Umbruch in Syrien – syrische Stimmen aus der letzten Woche

Umbruch in Syrien – syrische Stimmen aus der letzten Woche

Umbruch in Syrien – syrische Stimmen aus der letzten Woche

Karin Leukefeld
Ein Artikel von Karin Leukefeld

Seit Kampfverbände unter der Führung von Hay’at Tahrir al-Scham (HTS) am 27. November 2024 aus Idlib ihren großen Überfall auf Syrien begannen, rätselten Syrier in Stadt und Land, wie dieser erneute Angriff für sie ausgehen werde. Nach zehn Tagen deutet alles darauf hin, dass Syrien ein großer Umbruch bevorsteht. Doch anders als die Dschihadisten, die auf ihren Autos und Motorrädern durchs Land fahren, Videos von sich und Unterstützern drehen, Statuen stürzen, Fahnen schwenken und verkünden: „Die Küste gehört uns“, fragen sich die Syrer, was aus ihnen, ihren Kindern und ihrem Lebenswerk werden soll. Gefängnisse werden geöffnet, und neben politischen Gefangenen, die sich über die plötzliche Freiheit freuen und auf die Suche nach ihren Familien machen werden, strömen nun auch Drogendealer, Mörder und Diebe ins Land. Armee und Polizei haben sich zurückgezogen, die Preise für Lebensmittel haben sich vervielfacht, die Bevölkerung ist schutzlos sich selbst überlassen. Von Karin Leukefeld.

Während New York Times und CNN, die Nachrichtenagenturen AP, Reuters, AFP und DPA, ARD und BBC der Öffentlichkeit Bilder des Vormarsches der Kämpfer, Interviews mit HTS-Anführer Abu Mohamed al Abu Mohamed al Abu Mohamed al Jolani und erfreuten Bewohnern der Stadt Aleppo zeigen, versuchen Tausende zu fliehen. Andere ziehen sich in ihre Wohnungen zurück und warten.

Es folgen einige Syrien-Korrespondenzen der Autorin, teilweise aus telefonischen Gesprächen, die zwischen dem 2. und 8. Dezember stattfanden. Alle Personen sind der Autorin persönlich seit vielen Jahren bekannt. Die Namen werden nicht genannt oder verändert.

Aleppo

„Ich bin zu Hause mit meiner Frau, meiner Schwester und Brüdern. Die Straße von und nach Aleppo ist blockiert. Bisher sind wir sicher. Betet für uns“, schreibt ein Arzt aus Aleppo. Er musste seine private Klinik schließen, weil das Personal aus Angst zu Hause blieb. „Die Situation ist nicht gut, voller Spannung und Angst“, schreibt der Arzt einen Tag später. „Wir verstehen nicht, was geschieht, und es gibt jeden Tag so viele widersprüchliche Informationen. Alles entwickelt und verändert sich sehr schnell.” In einer weiteren Nachricht am 7. Dezember heißt es: „Vor drei Tagen trat ein neuer Verantwortlicher für das Gesundheitswesen in Aleppo auf und hat erklärt, man werde nun alles besser machen. Und dann heißt es, dass wir alle innerhalb eines Monats unser Geld, unsere syrischen Pfund in US-Dollar oder in Türkische Lira umtauschen müssen. Sie verkaufen hier jetzt Mobiltelefone und Sim-Karten von türkischen Mobilfunkgesellschaften. Es gibt Turkcell oder Syriaphone.“ Auf die Frage, ob Aleppo jetzt eine türkische Stadt werden solle, antwortet der Arzt: „Das ist gut möglich.“

Sfireh

Viele der Fliehenden aus Aleppo stranden in Sfireh, einem Ort südöstlich der Handelsmetropole. Dort hoffen sie auf eine Transportmöglichkeit über Khanaser nach Hama und weiter nach Damaskus. Das Militär versucht, den Transport zu organisieren, doch es dauert für manche einige lange Tage, bis sie weiterkommen.

Abu S. ist einer, der sich auf den Weg gemacht hat. Er berichtet von vielen Drohnen, die von den angreifenden Kampfgruppen eingesetzt werden. „Viele, viele Drohnen, sie fliegen sehr tief und treffen ihre Ziele präzise“, berichtet er. In Videoaufnahmen unbekannter Herkunft sind Shaheen-Drohnen zu sehen, eine jordanische Drohne, die lasergelenkte Raketen abschießt. Die Waffe wurde auf der Rüstungsmesse SOFEX 2024 erstmals gezeigt und soll unbestätigten Berichten zufolge den dschihadistischen Kampfverbänden von ukrainischen Ausbildern mitgebracht worden sein.

Abu S. berichtet von vielen syrischen Soldaten, die sich zu Fuß auf den Weg nach Hause gemacht hätten. Sie seien entlang der Straße nach Khanaser und weiter Richtung Hama gelaufen. Auch Schäfer mit ihren Herden seien auf der Flucht gewesen, eine ganze Region sei geflohen. Es gäbe keine öffentliche Erklärung, das verunsichere alle, so Abu S. Die Leute seien ratlos. Er sei inzwischen in Damaskus angekommen. Doch schon am nächsten Morgen seien die Stadtteile Mezzeh und Kfar Souseh von Israel bombardiert worden. „Sie arbeiten zusammen“, ist Abu S. überzeugt. „Schon den Beginn des Krieges hat Israel damals unterstützt mit seinen ständigen Angriffen auf uns.“ Uns, sagt er, und meint Syrien. Nach seinem Eindruck seien die meisten der Angreifer Syrer, berichtet Abu S. Er frage sich, warum die Russen nichts unternommen hätten. Ihm bliebe nichts als „warten und sehen, was wird“.

Skelbieh

Eine Bekannte berichtet von ihren Angehörigen, die seit Generationen in Skelbieh, einem christlichen Ort im Süden der Al Ghab-Ebene leben. „Skelbieh ist jetzt wohl in der Hand der Islamisten“, schreibt sie und schickt ein kurzes Video mit, in dem brennende Fahrzeuge zu sehen sind. „Es zerreißt mir das Herz, aber es heißt, unsere Familie konnte die Stadt verlassen.“ Später schreibt sie, angeblich sei „ganz Skelbieh auf der Flucht“, und eine junge Verwandte, die (über soziale Medien) „sonst nur über Party und hippe Sachen gepostet“ habe, „postet jetzt Gebete“. Tage später schließlich folgt die Nachricht, „immerhin weiß ich jetzt, dass die mir Nahestehenden wohl vorläufig in Sicherheit sind. Einige in Damaskus, andere in Mashta al Hilu. Dorthin ist J. geflohen, die Du auch mal in Skelbieh besucht hattest. Aber wie das weitergeht???! Traurige Zeiten.“

Damaskus

Eine Geschäftsfrau aus Damaskus berichtet, dass die syrische Armee versuche, die Bevölkerung mit Textnachrichten auf die Mobiltelefone zu beruhigen. „Sie schreiben, dass sie vor Homs eine Verteidigungslinie aufgezogen habe, die Bevölkerung solle die falschen Nachrichten, die über soziale Medien verbreitet werden, nicht glauben.“ Es heiße, die Orte Telbise und Rastan seien unter Kontrolle und die Armee habe einen Ring um die Stadt Hama gezogen. Sie selbst wisse nicht, was sie glauben solle, sagt die Geschäftsfrau. Rastan und Telbise sind zwei Orte an der Autobahn zwischen Homs und Hama, die seit Beginn des Krieges 2011 Hochburgen der bewaffneten Opposition gewesen waren. 2015/16 zogen sich die Kämpfer von dort zurück Richtung Idlib. „Ich sitze zu Hause und warte ab,“ berichtet die Geschäftsfrau. Am Mittag habe das italienische Fernsehen berichtet, Israel sei von den besetzten syrischen Golanhöhen nach Syrien einmarschiert. Später habe sich diese Meldung als falsch herausgestellt.

Damaskus

G., der früher mit Journalisten gearbeitet hat, telefoniert ununterbrochen mit Freunden und Kollegen im ganzen Land, wie er sagt. Er verfolge Al Arabiya, Al Jazeera, das Fernsehen der syrischen Opposition und das offizielle syrische Fernsehen. Er frage sich, ob die Armee einen Plan habe? Alle hätten Angst und seien verunsichert, weil es keine offiziellen Informationen gebe. Ein Kollege habe seinen kranken Vater geholt und sei in ein Hotel gezogen. Christen, Alawiten, Schiiten – sie alle hätten Angst. Während des Gesprächs unterbricht er kurz, um eine neue Nachricht zu lesen. „Israel hat wieder die libanesischen Grenzübergänge Joussia und Arida bombardiert“, berichtet er dann. Sie waren gerade vor zwei Tagen nach der Instandsetzung nach israelischem Bombardement wieder in Betrieb genommen worden. „Die Menschen haben Hunger“, sagt G. „Es gibt kein Brot, Benzin ist extrem teuer geworden. In Aleppo verkaufen die Dschihadisten Kochgas für 250.000 Syrische Pfund pro Flasche. Vorher kostete sie 150.000.” Er selbst versuche, stark zu sein, um seine Familie zu versorgen und zu beruhigen. „Das hat für mich Priorität. Auf alles andere haben wir keinen Einfluß.“

Jdeidet Artuz

M. ist zu Hause bei seiner Familie. Seit einer Woche sei er nicht zur Arbeit gegangen, weil er krank sei, berichtet er am Telefon. Er sei wegen starker Gewichtsabnahme zu einem Arzt gegangen, der eine Röntgenuntersuchung angeordnet habe. Die habe einen Tumor ergeben, und es sei eine Biopsie gemacht worden. Nun warte er auf das Ergebnis. Es sei kalt, berichtet M. In seinem Ort gibt es alle fünf Stunden eine Stunde Strom. Die dauere manchmal aber nur 45 Minuten, fügt er hinzu. Er habe noch aus dem letzten Winter etwas Heizöl, sie hätten noch wenig Kochgas übrig, auf dem Markt sei kein Gas zu finden. „Uns geht es gut“, sagt M. „Unsere Familie ist zusammen. Wir warten ab.“

Deraa

N. aus einem Ort im Hauran in der Provinz Deraa, südlich von Damaskus, berichtet von Unruhen in Deraa und in Sweida, der Hauptstadt der gleichnamigen, von Drusen bewohnten Provinz. In Sweida hätten Leute das Büro des Gouverneurs gestürmt und angezündet. Vertreter der syrischen Regierung und Soldaten der Armee seien nach Damaskus geflohen. Die Kämpfer in Deraa – sie nennen sich „Revolution des Hauran“ – hätten den Grenzübergang nach Jordanien übernommen. Jordanien habe die Grenze geschlossen. Sie seien weit in Richtung Damaskus vorgerückt. Auch in ihr Dorf seien sie einmarschiert, so N. „Vielleicht, weil wir Christen sind, haben sie uns in Ruhe gelassen“, so N. Alle Familien seien in ihren Häusern geblieben. „Dann haben sie nur ein paar Fotos und Video gemacht und sind wieder abgezogen.“

Damaskus

In den frühen Morgenstunden des 8. Dezember 2024 erreichen die Kampfverbände Damaskus. Ohne aufgehalten zu werden, besetzen sie Militärbasen und öffentliche Gebäude, das syrische Fernsehen und Radio. Sie werfen Statuen des früheren Präsidenten Hafez al Assad um, wie auf Videoclips zu sehen ist. Auf den Straßen wird geschossen, doch Berichten zufolge sollen es „Freudenschüsse“ sein. Die meisten Menschen bleiben in ihren Wohnungen, keiner der Gesprächspartner der Autorin macht in dieser Nacht ein Auge zu.

Am Morgen heißt es, Präsident Bashar al Assad habe das Land verlassen. Ministerpräsident Mohammad Ghazi al-Jalali, der erst seit Kurzem im Amt ist, teilt über seinen YouTube-Kanal mit, dass er in Damaskus in seinem Büro sei und bleibe. Er werde die Geschäfte führen, bis eine „ordentliche Übergabe der Regierung“ erfolge. Eine gemeinsame Erklärung von Russland, Iran, Türkei, Saudi-Arabien, Jordanien, Ägypten, Katar fordert einen geordneten politischen Übergang in Syrien. Die Vereinigten Arabischen Emirate fordern die „nichtstaatlichen Akteure“ (Kampfgruppen) auf, die Situation in Syrien nicht auszunutzen. Israel soll mit Truppen in Qunaitra auf den syrischen Golanhöhen einmarschiert sein. Russland erklärt, Bashar al Assad habe „nach Verhandlungen“ den Übergang in Syrien eingeleitet und angeordnet, dass dieser friedlich verlaufen müsse. Von den Kampfverbänden ist zu hören, „die Revolution“ sei „aus der Phase des Kampfes zum Sturz des Assad-Regimes in die Phase des Kampfes übergetreten, Syrien zusammen wieder aufzubauen“, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters.

Aus einem Reuters-Bericht wird bekannt, dass Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate seit Langem mit den USA darüber verhandelt haben, die Sanktionen gegen Syrien, das „Caesar Gesetz“ aufzuheben, damit sie in dem vom Krieg zerstörten Land investieren und aufbauen können. Der Präsident geht, die Regierung ordnet den Übergang, dann beginnt die Bonanza des Wiederaufbaus, sagt einer der Gesprächspartner der Autorin. „War das der Plan? Und wir Syrer werden mit Arbeit und einem Einkommen belohnt. Wir werden ihre Sklaven.“

In der Altstadt von Damaskus gehen die ersten der Gesprächspartner der Autorin an diesem 8. Dezember gegen Mittag hinaus, um ihre Umgebung zu inspizieren. Die Läden sind geschlossen, Kioske geplündert, die Polizeistation am Thomastor ist verwüstet. Die Polizeifahrzeuge stehen verbeult und mit zerschlagenen oder zerschossenen Scheiben. G. fragt sich, wie es weitergehen wird. Er habe Respekt vor Assad, der immer unter Druck von allen Seiten gestanden habe. „Er hat angeordnet, dass nicht gekämpft wird, um ein Blutvergießen zu vermeiden. Er wollte verhindern, dass das Land in Flammen aufgeht.“

Titelbild: © privat

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