Spätestens seit der von Olaf Scholz verkündeten „Zeitenwende“ hat sich die Debatte um Deutschlands Rüstungsausgaben deutlich verschoben. Die vor wenigen Jahren noch unvorstellbare Summe von zwei Prozent des BIP wurde bereits überschritten, Scharfmacher fordern nun bereits eine Erhöhung auf drei Prozent. Die Argumente sind immer dieselben: Die NATO müsse aufrüsten, um eine russische Invasion zu verhindern, und wegen der Präsidentschaft Trumps müsse Europa sich ohnehin stärker ins Zeug legen. Eine vor wenigen Tagen veröffentlichte Studie von Greenpeace zeigt, dass dies Unsinn ist. Die militärische Überlegenheit der NATO gegenüber Russland ist – auch ohne die USA – in so ziemlich allen Bereichen schon heute derart massiv, dass selbst aus der militärischen Logik heraus keine weitere Aufrüstung nötig ist. Von Jens Berger.
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„Wenn wir nicht weitere Milliarden in die Rüstung stecken und kriegstauglich werden, steht Putin schon bald in Riga, Warschau und am Ende gar in Berlin“ – so ungefähr lautet die Erzählung, mit der seit der russischen Invasion in der Ukraine die Falken aus Politik und Medien hausieren gehen. Hinterfragt werden diese Sätze kaum noch; sie gelten im politischen Diskurs vielmehr schon beinahe als gegeben. Warum eigentlich?
Dazu zunächst eine wichtige Vorbemerkung. Wenn wir über die militärischen Kräfteverhältnisse zwischen der NATO und Russland sprechen, impliziert dies, dass ein direkter Krieg zwischen diesen beiden Blöcken unterhalb der nuklearen Schwelle führbar wäre. Das ist eine brandgefährliche Fehlannahme. Im Zeitalter der Atombombe ist der wahre Feind nicht der vermeintliche Gegner, sondern der Krieg selbst. Daher sollte man eigentlich auch überhaupt nicht über die Sinnhaftigkeit von Rüstungsausgaben debattieren, sondern die militärische Logik als solche hinterfragen. Doch davon sind wir leider Lichtjahre entfernt. In diesem Artikel geht es daher auch darum, die Aufrüstungsdebatte innerhalb der militärischen Logik zu hinterfragen; denn selbst wenn man ausschließlich auf dieser Ebene bleibt und übergeordnete Fragen ausblendet, gibt es keine überzeugenden Argumente für höhere Rüstungsausgaben. Doch nun zurück zum Thema.
Folgt man der Argumentation der Falken, stößt man schon sehr bald auf einen inneren Widerspruch. Auf der einen Seite wird Russland auch im militärischen Kontext als rückständiger, fragiler Staat angesehen, den selbst ein eher schmalbrüstiger NATO-Stellvertreter wie die Ukraine mit ein wenig finanzieller und materieller Unterstützung „besiegen“ könne. Auf der anderen Seite wird das gleiche Russland aber als faktische Bedrohung für die NATO aufgeblasen – eine militärische Großmacht, die mit ihren Truppen angeblich schon bald in Berlin stehen könnte. Freilich sind beide Aussagen nicht nur widersprüchlich, sondern interessengeleitet. Doch wie steht es im Kräfteverhältnis zwischen NATO und Russland eigentlich tatsächlich?
Dieser Frage sind der Friedens- und Konfliktforscher Herbert Wulf und der Publizist Christopher Steinmetz nun für die NGO Greenpeace in der Studie „Wann ist genug genug?“ nachgegangen. Die Ergebnisse dieser Studie widersprechen den Forderungen nach noch mehr Rüstungsausgaben fundamental. In den Punkten Militärausgaben, Großwaffensysteme, Truppenstärke, militärische Einsatzbereitschaft und Rüstungsbeschaffung und -produktion ist die NATO Russland schon heute haushoch überlegen und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sich daran so bald etwas zum Nachteil der NATO ändern könnte. Auch ohne die USA sind die europäischen Staaten Russland deutlich überlegen. Lediglich bei den Atomwaffen gibt es das vielzitierte Gleichgewicht des Schreckens, hier sind die NATO und Russland auf Augenhöhe; auch was die damit zusammenhängenden Trägersysteme und Zweitschlagfähigkeiten angeht.
Heute geben die NATO-Staaten zusammen etwa zehnmal so viel Geld für ihre Streitkräfte aus wie Russland. Natürlich kann man diese Zahlen nicht 1:1 vergleichen – ein deutscher Berufssoldat kostet schließlich deutlich mehr als ein russischer Berufssoldat und auch der Anschaffungspreis für einen deutschen Panzer ist um einiges höher. Doch selbst wenn man die Ausgaben nach Preisparität gewichtet und die horrenden Militärausgaben der USA herausnimmt, kommt man immer noch auf ein deutliches Übergewicht von 50 Prozent zugunsten der europäischen NATO-Staaten. Der Verteidigungsetat der europäischen Länder ist höher als der gesamte russische Staatshaushalt. Alleine Deutschland und Frankreich geben mehr für das Militär aus als Russland. Und hierbei muss man noch berücksichtigen, dass Russland sich im Krieg befindet und die mittelfristige Budgetplanung ein Drittel niedriger ist. Ganz anders sieht es bei der NATO aus. In den letzten zehn Jahren stiegen die NATO-Militärausgaben um ein Drittel. Allein im laufenden Jahr haben die NATO-Staaten ihre Militärausgaben um 18 Prozent gesteigert – ein historischer Höchstwert. Angesichts dieser Zahlen ist es mehr als erstaunlich, dass in der aktuellen Debatte stets der genau gegenteilige Eindruck vermittelt wird. Nicht Russland, sondern die NATO und hier auch und vor allem die europäischen NATO-Staaten rüsten im gigantischen Maßstab auf.
Das Missverhältnis wird noch deutlicher, wenn man sich das derzeitige militärische Kräfteverhältnis anschaut. Bei allen Waffengattungen – mit Ausnahme der strategischen Bomber – hat die NATO eine Überlegenheit von mindestens vier zu eins. Selbst wenn man die USA herausnimmt, haben die europäischen NATO-Staaten eine deutliche Überlegenheit gegenüber Russland; so verfügen sie beispielsweise über rund 6.300 einsatzfähige Kampfpanzer, während Russland über rund 2.000 verfügt, wobei die russischen Zahlen angesichts der hohen Verluste im Ukrainekrieg ohnehin unter Vorbehalt zu betrachten sind. Hinzu kommt, dass die Waffensysteme der NATO in nahezu allen Bereichen moderner sind als die Russlands. So verfügen die NATO-Staaten beispielsweise über 900 Kampfflugzeuge der modernsten fünften Generation, Russland aber nur über zwölf.
Nun kann man sicher einwenden, dass die nackte Zahl an Großwaffensystemen keine eindeutigen Schlüsse auf deren Wirksamkeit auf dem Schlachtfeld zulässt; so scheinen beispielsweise die berüchtigten Kampfpanzer, um deren Lieferung in die Ukraine hierzulande so intensiv debattiert wurde, im Ukrainekrieg auf beiden Seiten kaum eine Rolle zu spielen. Doch diese Debatte sollen Militärexperten führen. Bei der Aufrüstungsdebatte geht es ja vor allem um Geld – und dieses Geld wird nun einmal für Kampfjets, Panzer und U-Boote ausgegeben und wenn man sich die Zahlen anschaut, erkennt man bei all diesen Waffengattungen bereits heute eine massive Überlegenheit der NATO. Wofür soll man diese vorhandene massive Überlegenheit ausbauen? Die Zahlen, die in der Greenpeace-Studie präsentiert werden, sprechen eine glasklare Sprache.
Diese Sprache setzt sich bei den Truppenstärken fort. Die NATO hat derzeit 3,3 Millionen Soldaten unter Waffen – Russland kommt auf 1,3 Millionen, wovon jedoch mit 780.000 der Großteil östlich des Urals stationiert ist und beim angeblichen „Bedrohungsszenario“ für Europa eine untergeordnete Rolle spielt. In Europa sind derzeit mehr als zwei Millionen Soldaten der NATO-Staaten stationiert. Russland kommt auf gerademal 540.000, wobei auch hier wegen der hohen Verluste im Ukrainekrieg noch nicht einmal klar ist, ob diese Zahl haltbar ist. Sollte es zu einem Krieg kommen, verfügt die NATO übrigens über 3,4 Millionen Reservisten. Nicht Russland, sondern die NATO hat eine haushohe Überlegenheit auch bei der Manpower.
Egal welche Zahl man sich heraussucht – das immer wieder von den Falken postulierte Bedrohungsszenario ist nicht haltbar. Die NATO ist – auch ohne die USA – in Europa extrem hoch gerüstet und Russland in nahezu allen Belangen numerisch deutlich überlegen. Eine wie auch immer geartete Notwendigkeit, aufzurüsten, um sicher vor einem Angriff Russlands zu sein, besteht nicht.
Wer will, kann hier durchaus Parallelen zum Kalten Krieg erkennen. Bei der gesamten Rüstungsdebatte geht es nicht darum, sich gegen einen angeblich numerisch überlegenen Gegner zu verteidigen. Es geht darum, Milliarden und Abermilliarden in die Rüstung zu stecken; Geld, das der Staat an anderer Stelle dringend benötigen würde. Im Kalten Krieg war es der Warschauer Pakt, der sich bei der Aufrüstung finanziell und ökonomisch überhoben hat und – nicht nur, aber auch – daran zugrunde ging. Wenn die NATO nicht aufpasst, droht ihr ein ähnliches Schicksal.
Aber das ist nicht alles. Die ganze Debatte verfolgt auch einen anderen Zweck. Wer über Rüstung debattiert, hat damit implizit die militärische Logik eines „führbaren Krieges“ verinnerlicht. Ein Krieg zwischen Atommächten ist aber nicht führbar! Es ist vollkommen egal, ob das Kräfteverhältnis nun eins zu eins oder zehn zu eins ist; sobald eine Seite den roten Knopf drückt, spielen Zahlen keine Rolle mehr.
Dazu möchte ich Ihnen noch einen Dialog mit auf den Weg geben. Er stammt aus dem Film Crimson Tide, einem Hollywood-Kammerspiel über militärische Logik in Zeiten der atomaren Bedrohung …
Ramsey (verfolgt amüsiert die Diskussion seiner Offiziere): „Was denken Sie, Mister Hunter? War es falsch?“
Hunter: „Was, Sir?“
Ramsey: „Die Bombe in Hiroshima und Nagasaki einzusetzen?“
Hunter: „Sir, wenn ich das denken würde, wäre ich nicht hier.“
Ramsey: „Interessante Formulierung.“
Hunter: „Wie habe ich es denn formuliert, Sir?“
Ramsey: „Sehr, sehr vorsichtig. Sie wägen genau ab, was Sie sagen. Wenn man mich gefragt hätte, ob wir die Bombe in Japan einsetzen sollen, hätte ich gesagt, jawohl, Sir, runter damit, auch zweimal. Ich will damit nicht sagen, dass es Ihnen an Entschlossenheit fehlt, Mister Hunter. Ganz und gar nicht. Sie sind nur kompliziert. Sehen Sie, genauso will die Navy Sie haben. Mich will sie so einfach gestrickt.“
Hunter: „Nun, Sir, es ist Ihnen doch gewiss gelungen, sie zu täuschen.“
Ramsey (lacht): „Seien Sie vorsichtig, Mister Hunter. Mein einfach gestricktes Muster ist meine einzige Tarnung. Die Marine hat mir ein Kommando gegeben, mit einer Checkliste und einen Knopf zum Drücken. Ich musste nur wissen, wie man ihn drückt und wann man ihn drückt. Von Ihnen erwartet man offenbar, dass Sie den Grund kennen.“
Hunter: „Nun, Sir, ich hoffe doch, wenn es dann so weit ist, dass wir alle den Grund kennen.“
Ramsey: „In der Marineakademie ging es um Metallurgie und Atomreaktoren, nicht um die Politik des 20. Jahrhundert. Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Von Clausewitz.“
Hunter: „Ich denke doch, dass das, was er damit sagen wollte …“
Ramsey: „Komplizierter war?“
Hunter: „Durchaus, Sir. Der Zweck des Krieges ist in der Tat, einem politischen Ziel zu dienen. Doch in Wahrheit dient er nur sich selbst.“
Ramsey: „Also wollte er damit sagen, dass wir alles ignorieren sollten, was die Politiker sagen, und uns nur darauf konzentrieren sollten, den Feind zu vernichten. Da stimmen Sie mir doch zu.“
Hunter: „Also ich gebe zu, dass das Dasselbe ist, was er damit sagen wollte.“
Ramsey: „Aber Sie sind nicht seiner Meinung.“
Hunter: „Nein, Sir. Durchaus nicht. Ich glaube, dass im Nuklearzeitalter der wahre Feind nicht vernichtet werden kann.“
Ramsey (klopft gegen sein Glas): „Achtung an Deck. Von Clausewitz wird uns jetzt verraten, wer der wahre Feind ist.“
Hunter: „Nun, Sir, meiner bescheidenen Meinung nach ist im Nuklearzeitalter der wahre Feind der Krieg selbst.“
Titelbild: Dimj/shutterstock.com