„Telepolis löscht auf einen Schlag 25 Jahre Geschichte“

„Telepolis löscht auf einen Schlag 25 Jahre Geschichte“

„Telepolis löscht auf einen Schlag 25 Jahre Geschichte“

Ein Artikel von: Redaktion

Das Online-Magazin Telepolis hat fast sein komplettes Archiv mit allen vor 2021 erschienenen Beiträgen vom Netz genommen. Was bei Autoren und in der Community für Empörung sorgt, schockt den Mitbegründer des Medienprojekts, Florian Rötzer, nicht minder. Im Interview mit den NachDenkSeiten beklagt der Journalist und Publizist eine Cancel Culture der Sorte Stalinismus sowie einen Zeitgeist im Zeichen von Mainstream und Gleichschaltung.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Florian Rötzer, Jahrgang 1953, ist Autor und Publizist mit dem Schwerpunkt Medientheorie und -ästhetik. Von 1996 bis 31. Dezember 2020 war er Chefredakteur des Online-Magazins Telepolis, zu dessen Mitbegründern er gehörte, und Herausgeber der Telepolis-Buch- und -eBook-Reihe. Von ihm sind erschienen unter anderem „Die Telepolis. Urbanität im digitalen Zeitalter“ (1995), „Smart Cities im Cyberwar“ (2015), und „Sein und Wohnen. Philosophische Streifzüge zur Geschichte und Bedeutung des Wohnens“. Seit drei Jahren ist er als Redakteur und Autor für das Online-Magazin Overton tätig.

Herr Rötzer, das Online-Magazin Telepolis – so etwas wie Ihr eigenes journalistisches Kind – hat im Rahmen einer „Qualitätsoffensive“ mindestens vorübergehend sämtliche vor 2021 erschienenen Beiträge von seiner Webseite genommen. Man könne für deren Qualität „nicht pauschal garantieren“, heißt es. Wie verstehen Sie das Wörtchen „pauschal“?

Im Grunde distanziert sich die Chefredaktion beziehungsweise der hinter Telepolis stehende Heise Verlag in Form eines Großreinemachens von allem, was vor besagtem Jahr veröffentlicht wurde, und damit auch von allen Schreibern, die bis dahin veröffentlicht hatten. Das ging ja schon zu Jahresfang damit los, dass sämtliche Artikel, die nicht in die Verantwortung der neuen Chefredaktion fallen, mit einem Disclaimer, also einem Warnhinweis markiert und so als verdächtig eingestuft wurden. Damit hat man dem Leser gesteckt: Vorsicht, das hier könnte nicht mehr den heute geltenden Qualitätskriterien genügen, also besser die Finger davon lassen. Das war schon eine schlimme Anmaßung. Das, was jetzt passiert ist, setzt dem die Krone auf.

Weil vielleicht ein paar Texte von über 50.000 nicht mehr den durch die Chefredaktion gesteckten journalistischen Ansprüchen genügen, nimmt man „pauschal“ alle vom Netz. Überrascht Sie die Konsequenz?

Ich hätte das nicht für möglich gehalten. Telepolis war ja lange Zeit ein sehr liberales Medium, was sich etwa an den offenen Foren zeigte, wo jeder frei von der Leber seine Meinung äußern durfte. Diese riesige Löschaktion ist das eine. Fast noch ungeheuerlicher ist aber die Ankündigung, man werde die Inhalte prüfen und Texte selektieren, gegebenenfalls sogar überarbeiten. Das hat eindeutig Züge von Geschichtsfälschung und ist in meinen Augen das Übelste an der ganzen Sache.

Man will, so heißt es, Beiträge bewahren, die „noch einen Mehrwert bieten“, und „Perlen aus dem Archiv“ wieder zugänglich machen. Das ist doch sehr honorig, oder nicht?

Das ist vor allem ein Schlag ins Gesicht der Autoren, die mit ihren Texten durch dieses sogenannte Qualitätsraster fallen. Deren Schaffen wird einfach ausradiert. Und deshalb gibt es ja auch heftige Proteste von Betroffenen, die sagen, die Inhalte gehörten nicht Telepolis oder Heise, sondern der Öffentlichkeit. Grotesk finde ich die Angelegenheit deshalb: Telepolis klemmt mal eben 25 Jahre seiner Geschichte und alles ab, was das Medium so besonders und erfolgreich gemacht hat – aber den Namen Telepolis, den will man behalten.

Glauben Sie, die neue Marschroute geht vom Chefredakteur Harald Neuber oder vom Heise Verlag aus?

Ich denke, da decken sich die Interessen. Man will ein Magazin mit möglichst großer Reichweite und hohen Einnahmen und schleift dafür alle Ecken und Kanten ab, die das Projekt lange Zeit ausgemacht haben. Der Trend, sich unkritisch und marktkonform anzupassen, sich dieser leidigen Cancel Culture zu unterwerfen, ist ja in allen Bereichen der Gesellschaft zu beobachten, vor allem bei den Medien. Der Meinungskorridor wird immer kleiner, und Telepolis will nicht aus dem Rahmen fallen.

Man stelle sich einmal vor, der Spiegel oder die Bild-Zeitung wollten ihre riesigen Artikelbestände plötzlich auf „Qualität“ prüfen und bei Verstößen gegen journalistische Grundsätze entsprechend aussortieren. Das wäre mal ein Großreinemachen …

Ein Archiv erfüllt ja nur dann seinen Zweck, nämlich eine Rückschau in die Vergangenheit zu ermöglichen, wenn man es so lässt, wie es ist. Dieser grassierende Eifer, sich nach den Maßgaben der Political Correctness reinzuwaschen, geht inzwischen so weit, sogar Zeitzeugnisse rückwirkend umzuschreiben oder, wie bei Telepolis, einfach zu tilgen.

Der Verlag will sich, laut Chefredaktion, mit dem Schritt dagegen wappnen, wegen möglicher Urheberrechtsverstöße aus der Vergangenheit belangt zu werden, wobei es dabei vor allem um Bildmaterial geht.

Das ist Unsinn. Es wäre kein Problem, die fraglichen Bilder einfach herauszunehmen und die zugehörigen Texte weiterhin online zu belassen.

Sie haben ja selbst 25 Jahre als Chefredakteur für Telepolis gewirkt. Für Sie war das also kein Problem von größerer Tragweite?

Natürlich sind wir damals in der Frühphase des Internets lockerer mit dem Gebrauch von Bildern umgegangen, und wahrscheinlich haben wir auch Bilder nicht immer ganz ordnungsgemäß verwendet. Aber jetzt so zu tun, als wäre der Laden wegen einer Flut von Abmahnungen irgendwie bedroht, weshalb man gleich alles vom Netz nehmen müsse, ist eine billige Ausrede.

Wir sprachen ja schon von „Großreinemachen“. Fällt Ihnen beim Fall Telepolis auch das Wort „Säuberung“ ein?

Ja, das ist eine Säuberung. Ich denke nicht, dass Telepolis sich eine bestimmte politische Linie verordnen will, nach dem Motto: jetzt nur noch CSU. Aber man will sich anpassen an den herrschenden Zeitgeist, nicht mehr so auffallen, etwa mit sogenannten Verschwörungstheorien, man könnte auch sagen, dem Hinterfragen von herrschenden Narrativen. Dabei können auch mal Irrwege geschehen, aber die gehören zur Zeitgeschichte. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Beiträge wie etwa die von Mathias Bröckers zur Verstrickung der Geheimdienste in die Anschläge vom 11. September 2001 der Zensur zum Opfer fallen werden …

Bröckers ahnt das selbst, auf seiner Webseite konstatiert er: „Die ‚literarische Qualitätsoffensive‘ der Bücherverbrennung lässt grüßen!“ Gehen Sie da mit?

Durchaus drängen sich hier historische Vergleiche auf – zum Beispiel zum Stalinismus, als aus Fotografien einfach Menschen verschwunden sind. Mir fällt auch das Wort Gleichschaltung ein. Wobei Telepolis das ohne Not aus freien Stücken erledigt, indem man auf einen Schlag 25 Jahre Geschichte, auch die des Internets, löscht und mit ihr ein wichtiges Stück des kulturellen Gedächtnisses. Täte das der Spiegel, führte das nicht so weit, weil dessen Beiträge und die aller Printmedien in der Nationalbibliothek hinterlegt werden. Für Online-Magazine gilt das noch nicht, obgleich es auch hier eine Ablieferungspflicht gibt. Aber bei Nachfrage hieß es, man könne jetzt noch keine Artikel im HTML-Format archivieren, daher müsste jeder Artikel in PDF umgewandelt und eingeschickt werden. Daher verwalten Online-Magazine ihr eigenes Archiv und alles ist verloren, sobald es ausgeknipst wird.

Der Schwenk zum Mainstream macht doch nur Sinn, wenn er sich finanziell rentiert. Dafür müsste die Leserschaft den Schritt allerdings auch mitgehen. Wie schätzen Sie das ein?

Ich bin sehr sicher, dass der Schuss nach hinten losgeht. Telepolis mit relativ kleinem Budget und sehr begrenzter Abdeckung von Themen kann mit den Großen nicht mithalten. Überlebensfähig ist so ein Medium nur, wenn es sich in einer Nische einrichtet und sich in Inhalt, Sprache und Stil vom Mainstream abgrenzt. Versucht man dagegen, auf den Mainstream aufzuspringen, hat man verloren. Die gewachsene Leserschaft wird vergrault, und den Platzhirschen kann man das Wasser nicht abgraben. Selbst wenn man es rein betriebswirtschaftlich betrachtet, halte ich das Vorgehen von Telepolis für keinen klugen Schachzug.

Man wüsste ja gerne, was die Leser davon halten. Allerdings kann man zur fraglichen Bekanntmachung keinen Kommentar abgeben.

Das passt ins Bild. Allerdings ist schon länger nicht mehr jeder Beitrag kommentierbar, und in den Foren wird auch heftig gelöscht, wie mir Autoren sagen. Das kommt ja noch dazu: Auch sämtliche Kommentare zu den Zehntausenden abgeklemmten Artikeln sind für immer verschwunden. Das ist auch gegenüber der Leserschaft ein ziemlich unfreundlicher Akt.

Ihre und die Wege von Telepolis haben sich vor ziemlich genau vier Jahren getrennt. Fühlen Sie sich heute gewissermaßen um Ihr Erbe betrogen?

Ich habe schon länger mit Telepolis abgeschlossen und schaue heute so gut wie nie auf der Seite vorbei. Wenn man so will, ist Telepolis nicht mehr meins. Trotzdem sehe ich die Vorgänge mit Sorge, weil ich sie für gefährlich halte mit Blick auf die insgesamt immer stärker unter Beschuss geratene Meinungsvielfalt.

Eine Rolle spielt dabei auch der Vormarsch eines Journalismus made by Künstlicher Intelligenz. Auch Telepolis bedient sich offenbar dieser Methoden, wofür eine Prüfung mittels sogenannter KI-Detektoren Anhaltpunkte liefert. Das betrifft im Übrigen auch Texte des Chefredakteurs. Wie passt das zusammen mit den im „redaktionellen Leitbild“ festgeschriebenen Grundsätzen von „Glaubwürdigkeit“, „Transparenz“ und „gewissenhafter Recherche“?

Mit KI habe ich mich auch in meinem letzten Buch „Lesen im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz“ beschäftigt. Und ja, auch ich bin bei Telepolis auf einen Beitrag gestoßen, den ZeroGPT zu über 50 Prozent als „Most Likely AI/GPT generated“ einstuft. Wie verlässlich das ist, weiß ich allerdings nicht. ZeroGPT bietet ja auch an, Texte mit KI zu verfassen, die angeblich nicht als KI-generierte Texte erkannt werden können. Naja.

Heise hat gerade DeepContent übernommen und bietet schon länger Kurse und Unterstützung für KI-Lösungen über Heise KIPro an. Da kann man annehmen, dass damit auch in Telepolis und in anderen Redaktionen gearbeitet wird. Ich habe aber keine nähere Kenntnis, ob, wie und in welchem Maße das gemacht wird. Sprachlich könnte man den Verdacht auch bei manchen Telepolis-Artikeln haben, da fehlt oft die individuelle Note.

Und wenn dem so wäre?

Falls KI für Recherche, Überarbeitung, Ideengebung et cetera verwendet würde, müsste das im Sinne der Transparenz und Glaubwürdigkeit jedenfalls kenntlich gemacht werden, finde ich. Ich habe keinen solchen Hinweis gefunden. Wenn KI wirklich in größerem Umfang eingesetzt wird, wäre das jedenfalls noch einmal ein krasser Unterschied zu dem, was ich immer präferiert und Autorenjournalismus genannt habe. Es wird nicht Objektivität, auch durch Sprache, simuliert, sondern der Text wird verantwortet von einem Autor mit seinen erkennbaren, daher transparenten Perspektiven, der sich mit Angabe der Quellen bemüht, dem Leser einen möglichst guten Einblick in Sachverhalte oder Ereignisse zu bieten.

Titelbild: © privat

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