Venezuelas Wirtschaft: Zahlen, Wahrheiten und große Lügen (I)

Venezuelas Wirtschaft: Zahlen, Wahrheiten und große Lügen (I)

Venezuelas Wirtschaft: Zahlen, Wahrheiten und große Lügen (I)

Ein Artikel von amerika21

Die offizielle Version besagt, dass die venezolanische Wirtschaft im letzten Jahr wichtige Indikatoren für eine Erholung und Normalisierung sowohl des Produktionsprozesses als auch des Kapitalverwertungsprozesses aufweist. Neue und diversifiziertere Waren werden exportiert, und es fließen immer mehr Devisen ins Land, wodurch sich sowohl die Wechselkurse als auch die Investitionsraten erholen. Gleichzeitig hat die Dynamik der Aktivierung von Handel und Industrie zu einer nachhaltigen Einkommenssteigerung in der Arbeiterklasse geführt. Doch können wir wirklich von einem Produktions- und Verteilungsmodell sprechen, das für die Interessen der großen Mehrheit egalitärer und funktionaler ist? Von Carlos Dürich.

Teil 1

Dieselbe offizielle Version besagt, dass diese neue wirtschaftliche Realität eine Post-Rentierwirtschaft hervorzubringen und zu konsolidieren scheint. Demnach werden die alten Strukturen und Logiken des Rentenkapitalismus allmählich überwunden, um einem neuen Akkumulationsmodell Platz zu machen, das von privatwirtschaftlichen Unternehmern, ausländischen Investoren und in geringerem Maße von Joint Ventures und der kommunalen Erfahrung getragen wird.

Aber sicherlich gehorchen diese Slogans einer realen Tatsache: Zeigen die Daten wirklich, dass der Ertragskapitalismus durch ein anderes Akkumulationsmodell ersetzt wurde? Kann man von einem Produktions- und Verteilungsmodell sprechen, das für die Interessen der großen Mehrheit egalitärer und funktionaler ist?

Für diese Analyse müssen wir auf frühere Daten und statistische Aufzeichnungen unserer Wirtschaft zurückzugreifen. In vielen Fällen gibt es keine offiziellen Daten zur industriellen Reaktivierung, zum Exportvolumen oder zum Absatz von Kohlenwasserstoffen, sodass man auf sekundäre und sogar tertiäre Quellen zurückgreifen muss.

In unserem Fall werden wir unsere Überlegungen auf mehrere Quellen stützen.

Erstens werden wir die in den digitalen Registern der venezolanischen Zentralbank (BCV) verfügbaren Statistiken sowie die Daten der venezolanischen Antiblockade-Beobachtungsstelle (OVA), das dem Internationalen Zentrum für produktive Investitionen (CIIP) angegliedert ist, und die vom Nationalen Integrierten Dienst für Zoll- und Steuerverwaltung (Seniat) herausgegebenen Bulletins zur Steuererhebung analysieren.

Zweitens stützen wir uns im Falle des inländischen Industriesektors auf die Konjunkturumfragen der Vertreter des venezolanischen Industrieverbands (Conindustria) und die des venezolanischen Verbands der chemischen und petrochemischen Industrie (Asoquim). Drittens werden wir für den externen Sektor das Bulletin des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) zur Makroökonomischen Leistung von Venezuela als Referenz heranziehen; und schließlich werden wir im Falle des Wertes von Deviseninterventionen die Informationen verwenden, die auf dem Portal “Banca y Negocios” verfügbar sind, und für die Preise des Warenkorbes einer Familie werden wir die Berichte des Zentrums für Soziale Dokumentation und Analyse der Venezolanischen Lehrervereinigung (Cendas – FVM) zusammen mit weiteren digitalen Portalen analysieren.

Einige Klarstellungen im Vorfeld

Insbesondere als linke Analytiker und speziell als Marxisten ist es für uns wichtig, einerseits zu überprüfen, welche Auswirkungen neue Methoden oder Formen der sozialen Reproduktion auf die verschiedenen Klassen haben und ob diese Maßnahmen der einen oder anderen Klasse die politische Initiative geben.

Letztlich sagen uns Daten wie das Bruttoinlandsprodukt, der Gini-Koeffizient, die Inflations- oder Investitionsraten, die Volatilität des Kreditsystems, die Bewertung der Geldmenge oder die Arbeitslosen- oder Beschäftigungsquote wenig über die Schwankungen des Klassenkampfes. Diese Daten sagen vor allem etwas über die Gesundheit des bürgerlich-liberalen Systems, die Eigentumsordnung und den Ausbeutungsgrad der Lohnarbeit aus.

Das soll nicht heißen, dass Indikatoren für die Bewertung der Wirtschaftspolitik eines revolutionären Prozesses überflüssig sind, sondern vielmehr, dass sie im Rahmen der Gesamtheit der Gesellschaft gesehen werden müssen, verstanden unter den Bestrebungen nach Veränderung und Transformation der Gesellschaft, die diese Indikatoren hervorbringt.

Gerade das wirtschaftliche Denken muss den Umfang und die Leistungen, auf die bestimmte Indikatoren hinweisen, relativieren. Andernfalls wird das Lesen und Nachdenken über die Wirtschaft zu einer technokratischen Übung von Werten, die den Interessen des Großkapitals dienen und weit von den tatsächlichen Bedürfnissen der Menschen entfernt sind.

Kurz gesagt, eine Wirtschaft kann „stabile und vielversprechende” Wachstumsindikatoren aufweisen, aber das bedeutet weder, dass dank dieses Wachstums die notwendigen strukturellen Veränderungen, die die Wirtschaft benötigt, durchgeführt werden, noch dass diese gesunden und vielversprechenden Perspektiven im täglichen Leben der großen gesellschaftlichen Mehrheit spürbar wären. Diese Kritik ist nicht neu. Sie wurde von vielen Kritikern und sehr treffend von Oscar Varsavsky unter dem Begriff des quantitativen Irrtums 1 hervorgehoben.

Monetäre Liquidität und der Devisenmarkt

Beginnen wir mit der Analyse der monetären Liquidität und ihrer Beziehung zu den Devisenmarktinterventionen der Venezolanischen Zentralbank BCV und dem Wechselkurs.

Im bisherigen Jahresverlauf, d.h. vom 1. Januar bis zum 20. September, hat sich die monetäre Liquidität erhöht, und zwar um 66,458 Milliarden Bolívar, nämlich von knapp über 70 auf 136,481 Milliarden. Dies entspricht einer realen Veränderung von etwa 95 Prozent. Im gleichen Zeitraum hat die BCV bei 51 Devisenmarktinterventionen 3,852 Milliarden US-Dollar verkauft und damit einen festen Wechselkurs aufrechterhalten, der in diesem Jahr bisher nur um 2,8 Prozent schwankte, nämlich von 35,8 Bolívar pro Dollar Anfang Januar bis 36,9 Bolívar pro Dollar in den ersten Oktobertagen.

Eine einfache mathematische Analyse führt zu mehreren Fragen. Die erste Frage betrifft die Liquidität des Geldes selbst. Wenn also 3,852 Milliarden Dollar zum niedrigsten Kurs des Jahres verkauft wurden, müsste es 138,159 Milliarden Bolívar geben, die in das nationale Währungsregister hätten aufgenommen werden müssen; dieser letzte Wert ist höher als die bis heute vorhandene Gesamtliquidität, was Zweifel an der These aufkommen lässt, wonach die Inflation – und damit die Wechselkursschwankungen – aus der übermäßigen Zunahme der Liquidität resultiert.

Nicht einmal die gesamte Liquidität des Landes kann den Verkauf der allein von der BCV verkauften Dollars abdecken, ganz zu schweigen von den acht Milliarden Dollar, die nach Angaben von Vizepräsidentin Delcy Rodríguez bis Mai von den Wechselstuben geliefert worden sind.

Es wäre interessant zu fragen: Wo sind die Bolívares aus diesen Verkäufen?

Die Regierung hat sich mehrfach zu dem Erfolg geäußert, den das derzeitige Wechselkursmodell hervorgebracht hat, und dabei auf die starke Beteiligung des Privatsektors an der Platzierung von Devisen zum Ausgleich des Systems verwiesen.

Abgesehen davon wird 2024 das Jahr mit dem größten Devisenvolumen werden, das die BCV an private Wechselstuben geliefert hat. Bis zu diesem September lag es 20 Prozent höher als zum gleichen Zeitpunkt im Jahr 2023 (3,195 Milliarden Dollar) und 16,7 Prozent höher als im Jahr 2022 (3,3 Milliarden).

Dies widerspricht der monetaristischen Logik, denn 2023 wies die Liquidität zwischen Januar und September eine Schwankung von 129,2 Prozent auf, während sie für den gleichen Zeitraum im Jahr 2022 eine Schwankung von 155,4 Prozent verzeichnete. Die Tendenz sollte sein, dass die Devisennachfrage umso größer ist, je größer die Liquiditätsschwankungen sind; hier und in vielen statistischen Studien ist jedoch die gegenteilige Tendenz zu beobachten, was uns dazu veranlasst, diese formal widerlegte Theorie endgültig zurückzuweisen.

Jenseits der monetaristischen Fata Morgana ist der wahre Grund für die wachsende Nachfrage nach Devisen das ständig wachsende Zahlungsbilanzdefizit, d.h. wir fragen inzwischen mehr Waren aus dem Ausland nach, als wir dort absetzen können; dies zeigt sich bei zwei unserer wichtigsten Handelspartner, China und USA.

Nach Angaben des Exekutivdirektors der venezolanisch-chinesischen Handelskammer, Ángel Freitez, erreichte der Handel außerhalb des Ölsektors zwischen den beiden Ländern bis Juni dieses Jahres einen Wert von 3,8 Milliarden. Das klingt beeindruckend, aber die Handelsbilanz ist völlig unausgeglichen. China platzierte Waren im Wert von 3,1 Milliarden Dollar in Venezuela, während Venezuela Waren und Dienstleistungen in Höhe von nur 700 Millionen Dollar in den asiatischen Riesen exportieren konnte. Das venezolanische Defizit von 2,4 Milliarden Dollar kann nur durch die Dollars aufgefangen werden, die von den Wechselstuben kommen, wo die BCV ihre Dollars platziert. Wenn der Privatsektor nicht auf magische Weise 700 Millionen in 2,4 Milliarden umwandelt, gibt es nur einen Ort, an dem man die fehlenden Devisen bekommen kann.

Manch einer wird sagen: „Nun, aber durch das nach China gelieferte Öl wird das Defizit ausgeglichen.” Es ist bekannt, dass ein großer Teil des Öls, das nach China geschickt wird, zur Deckung überfälliger Schulden verwendet wird; aber selbst wenn alle Devisen aus dem Rohölhandel nach Venezuela zurückkehren würden, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie über die BCV an die Wechselstuben fließen würden, um die wachsende Nachfrage nach Devisen zu lindern. Die obigen Ausführungen verdeutlichen nur die starke Abhängigkeit des Nicht-Ölsektors vom Ölsektor.

Wenn wir in gleicher Art und Weise die anhaltende Handelsbilanz mit den USA näher betrachten, sehen wir, auf Basis der UNDP-Daten, dass unsere Exporte auf den US-Markt im ersten Quartal dieses Jahres 1,023 Mrd. Dollar erreicht haben, während unsere Importe im gleichen Zeitraum 1,149 Mrd. Dollar betrugen; dies ergibt ein Defizit in Höhe von 126 Millionen Dollar.

In dieser Handelsbeziehung gibt es einen entscheidenden Punkt: Während unsere Importe hauptsächlich aus Soja, Reis und Mais und in geringerem Maße aus Erdölderivaten bestehen, was zeigt, dass es sich bei unseren Importen hauptsächlich um Produkte außerhalb des Öl-Sektors handelt, bestehen unsere Exporte zu 92 Prozent aus Kohlenwasserstoffen, d.h. die Erdölexporte beliefen sich auf 941 Millionen Dollar, während die Nicht-Öl-Exporte sich auf etwas mehr als 81 Millionen Dollar beliefen.

Einmal mehr zeigt sich, dass das große Defizit weiterhin in den Nicht-Öl-Sektoren im Vergleich zum Ölsektor besteht, wo die von der BCV platzierten Devisen eine wichtige Rolle spielen.

Unser Industriesektor

Analysieren wir nun die Fortschritte bei der Exportdynamik des verarbeitenden Sektors in Venezuela. Für das erste Quartal 2021 gaben 85 Prozent der von Conindustria befragten Unternehmen an, nicht zu exportieren; für das zweite Quartal 2024 ist ein Anstieg des Prozentsatzes der Unternehmen, die exportieren, zu erkennen, aber der Prozentsatz derjenigen, die nicht exportieren, ist weiterhin in der Mehrheit und liegt bei 62 Prozent.

Eine weitere auffällige Tatsache, die sich in diesen Erhebungen widerspiegelt, ist die Dynamik der Importe: Im ersten Quartal 2021 gaben 60 Prozent der Unternehmen an, dass sie für ihren Betrieb Ressourcen importieren müssen, im zweiten Quartal 2024 steigt dieser Prozentsatz auf 89 Prozent.

Während die Zahl der exportierenden Unternehmen um 27 Prozent zunahmen, stieg die Zahl der importierenden Unternehmen um 48 Prozent, d.h. der Importbedarf wuchs schneller als die Geschwindigkeit, mit der wir unsere Produkte im Ausland platzierten, was zeigt, dass das Wachstum unseres verarbeitenden Sektors strukturell vom Außenhandel abhängig ist. Und solange dessen bestehende Kapazität weiterhin aktiviert wird, wird der Druck auf die Nachfrage nach Devisen weiter zunehmen.

An dieser Stelle muss überprüft werden, wie sich dieser Sektor auf unsere Wirtschaft ausgewirkt hat, allerdings nicht so sehr in Form von Makrodaten, sondern in Form von Daten, die sich auf das Einkommen, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Entwicklung der Diversifizierung des Sektors beziehen.

Die Analyse der in den Umfragen von Conindustria verfügbaren Daten für den Zeitraum vom ersten Quartal 2021 bis zum zweiten Quartal 2024 ergibt folgendes Bild: Im genannten Zeitraum haben durchschnittlich 56,5 Prozent der Unternehmen eine Umsatzsteigerung bestätigt und nur 13,5 Prozent haben ihre Belegschaft vergrößert.

Andererseits ist der Durchschnittslohn eines Arbeiters real um 183,3 Prozent gestiegen, nämlich von 78 Dollar im ersten Quartal 2021 auf 221 Dollar im zweiten Quartal 2024; die BCV-Verbraucherpreisschwankung summiert sich jedoch im gleichen Zeitraum auf einen Anstieg von 488,8 Prozent, d.h. die Preise sind 2,6 Mal schneller gestiegen als der Industrielohn.

Es ist wichtig zu beachten, dass ein Großteil dieser Preisschwankungen durch das verarbeitende Gewerbe selbst verursacht wird. Im August dieses Jahres erreichte der von der Cendas – FVM registrierte Familien-Lebensmittelkorb 539,16 Dollar, was 2,5 Industrielöhnen entspricht.

Ein weiteres Element, das hervorzuheben ist, ist die ungleiche Einkommensverteilung in diesem Sektor. Der durchschnittliche Unterschied zwischen dem Einkommen eines Arbeiters und eines Managers beträgt das 4,2-Fache, und bei den größten Unternehmen beträgt dieses Verhältnis mehr als das Fünffache.

In Bezug auf die Diversifizierung des Sektors ist anzumerken, dass die Auslastung der bestehenden Kapazitäten im zweiten Quartal dieses Jahres bei etwa 40 Prozent lag, was noch weit von den 44 Prozent des vierten Quartals 2015 entfernt ist; aber wie wir bereits erwähnt haben, ist diese Aktivierung eng mit dem oben beschriebenen Import-Export-Mechanismus verbunden.

Nach dieser Analyse müssen wir feststellen: 1. dass die Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes ihren Umsatz in den letzten drei Jahren überwiegend gesteigert haben. 2. Allerdings hat nur eine kleinere Gruppe dieser Unternehmen die Beschäftigung im Lande tatsächlich erhöht. 3. Außerdem gibt es eine Tendenz zu einer starken Abhängigkeit vom Außenhandel und zu einer starken Nachfrage nach ausländischen Währungen.

Der zweite Teil der Analyse wird am 21. Dezember auf den NachDenkSeiten veröffentlicht werden.

Übersetzung: Susanne Schartz-Laux, Amerika21

Titelbild: Shutterstock / Allexxandar

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