unterstützung für die Ukraine aufrechterhalten werden kann, wenn Donald Trump ins Weiße Haus zurückkehrt.
„Unser Ziel muss es sein, der Ukraine zu ermöglichen, aus einer Position der Stärke heraus zu handeln“, sagte Pistorius. Dem schloss sich der polnische Verteidigungsminister Wladyslaw Kosiniak-Kamysz an. Er sagte, es müsse deutlich gemacht werden, dass Europa seine Anstrengungen verstärken müsse, wenn es darum gehe, der Ukraine zu helfen, aber vor allem, wenn es um seine eigene Sicherheit gehe. Die NATO-Mission in Wiesbaden werde im Januar die Koordination der westlichen Militärhilfe für die Ukraine übernehmen, sagte Pistorius, was schon Monate zuvor erwartet worden sei.
Die Einrichtung der neuen Mission, die den Namen „NATO-Sicherheitshilfe und Ausbildung für die Ukraine“ (NATO Security Assistance and Training for Ukraine, NSATU) tragen soll, wird weithin als Versuch gesehen, den Hilfsmechanismus vor einer möglichen Einmischung Trumps zu schützen.
Frankreich und Großbritannien diskutieren unterdessen die Idee, Truppen in die Ukraine zu schicken. Die französische Zeitung Le Monde berichtet, dass die europäischen Länder die Gespräche über die Entsendung von Truppen oder privaten Auftragnehmern in die Ukraine wieder aufgenommen hätten. Anfang dieses Jahres hatte Macron die Idee der Entsendung westlicher Truppen in die Ukraine vorangetrieben, aber wenig Unterstützung erhalten. Obwohl durchgesickert ist, dass sich NATO-Sondereinsatztruppen in geringer Zahl in der Ukraine aufhalten, darunter auch britische Soldaten, die beim Abschuss britischer Storm-Shadow-Raketen helfen sollen, hat Macron einen größeren öffentlichen Einsatz gefordert, der vor allem der Ausbildung ukrainischer Kräfte dienen soll.
In dieser Atmosphäre dürfte es nicht überraschen, dass einige US-amerikanische und europäische Beamte die Möglichkeit der Weitergabe von Atomwaffen an die Ukraine erörtert haben. Nach Angaben der New York Times wurde eine Reihe von Optionen ins Gespräch gebracht, die Russland davor abschrecken könnten, weitere ukrainische Gebiete zu erobern. Der Zeitung zufolge diskutieren westliche Beamte über Abschreckung als mögliche Sicherheitsgarantie für die Ukraine, zum Beispiel über die Anhäufung eines konventionellen Arsenals, das für einen Strafschlag ausreicht, falls Russland den Waffenstillstand verletzt. Es wird nicht erwartet, dass der Kreml den Krieg vor der Amtseinführung von Donald Trump im Januar wesentlich eskalieren wird.
Wir könnten diese Reihe über Kriegshetze, über die Hysterie noch lange weiterführen, aber das hat wenig Sinn, denn es würde nur die Angst verstärken, die die europäischen Gesellschaften bereits im Griff hält. Stattdessen würde ich empfehlen, dass wir versuchen, ruhig und rational über die Chancen eines großen Krieges, eines Zusammenstoßes zwischen der NATO und Russland nachzudenken.
Es scheint, dass der rationalere Teil des Westens davon ausgeht, dass der Kreml kein Interesse an einer Eskalation des Krieges vor Trumps Amtsantritt hat, sodass sie – Putins Entschlossenheit testend – versuchen, die Ukraine in eine bessere Verhandlungsposition zu bringen, als sie derzeit ist. Dazu müssen sie natürlich in erster Linie den Zusammenbruch der ukrainischen Armee im Donbass verhindern und, wenn möglich, den russischen Vormarsch verlangsamen, während sie Russland wie auch immer unter Druck setzen, unter anderem mit Raketen größerer Reichweite. Um dies zu erreichen, wird Kiew in den nächsten zwei Monaten jede erdenkliche Unterstützung, sprich Waffensysteme erhalten, sodass Trump auch diese Situation in Betracht ziehen muss – vorausgesetzt, es wird eine neue Situation geben.
Dieses Szenario, das vor allem von der Biden-Administration propagiert wird, ist ziemlich zynisch, aber hat gewissen Sinn. Im europäischen Säbelrasseln jedoch sehe ich keinen mehr.
Die „Berliner Fünf“ – zwar ab und an verunsichert – sind immer noch entschlossen, einen russischen Sieg zu verhindern und die Ukraine bis zum Ende zu unterstützen. Aber das ist ein Irrglaube. Es wäre besser, an die Verhandlungen zu denken, die eines Tages kommen werden, und die Ukraine in diese Richtung zu drängen. In der Zwischenzeit würde es sich lohnen, sich Gedanken darüber zu machen, wie die neue europäische Sicherheitsstruktur aussehen soll und welche Garantien sowohl die Ukraine als auch Russland dabei erhalten können. Denn beide Seiten befürchten, dass ein Waffenstillstand von der anderen Seite genutzt wird, um sich aufzurüsten, und dass sie irgendwann wieder angreifen wird. Stattdessen geht die europäische Machtelite dem US-amerikanischen Szenario voraus und bietet an, die Ukraine zu bewaffnen und den Krieg und die Aufrechterhaltung des Staates zu finanzieren. Gleichzeitig zeichnet sie ein apokalyptisches Bild der russischen Bedrohung für Europa, um die sinnlosen Ausgaben und die Aufrechterhaltung des Krieges zu rechtfertigen.
Inzwischen sprechen sie erschrocken über ihr eigenes Säbelrasseln von einem Weltkrieg, einem Atomkrieg, anstatt die eigenen Verteidigungskapazitäten zu stärken.
Natürlich sind sie sich bewusst, dass dies in weiter Ferne liegt – doch man sollte nicht stets mit Provokationen bis an die Grenzen gehen –, und paradoxerweise setzen sie inmitten dieser eskalierenden Hysterie auf die Rationalität Wladimir Putins. Das ist vielleicht das Einzige, worauf wir uns im Moment einigen können, denn in dieser Situation ist Putins gesunder Menschenverstand, sein rationales, realpolitisches Denken, das im Interesse Russlands liegt, die solideste Garantie dafür, dass wir einen dritten Weltkrieg vermeiden werden. Das heißt natürlich nur, wenn der Westen den russischen Präsidenten nicht in eine Lage bringt, in der er nicht mehr nach seinem besten Willen handeln kann.
Dieser Beitrag ist im ungarischen Original auf Moszkvater erschienen.
Titelbild: Shutterstock / Tomas Ragina