Die anhaltende Hölle für Gazas Bevölkerung darf nicht vergessen werden!

Die anhaltende Hölle für Gazas Bevölkerung darf nicht vergessen werden!

Die anhaltende Hölle für Gazas Bevölkerung darf nicht vergessen werden!

Ein Artikel von Annette Groth

Die Anzahl der Toten steigt, Hunger nimmt zu, sauberes Trinkwasser und Medikamente fehlen, Ärzte werden ermordet. Auch wenn die Medien sich jetzt auf die Situation in Syrien fokussieren – Netanjahu wird das freuen –, müssen der Völkermord in Gaza sowie die Forderung nach Vollstreckung der Haftbefehle gegen Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Gallant immer wieder betont werden. Soll UNRWA verboten werden, um den Weg frei zu machen für eine absolute Kontrolle der Bevölkerung durch ein US-Unternehmen, wie israelische Pläne enthüllen? Von Annette Groth.

„Bitte denken Sie daran, dass wir an der Schwelle zur Vernichtung stehen. Kinder essen Gras. Familien werden im Schlaf getötet. Zelte werden überflutet. Kinder werden erschossen. Bitte setzen Sie sich für einen Waffenstillstand für uns ein. Wir wollen unsere Kinder aufwachsen sehen.“ (Nahed Hajjaj, palästinensischer Journalist, 26. November 2024)

Am 1. November 2024 titelte Mondoweiss, ein jüdisches elektronisches Journal aus den USA: „Israels Massentötungskampagne in Gaza eskaliert“. In neun Tagen (zwischen dem 22. und 31. Oktober 2024) hat die israelische Armee 639 Palästinenser getötet – 71 Menschen täglich (!) – und über 2.000 verletzt – mehr als 200 Palästinenser täglich. Laut dem Gesundheitsministerium in Gaza sind das nur diejenigen Toten, die man geborgen hat. Viele liegen noch unter den Trümmern, viele werden an ihre Verletzungen sterben. Ende Oktober stellte das israelische Militär in Nordgaza jegliche humanitären Hilfsleistungen ein, Krankenhäuser wurden evakuiert.

„Der Zivilschutz ist aufgrund der anhaltenden israelischen Beschusskampagne zwangsweise komplett zum Erliegen gekommen, Tausende von Bürgern sind ohne humanitäre und medizinische Versorgung.“ [1]

Am gleichen Tag veröffentlichten die Leiter von 15 UNO- und privaten Hilfsorganisationen einen Alarmruf:

„Die gesamte palästinensische Bevölkerung in Nordgaza ist akut vom Tod durch Krankheit, Hunger und Gewalt bedroht. Die Lage im Norden Gazas ist apokalyptisch. Die Region ist seit fast einem Monat in einem Belagerungszustand. Der Bevölkerung werden selbst rudimentäre Unterstützung und überlebenswichtige Versorgungsgüter verwehrt, während die Bombardierungen und andere Angriffe anhalten.“ [2]

Wie bereits dutzende Male vorher fordern die Organisationen einen sofortigen Waffenstillstand. Seit Oktober 2023 gibt es zahlreiche Aufrufe zum Waffenstillstand und einem sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen sowie alarmierende Meldungen zu der humanitären Katastrophe in Gaza, jetzt verstärkt auch im Libanon und in der Westbank, die alle ohne erkennbare Konsequenzen blieben. Statt Waffenlieferungen nach Israel zu stoppen oder sie zumindest einzuschränken, wurden sie aus Deutschland und den USA verstärkt.

Auch der Bundesregierung sollte es allmählich dämmern, dass sich Israel schon lange nicht an das Völkerrecht hält, sondern offen und provokativ dagegen verstößt. Die Netanjahu-Regierung scheint nicht mit irgendwelchen Sanktionen zu rechnen. Also gehen Bombardierungen in Gaza, im Libanon und jetzt auch in Syrien weiter.

Ungerührt verfolgt die israelische Regierung ihre Pläne für Gaza weiter, wie sie General Giora Eiland Anfang Oktober enthüllte. Demzufolge sollen Teile des Gazastreifens abgezäunte Lager werden, bewacht und verwaltet von einer privaten Söldnerfirma, der vom israelischen Geschäftsmann Mordechai Kahana geführten US-Firma Global Delivery Company (GDC).

„Die Verteilung von Nahrung würde fortan in diesen Lagern stattfinden, zu denen nur Zugang erhält, wer sich von den Söldnern biometrisch erfassen lässt – einschließlich Fingerabdrücken, Gesichtserkennung und Stimmproben. Finanziert würde das Projekt voraussichtlich aus US-Steuergeldern und internationalen Spenden. Zunächst auf den Norden Gazas begrenzt, solle das Konzept der privaten Internierungslager im Anschluss auf das gesamte Gebiet der Küstenenklave ausgeweitet werden.“ [3]

Wurde UNRWA, die extra für palästinensische Flüchtlinge 1949 gegründete UN-Organisation, in Israel verboten, um den Weg frei zu machen für absolute Kontrolle der Bevölkerung Gazas durch ein Unternehmen? Die Journalistin Noa Landau kommentiert: „Das Ziel ist, die moralische und rechtliche Verantwortung von Israel auf diese bewaffneten Milizen zu übertragen.“ [4]

Wenn die internationale Gemeinschaft das zuließe, wäre es das endgültige Aus für das humanitäre Völkerrecht. Aber vielleicht wollen das einige Regierungen, um ungestört mit neuen Technologien wie Gesichtserkennung und Stimmproben bei der Kontrolle von Menschen zu experimentieren: ein weiterer Baustein im „Laboratorium Israel“, in dem seit vielen Jahren neue Waffen und Überwachungstechnologien erprobt und mit gutem Gewinn sowie dem Label „tested on the ground“ in alle Welt verkauft werden.

Scharfe Kritik an dem UNRWA-Verbot äußert Abdel Shafi, Botschafter Palästinas in Österreich und bei den internationalen Organisationen in Wien:

„Die Abstimmung der israelischen Knesset gegen die UNRWA ist beispiellos und stellt einen gefährlichen Präzedenzfall dar. Diese Entscheidung widerspricht klar der UN-Charta. Dies stellt nicht nur einen Schritt gegen das palästinensische Volk, sondern auch gegen Völkerrecht und die Weltgemeinschaft dar. Eine angemessene Reaktion darauf kann nur der Ausschluss Israels von den Vereinten Nationen sein. Denn ein Staat, der eine UN-Organisation als Terrororganisation diffamiert und verbietet sowie den UN-Generalsekretär als Persona non grata bezeichnet und ihm die Einreise verweigert, hat seinen Platz bei den Vereinten Nationen ein für alle Mal verwirkt.“ [5]

Sogar von der Beauftragten der Bundesregierung für Menschenrechte Luise Amtsberg kommt Kritik an dem UNRWA-Verbot: „Wenn die Gesetze in dieser Form von der israelischen Regierung umgesetzt würden, würde das die Arbeit von UNRWA in Gaza, im Westjordanland und in Ost-Jerusalem faktisch unmöglich machen.“ Es sei ein „gefährliches Signal der Missachtung der Vereinten Nationen und der internationalen Zusammenarbeit“. [6] Bislang bleibt die Kritik ohne Folgen.

Deutschland – ein Paria-Staat

Durch Deutschlands bedingungslose Unterstützung mit Waffen und weitreichenden Privilegien durch Handels- und Wissenschaftskooperationen sowie der Leugnung der Verstöße gegen das Völkerrecht begibt sich die Bundesregierung mit ihrer „regelbasierten Politik“ ins politische globale Abseits. Deutschlands ehemaliges gutes Standing in der arabischen Welt ist nachhaltig zerstört, eine Vermittlerrolle ist nun ausgeschlossen.

Einen internationalen Eklat provozierte Außenministerin Baerbock, als sie in einer Rede vor dem Bundestag sagte, dass zivile Einrichtungen in Gaza „ihren Schutzstatus verlieren könnten“:

„Selbstverteidigung bedeutet natürlich nicht nur, Terroristen anzugreifen, sondern sie auch zu vernichten. Deshalb habe ich so deutlich gemacht, dass wir uns in sehr schwieriges Fahrwasser begeben, wenn sich Hamas-Terroristen hinter Menschen, hinter Schulen verstecken. Aber wir scheuen uns nicht davor. Deshalb habe ich bei den Vereinten Nationen klargestellt, dass zivile Einrichtungen ihren Schutzstatus verlieren könnten, wenn Terroristen diesen Status missbrauchen.“ [7]

Daraufhin forderte die UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete, Francesca Albanese, die Außenministerin auf, Beweise für ihre Behauptung vorzulegen, dass sich Hamas-Kämpfer in Schulen oder in anderen zivilen Einrichtungen verstecken. Bis heute blieb das Außenministerium eine Antwort schuldig. Immer wieder gibt auch die israelische Armee als Grund für die Bombardierung von Schulen und Krankenhäusern angebliche Verstecke von Kämpfern an, Belege dafür gibt es allerdings nie. Ärzte in Gaza haben immer wieder betont, dass sie niemals Waffen oder Kämpfer in Tunneln unter ihren Krankenhäusern gesehen hätten. Dagegen sind sie der Auffassung, dass durch die Zerstörung von Krankenhäusern und die gezielte Tötung von Ärzten und medizinischem Personal eine größtmögliche Anzahl von Toten bewirkt werden soll.

300 Akademiker protestierten gegen Baerbocks Rede und forderten sie in einem Brief auf, ihre „Schutzstatus“-Erklärung zurückzuziehen. In dem von der Palestine Academic Group initiierten Brief kritisieren sie, dass Baerbock „Israels altes Narrativ des menschlichen Schutzschildes nachplappern“ würde und eine „fadenscheinige Rechtfertigung für die völkermörderische Kampagne gegen palästinensische Zivilisten“ lieferte. [8]

Für einen weiteren internationalen Skandal sorgte die Lieferung von acht Containern des Sprengstoffs Royal Demolition Explosive (RDX) an Israels größtes Militärunternehmen Elbit Systems. RDX-Sprengstoff ist ein in Deutschland erfundener Sprengstoff, der stärker als TNT gilt und als Schlüsselkomponente für die Produktion von Fliegerbomben, Granaten und Raketen benötigt wird.

Auf dem Weg von Vietnam, wo das Frachtschiff MV Kathrin mit dem Sprengstoff beladen worden war, sollte das erste Anlegeziel Walvis Bay sein, der größte Überseehafen Namibias. Die dortigen Behörden verweigerten dem Schiff die Anlegeerlaubnis mit der Begründung, dass „Namibia seiner Verpflichtung nachkommt, israelische Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord sowie die rechtswidrige Besetzung Palästinas nicht zu unterstützen oder sich daran mitschuldig zu machen“. Der namibische Justizminister wies auf die Resolution des UN-Menschenrechtsrats vom 5. April 2024 hin, die ein Waffenembargo gegen Israel forderte. Die Resolution war mit großer Mehrheit angenommen worden, nur die USA, Deutschland und vier weitere Staaten hatten dagegen gestimmt.

Die UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese lobte die Entscheidung Namibias und erinnerte die internationale Gemeinschaft daran, dass „jede militärische Lieferung an Israel, das nach Feststellung des Internationalen Gerichtshofs möglicherweise Völkermord begeht, einen Verstoß gegen die Völkermordkonvention darstellt“. [9]

Da das Schiff zu diesem Zeitpunkt unter portugiesischer Flagge fuhr, kritisierte Albanese auch Portugal, das damit einen Verstoß gegen das Völkerrecht begehe. Daraufhin entflaggte die portugiesische Regierung das Schiff, einen Tag später war das Schiff laut verschiedenen Schiffsortungswebseiten unter deutscher Flagge registriert (MS PENG CHAU BOEHE SCHIFFAHRT GMBH & CO). Damit ist Deutschland sowohl als Flaggen- als auch Reedereistaat für das Frachtschiff und dessen Ladung völkerrechtlich voll verantwortlich. Nach derzeitigem Wissensstand liegt die MV Kathrin im Mittelmeer in internationalen Gewässern, nachdem ihr auch der EU-Mitgliedsstaat Malta mit Verweis auf die völkerrechtliche Lage und den an Bord befindlichen RDX-Sprengstoff die Einfahrt in seine Gewässer verweigerte.

Entzug der Akkreditierung

Der Ruf nach Sanktionen gegen Israel nimmt zu und auch die Forderung, israelischen Diplomaten die Akkreditierung bei der UNO zu entziehen, wird zunehmend lauter. 1974 beschloss die UN-Generalversammlung, Südafrika von der Teilnahme an den Sitzungen der Generalversammlung und ihrer Ausschüsse auszuschließen, und entzog damit das Recht an Mitberatung und Abstimmung. Die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen hat Südafrika damals nicht verloren, aber es war ein starkes politisches Zeichen der internationalen Gemeinschaft gegen die Apartheidpolitik.

Aufgrund der Waffenlieferungen und ihrer unverbrüchlichen Unterstützung der israelischen Regierung steht die Bunderepublik international am Pranger. Das angebliche Recht auf Selbstverteidigung Israels, das von Baerbock ständig wiederholt wird und als Begründung für die Zerstörung Gazas sowie der Massaker herhalten muss, ist abwegig und wird durch die Völkermordbelege ad absurdum geführt.

Zu offensichtlich sind die Beweise des willkürlichen und gezielten Tötens von Zivilisten, der Misshandlungen von Tausenden palästinensischen Gefangenen, sexueller Gewalt, des Entzugs von Nahrungsmitteln und der Verweigerung humanitärer Hilfe – die Liste ist endlos. Aufgrund der erdrückenden Beweise und der Überzeugung zahlreicher Völkerrechtler ist es nicht nachvollziehbar, dass Außenministerin Baerbock und Bundeskanzler Scholz weiterhin leugnen, dass es sich in Gaza um Völkermord handelt.

Angesichts der Klage, die Südafrika im Dezember 2023 beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) gegen Israel aufgrund des Verdachts des Völkermordes eingereicht hat, warnt die UN-Sonderberichterstatterin für Palästina, Francesca Albanese: Wenn „Deutschland beschließt, sich an die Seite eines Staates zu stellen, der internationale Verbrechen begeht, dies eine politische Entscheidung ist, aber auch rechtliche Auswirkungen hat“. [10]

Hier sei daran erinnert, dass der Gerichtshof in Den Haag am 26. Januar 2024 entschied, dass Israel alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen muss, um einen Völkermord im Gazastreifen zu verhindern. Seitdem hat Südafrika drei Dringlichkeitsanträge in Den Haag gestellt, um eine Beendigung der israelischen Militäroperation in Gaza zu erreichen und die humanitären Hilfsprogramme für die Bevölkerung auszuweiten. Am 28. Oktober teilte die südafrikanische Präsidialverwaltung mit, dass das Land dem Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen ein 750-seitiges Memorandum mit den zur Unterstützung seiner Klage gesammelten Beweisen vorgelegt habe.

Haftbefehl gegen Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Joav Galant

Nachdem der IStGH im Mai 2024 einen Haftbefehl gegen Netanjahu beantragte, wurde am 21. November 2024 der Haftbefehl gegen Netanjahu und seinen ehemaligen Verteidigungsminister Joav Galant ausgestellt. Auch gegen drei hochrangige Hamas-Führer wurden Haftbefehle erlassen, allerdings sind zwei von ihnen inzwischen tot, und dass der Dritte noch lebt, ist unwahrscheinlich. Alle Mitgliedsstaaten des Strafgerichtshofs sind verpflichtet, Netanjahu und Galant festzunehmen, wenn sie in die Unterzeichnerstaaten des Römischen Statuts einreisen.

Die Kritik an dem Haftbefehl gegen den israelischen Premier ist heftig und spaltet die internationale Staatengemeinschaft sowie die EU. Die Reaktionen reichen von offenen Beteuerungen, die Haftbefehle zu vollstrecken, bis hin zu abwägenden Antworten und unmissverständlicher Ablehnung. Die Niederlande, Schweiz und Irland haben verkündet, dass sie das Römische Statut umsetzen, Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán will Netanjahu einladen und ihm versprechen, „dass der Haftbefehl in Ungarn keine Wirkung haben wird, wenn er kommt“.

Die USA reagierten wie folgt: „Was auch immer der IStGH andeuten mag, es gibt keine Gleichwertigkeit – keine – zwischen Israel und der Hamas. Wir werden immer an der Seite Israels stehen, wenn seine Sicherheit bedroht ist.“

Dagegen ließ der ehemalige EU-Außenminister Josep Borell am 21. November 2024 verlautbaren: „Ich nehme die Entscheidung des IStGh zur Kenntnis, Haftbefehle gegen den israelischen Premierminister Netanjahu, den ehemaligen Minister Galant und den Hamas-Führer Deif zu erlassen. Diese Entscheidungen sind für alle Vertragsstaaten des Römischen Statuts verbindlich, also auch für alle EU-Mitgliedstaaten.” [11] Ob die neue EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas aus Estland Borells Meinung teilt, ist zu bezweifeln.

Und die Bundesregierung? Sie prüft und „ringt um den richtigen Umgang“. „Berlin sieht sich mit mehreren Risiken konfrontiert. Steht die Bundesregierung nicht zum Völkerrecht, schadet das ihrer außenpolitischen Glaubwürdigkeit. Bekennt sie sich zu den Entscheidungen des IStGH, riskiert sie nicht nur einen Konflikt mit Israel, sondern auch mit dem wichtigen Verbündeten Amerika. Innenpolitisch ist deshalb umstritten, wie damit umzugehen ist.“ [12]

So betont die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Deborah Düring, dass sich „Deutschland […] selbstverständlich zum Völkerrecht“ bekennt und „den Internationalen Strafgerichtshof uneingeschränkt“ anerkennt. „Wir halten uns an Recht und Gesetz”, sagt sie und weist auf die „Unabhängigkeit der Justiz“ hin, „ein Prinzip, das allen Demokratinnen und Demokraten in unserem Land bekannt sein sollte”. [13]

Der für Außenpolitik zuständige stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Johann Wadephul, hingegen betont die Staatsräson:

„Für Deutschland muss es selbstverständlich sein, dass es gerade mit Blick auf die eigene Geschichte und die besonderen Beziehungen zu Israel das Recht auf Selbstverteidigung für Israel in besonderem Maße betont und verteidigt. Aus unserer Sicht ist es unvorstellbar, dass ein demokratisch gewählter Regierungschef von Israel auf deutschem Boden festgenommen wird. Es ist verstörend, wie unklar sich die Bundesregierung in dieser Angelegenheit verhält.“

Der andere stellvertretende Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion, Alexander Dobrindt, nannte die Entscheidung des IStGH eine „bodenlose Dummheit”. [14]

Man kann gespannt auf die weitere Entwicklung sein und darauf, zu welchem Schluss die Bundesregierung letztendlich kommt. Es ist aber auch durchaus möglich, dass die Bundesregierung bis zu den Wahlen im Februar 2025 abwartet. Allerdings könnte sie auch zu einer Entscheidung gedrängt werden, die durch zahlreiche eindeutige Stellungnahmen von verschiedenen Seiten kommen.

So sagte der israelische Schriftsteller Tomer Dotan Dreyfus am 22. November 2024:

„Wenn die deutsche Regierung ankündigt, internationales Recht zu brechen, ist das nicht noch ein Land, das das macht. Deutschland ist das Land, wegen dem diese Institutionen und diese Gesetze formuliert, geschrieben und unterzeichnet worden sind.”

Mathieu von Rohr, Leiter des SPIEGEL-Auslandsressorts, schrieb am 24. November 2024:

„Die Vorstellung, dass es deutsche „Staatsräson“ sei, Israels Spitzenpolitiker zu „schützen“ – und zwar selbst vor Vorwürfen schwerster völkerrechtlicher Vergehen –, ist ein verhängnisvoller Irrweg. Netanjahu wird nicht in Den Haag angeklagt, weil er sein Land verteidigt, wozu er selbstverständlich berechtigt und verpflichtet ist. Er wird angeklagt, weil ihm schwere Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung in Gaza zur Last gelegt werden, die mit Selbstverteidigung nichts mehr zu tun haben.“

Und der israelische Friedensaktivist Rotem Levin appellierte flehend:

„Sehr geehrte internationale Gemeinschaft, wir flehen Sie an, sich an das Völkerrecht zu halten und unseren kriminellen Premierminister Netanjahu zu verhaften, falls er in Ihr Land einreist. Zum Wohle der gesamten Menschheit.” [15]

Leben retten durch Vollstreckung der Haftbefehle

In einer am 26. November 2024 veröffentlichten Stellungnahme fordern 44 UN-Berichterstatter und andere Experten „die vollständige Einhaltung“ der Haftbefehle gegen Netanjahu und Galant und betonen, dass die Haftbefehle dazu beitragen können, „Leben zu retten“. [16]

Zu den Unterzeichnern gehören Morris Tidball-Binz, Sonderberichterstatter für außergerichtliche, summarische oder willkürliche Hinrichtungen; Francesca Albanese, Sonderberichterstatterin für die Lage der Menschenrechte in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten; und Ashwani K. P., Sonderberichterstatter für zeitgenössische Formen von Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängender Intoleranz.

Für diese Experten stellt

„die Entscheidung des IStGH (…) einen historischen Schritt in Richtung Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht dar und gibt Hoffnung auf ein Ende der jahrzehntelangen Straflosigkeit für die langjährigen schweren Verstöße gegen das Völkerrecht in den besetzten palästinensischen Gebieten. Der lang anhaltende Mangel an Rechenschaftspflicht, insbesondere des Staates Israel, hat die zunehmende und unhaltbare Gewalt in der Region begünstigt und das Leben und die Zukunft sowohl von Palästinensern als auch von Israelis beeinträchtigt.“ (…) „Seit dem 7. Oktober 2023 und dem militärischen Angriff auf den Gazastreifen und den Rest der OPT (Occupied Palestinian Territories, die Verf.) haben die unabhängigen Experten Beweise für schwere Verstöße gegen das Völkerrecht erhalten und dokumentiert, die sich gegen die Zivilbevölkerung richten. Diese Verstöße, die oft internationalen Verbrechen gleichkommen, müssen sofort aufhören und dürfen nicht ungestraft bleiben. Die Befugnis, diese Haftbefehle zu vollstrecken, liegt bei den Regierungen. Die Einhaltung der Haftbefehle ist von entscheidender Bedeutung, um die seit Langem bestehende Straflosigkeit zu überwinden, die den Tätern zugutekommt, und um den schweren Verbrechen in den OPT und in Israel ein Ende zu setzen.“ [17]

Ähnliches steht in einem Bericht von Amnesty International, der sogar in der Tagesschau Erwähnung fand. Laut Amnesty International begeht Israel „einen Völkermord gemäß der UN-Völkermordskonvention: So habe Israel absichtlich die Lebensgrundlagen der Menschen in Gaza zerstört. Der Bericht verweist dabei etwa auf die Zerstörung lebenswichtiger Infrastruktur.“ [18]

Derweil will die Bundesregierung einige umstrittene Punkte prüfen, beispielsweise die Zuständigkeit des IStGH, und drückt sich um eine Entscheidung. Nach Auffassung des Berliner Völkerstrafrechtlers Florian Jeßberger „gibt [es] für Deutschland gerade nichts zu prüfen”. „Mal abgesehen davon, dass an der Zuständigkeit des IStGH in diesem Fall auf Grundlage der bisherigen Rechtsprechung kein Zweifel besteht”, verweist Jeßberger auf das Gesetz zur Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof. Dort heißt es im Paragraphen eins: „Personen, um deren Überstellung der Gerichtshof in Übereinstimmung mit dem Römischen Statut ersucht hat und die sich im Inland aufhalten, werden zur Strafverfolgung und zur Strafvollstreckung nach Maßgabe des Römischen Statuts und dieses Gesetzes überstellt.” Dies ist eine klare Aussage, an die die Bundesregierung sich halten muss. [19]

Historische Bundespressekonferenz: Haftbefehl gegen Netanjahu und die Rolle Deutschlands

Am 29. November 2024 gab es eine außergewöhnliche Bundespressekonferenz mit vier Experten, die Stellungnahmen zu den Haftbefehlen aufgrund des Verdachts auf Genozid abgaben. Christine Binzel, Professorin für Wirtschaft und Gesellschaft des Nahen Ostens, Michael Barenboim, Professor an der Barenboim-Said Akademie, Hanna Kienzler vom King’s College in London sowie der Völkerrechtler Wolfgang Kaleck vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) sprachen sachlich und ohne Angst und Tabus von den Völkerrechtsverbrechen Israels in Gaza und der Rolle Deutschlands als „Mittäter“. [20]

In ihrem Eingangsstatement betont Dr. Christine Binzel:

„Die Haftbefehle reihen sich damit ein in die Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs im Fall Südafrika gegen Israel, vorläufige Maßnahmen zu erlassen, um einen plausiblen Völkermord in Gaza zu verhindern. Die Haftbefehle reihen sich auch ein in Analysen und Berichte verschiedener Experten, Ärzte, humanitärer Organisationen und Institutionen. Bereits am 18.10.2023 warnten etwa 800 Wissenschaftler und Experten für Völkerrecht, Konfliktforschung und Genozidforschung vor einem Genozid. Zahlreiche UN-Veröffentlichungen, aber auch unzählige Videos israelischer Soldaten dokumentieren israelische Völkerrechtsverbrechen. (…) Deutschland ist als Vertragsstaat der UN-Völkermordkonvention und des Römischen Statuts rechtlich, historisch, ethisch, und politisch verpflichtet, die in diesen Verträgen geächteten Völkerrechtsverbrechen weder zu begehen noch zu unterstützen oder zu befördern. Dieser Verpflichtung kommt Deutschland seit 14 Monaten nicht nach. Deutschland schaute nicht nur zu – die Bundesregierung unterstützt bis heute Israel politisch, finanziell, militärisch und rechtlich. Deutschland ist zweitgrößter Waffenlieferant nach den USA. Recherchen zeigen, dass deutsche Waffen in Gaza zum Einsatz kommen.“

Die Bundesregierung ignorierte die genozidalen Äußerungen von israelischen Regierungsmitgliedern und anderen hochrangingen Beamten, obwohl ihnen unmittelbar Taten folgten. Sie ignorierte auch die vielen Warnungen von Experten. Anstatt die IGH-Entscheidung vom Januar dieses Jahres zu respektieren und entsprechend zu handeln, erklärte die Bundesregierung, der gegen Israel erhobene Vorwurf des Völkermords – von Südafrika auf 84 Seiten dargelegt und mit zahlreichen Belegen untermauert – „entbehrt jeder Grundlage“. [21] Binzel ruft die Bundesregierung auf, „umgehend Maßnahmen“ zu ergreifen, „die die weitere Vernichtung palästinensischen Lebens durch Israel stoppen. Dazu zählen ein vollständiges Waffenembargo, Sanktionen und die Überprüfung aller diplomatischen, politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel.“

Die Stellungnahmen der vier Experten sind eine schallende Ohrfeige für die Bundesregierung und verdienen weite Verbreitung!

Titelbild: Shutterstock / mehmet ali poyraz


[«1] mondoweiss.net/2024/11/israels-mass-killing-campaign-in-gaza-is-escalating/

[«2] Pressemeldung auf der Internetseite des UNO-Koordinationsausschusses spiegel.de/ausland/israel-gaza-krieg-bevoelkerung-nord-gazas-ist-uno-angaben-zufolge-vom-tode-bedroht-a-23e8fc7c-a4d4-4633-ba19-ee8f9c5702e8

[«3] Jakob Reimann, 26. Oktober 2024, junge Welt: „Internierungslager für Gaza, Israelische Regierung prüft Pläne, ummauerte Areale in Küstenenklave einzurichten und US-Söldnerfirma zur Kontrolle anzuheuern“, jungewelt.de/artikel/486535.gazakrieg-internierungslager-f%C3%BCr-gaza.html

[«4] thecradle.co/articles/israel-sets-in-motion-plan-for-gaza-concentration-camps-run-by-cia-trained-mercenaries-report

[«5] palestinemission.at, 29. Oktober 2024

[«6] Evelyn Hecht-Galinski: „Schamlose deutsche Mittäterschaft – Von Kopf bis Fuß auf Krieg eingestellt“

[«7] Rede von Außenministerin Annalena Baerbock bei der Vereinbarten Debatte „7. Oktober: Ein Jahr nach dem terroristischen Überfall auf Israel“ im Bundestag, 10. Oktober 2024

[«8] Rayhan Uddin und Lubna Masarwa, 29. Oktober 2024 „Akademiker fordern die deutsche Politikerin Annalena Baerbock auf, ihre Kommentare zu Gaza zurückzunehmen“, in sicht-vom-hochblauen.de/

[«9] „Transport von RDX-Sprengstoff nach Israel durch deutsches Schiff sorgt international für Empörung“, Bundespressekonferenz 23. Oktober 2024

[«10] junge Welt vom 10. Oktober 2024, Jakob Reimann: „Ein Jahr Kriegsverbrechen“

[«11] palestinemission.at, 26. November 2024

[«12] Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. November 2024, Matthias Wyssuwa, Marlene Grunert: „Die deutsche Außenpolitik ringt um den richtigen Umgang“

[«13] ebenda

[«14] ebenda

[«15] palestinemission.at, 26. November 2024

[«16] sicht-vom-hochblauen.de/un-berichterstatter-fordern-vollstaendige-einhaltung-der-haftbefehle-gegen-netanjahu-und-gallant/ 27. November 2024, middleeastmonitor.com/20241127-un-rapporteurs-call-for-full-compliance-with-netanyahu-gallant-arrest-warrants/

[«17] ebenda

[«18] tagesschau.de/ausland/asien/israel-voelkermord-amnesty-international-100.html 28. November 2024, amnesty.de/sites/default/files/2024-12/Amnesty-Bericht-Gaza-Genozid-Voelkermord-Palaestinenser-innen-Israel-Dezember-2024.pdf

[«19] Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. November 2024, Matthias Wyssuwa, Marlene Grunert: „Die deutsche Außenpolitik ringt um den richtigen Umgang“

[«20] Historische Bundespressekonferenz: „Deutschland muss sich als Mittäter an den Reparationszahlungen für Gaza beteiligen“, Florian Warweg, 2. Dezember 2024, NachDenkSeiten

[«21] Bundespressekonferenz vom 29. November 2024: „Die Haftbefehle des IStGH und Deutschlands Rolle“, Eingangsstatement von Prof. Dr. Christine Binzel, Professorin für VWL: Wirtschaft und Gesellschaft des Nahen Ostens, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg