30 Jahre Budapester Memorandum: Die nukleare Abrüstung der Ukraine im Rückblick

30 Jahre Budapester Memorandum: Die nukleare Abrüstung der Ukraine im Rückblick

30 Jahre Budapester Memorandum: Die nukleare Abrüstung der Ukraine im Rückblick

György Varga
Ein Artikel von György Varga

Das Budapester Memorandum, unterzeichnet am 5. Dezember 1994, ist eine internationale Vereinbarung, in der Russland, die USA und Großbritannien der Ukraine im Gegenzug für ihren Verzicht auf ihr sowjetisches Atomwaffenarsenal Sicherheitsgarantien gaben. Dabei spielte nicht nur die territoriale Integrität der Ukraine, sondern ihre Souveränität eine Rolle. Doch das Dokument trug nicht zur Entspannung in der Region bei. Eine Analyse des ungarischen Botschafters a. D. György Varga, der die Zeremonie in der ungarischen Hauptstadt diplomatisch begleitete. Aus dem Ungarischen übersetzt von Éva Péli.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Mit der Auflösung der Sowjetunion am 26. Dezember 1991 und dem Entstehen von 15 Nachfolgestaaten sahen sich die Länder der Welt mit einem bis dahin unbekannten Sicherheitsrisiko konfrontiert: Die Nuklearwaffen der Atommacht Sowjetunion gingen in den Besitz und das Hoheitsgebiet von vier Nachfolgestaaten über. Der Status Russlands als Nachfolgestaat der Sowjetunion – als Kernwaffenstaat – galt als gesichert, während die Ukraine, Belarus und Kasachstan nicht nur als neue Staaten, sondern auch als Kernwaffenstaaten in den internationalen Beziehungen und in der Sicherheitspolitik auftauchten.

Die neue Situation war für die Vereinten Nationen (UN) und insbesondere für die Großmächte inakzeptabel. Als Mitglieder des Nuklearklubs und ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats waren sie daran interessiert, dass die Ukraine, Kasachstan und Belarus schnellstmöglich dem Atomwaffensperrvertrag (NVV) beitreten, um den vor dem Zerfall der Sowjetunion bestehenden nuklearen Status quo wiederherzustellen.

Russland nutzte sein damals relativ starkes Druckmittel, sammelte in der ersten Hälfte des Jahres 1992 die taktischen Kernwaffen auf seinem Territorium ein und einigte sich relativ schnell mit Kasachstan und Belarus darüber, dass diese die auf ihren Territorien befindlichen strategischen Kernsprengköpfe an Russland übergeben.

Übergabe der strategischen Kernwaffen in der Ukraine

Die ukrainische Führung war sich darüber im Klaren, dass ihr Land durch das sowjetische nukleare Erbe zur nominell drittstärksten Atommacht der Welt aufgestiegen war, und versuchte, diese Situation so weit wie möglich für legitime Zwecke auszunutzen. Damals sah sich die Ukraine, ein Land mit 52 Millionen Einwohnern, so groß wie Frankreich, eindeutig als Regionalmacht, und ihr nuklearer Status verstärkte diese Einordnung.

Angesichts des Widerstands der Großmächte und der Tendenz in der Weltpolitik, das Entstehen neuer Atommächte nicht zu unterstützen, begann die Ukraine, über die Abrüstung von Atomwaffen zu verhandeln. Sowohl für Moskau als auch für Washington war klar, dass die Atomwaffen in der Ukraine an Russland übergeben werden sollten. 1992 begannen die russisch-ukrainischen Verhandlungen über die nukleare Abrüstung in der Ukraine, denen sich die Vereinigten Staaten im August 1993 anschlossen. Kiew setzte sich politische und wirtschaftliche Ziele für die nukleare Abrüstung. Das ukrainische politische und militärische Ziel bestand darin, Sicherheitsgarantien zu erreichen, die die Souveränität und territoriale Integrität einer atomwaffenfreien Ukraine gewährleisten würden. Die wirtschaftlichen Ziele umfassten sowohl einen finanziellen Ausgleich für die übertragenen Waffen als auch eine finanzielle Beteiligung an der Demontage und Zerstörung der verbleibenden technischen Infrastruktur.

Als Ergebnis der Verhandlungen stimmte die Ukraine 1994 der Übergabe von Atomsprengköpfen an Russland zu, während dieses sich im Gegenzug zur Lieferung von Kernbrennstoff für ukrainische Atomkraftwerke verpflichtete. Russland erhielt auch einen Teil der Abschussgeräte für luftgestützte Atomsprengköpfe (Militärbomber TU-160, TU-95), von denen der Rest ebenso wie 176 Stahlbetonsilos im Bereich der bodengestützten Sprengköpfe später in der Ukraine mit US-amerikanischer Finanzierung zerstört wurde.

Unterzeichnung des Budapester Memorandums

Der ukrainische Präsident Leonid Kutschma, Russlands Präsident Boris Jelzin und ihr US-amerikanischer Amtskollege Bill Clinton sowie der britische Premierminister John Major unterzeichneten daraufhin auf dem Gipfeltreffen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) am 5. Dezember 1994 in der ungarischen Hauptstadt Budapest das „Memorandum über Sicherheitsgarantien für den Beitritt der Ukraine zum Nichtverbreitungsvertrag“. Dieses Dokument steckte den politischen Rahmen für die nukleare Abrüstung in der Ukraine ab. Nebenbei sei bemerkt, dass der Autor dieses Beitrags die Ehre hatte, der Zeremonie als diplomatischer Begleiter des ukrainischen Präsidenten beizuwohnen.

Dem Dokument zufolge hat sich die Ukraine verpflichtet, dem NVV als Nichtkernwaffenstaat beizutreten und ihre Kernwaffen innerhalb einer bestimmten Frist abzugeben.

Die Großmächte verpflichteten sich,

  1. die Unabhängigkeit, die Souveränität und die bestehenden Grenzen der Ukraine zu respektieren,
  2. auf die Anwendung von Gewalt oder Drohungen gegen die Unabhängigkeit und die territoriale Integrität der Ukraine zu verzichten,
  3. keine Kernwaffen gegen die Ukraine als Vertragsstaat des NVV (Nichtkernwaffenstaat) einzusetzen, es sei denn, sie werden von einem Nichtkernwaffenstaat (das heißt der Ukraine) und seinen mit Kernwaffen ausgestatteten Verbündeten angegriffen.

Der Nuklearklub wurde nicht erweitert, und das Schicksal der sowjetischen Kernwaffen wurde Mitte der 1990er-Jahre geregelt. Russland blieb die einzige post-sowjetische Atommacht. Die zuvor stabile Situation änderte sich grundlegend, als die internationalen Beziehungen um die Ukraine zunehmend angespannt wurden. Die Ambitionen der NATO, die ukrainische Neutralität zu beenden, führten zu einer neuen Sicherheitslage in Europa, die weit über den bisherigen Status quo hinausreichte.

2007, nach Jahren der friedlichen Koexistenz, kritisierte der russische Präsident Wladimir Putin in einer Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz (die viele an den Kalten Krieg erinnerte) die NATO scharf für ihre Expansion auf das Gebiet der Sowjetunion. Putin reagierte in ähnlicher Weise, nachdem die Ukraine (und Georgien) auf dem NATO-Gipfel in Bukarest im Februar 2008 als potenzielles NATO-Mitglied genannt worden waren.

Budapester Memorandum unter Beschuss

Nach dem verfassungswidrigen Staatsstreich in Kiew am 22. Februar 2014, durch den Viktor Janukowitsch und seine Regierung abgesetzt wurden, und der Abschaffung des Gesetzes über die Verwendung von Minderheitensprachen durch die neuen politischen Kräfte am 23. März desselben Jahres stellte sich die Bevölkerung der Ostukraine und der Krim – überwiegend russischstämmig und russischsprachig – offen gegen die durch den Staatsstreich eingesetzte politische Elite, die Regierung, die vom kollektiven Westen geschaffen und unterstützt worden war. Mit Bezug auf die unrechtmäßige Führung der Ukraine und die antirussischen Maßnahmen wurde am 16. März auf der Krim ein Referendum abgehalten. 95 Prozent der Bevölkerung stimmten für den Anschluss an Russland, und am 18. März akzeptierten die russischen Staatsorgane, also das Parlament und das Staatsoberhaupt, diese Entscheidung.

Die Frage des Beitritts der Krim zu Russland hat die Rolle und die Bedeutung des Budapester Memorandums deutlich gemacht. Nach Ansicht der Ukraine und ihrer westlichen Verbündeten hat Russland gegen das Dokument verstoßen und die bestehenden Grenzen der Ukraine nicht respektiert, als es beschloss, den Beitritt der Krim zu akzeptieren.

Zu Russlands angeblichem Verstoß gegen seine Verpflichtungen

Russland argumentiert, dass der Westen die Verpflichtungen aus dem Budapester Memorandum bereits lange vor den Ereignissen von 2014 und 2022 systematisch verletzt habe. Daher sei die russische Reaktion darauf provoziert, und das Memorandum habe für die Bewertung dieser Ereignisse keine Relevanz mehr.

Auf russischer Seite wird in den internationalen Debatten zu diesem Thema darauf hingewiesen, dass:

  1. in der ukrainischen Unabhängigkeitserklärung von 1991 der künftige Status der Ukraine als „ewig neutrales“ Land definiert wurde, und dieser Status wurde durch die 1996 verabschiedete Verfassung bestätigt. Die Ukraine unterzeichnete 1994 das Budapester Memorandum als ein Land, das sich zur dauernden Neutralität verpflichtet hat.
  2. 1994 erhielt die Ukraine im Gegenzug für ihren Verzicht auf Atomwaffen von den Großmächten Zusicherungen, ihre Souveränität und territoriale Integrität zu respektieren. Diese Garantien waren umso wichtiger, da die Ukraine aufgrund ihrer neutralen Position keinen militärischen Schutzbund hatte.

    Die Erklärung des NATO-Gipfels von 2008 in Bukarest, die Ukraine als potenzielles Mitglied zu benennen, stand in direktem Widerspruch zu den Bestimmungen des Budapester Memorandums und den ausdrücklichen Vereinbarungen mit der Ukraine. Sie berücksichtigte weder die Einschränkungen durch die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine und ihre Verfassung noch die Tatsache, dass es 2008 in der Ukraine keine gesellschaftliche Unterstützung für eine NATO-Mitgliedschaft gab.

  3. Nach Ansicht Moskaus hat die Beteiligung westlicher Länder an einer verfassungswidrigen Machtübernahme im Jahr 2014 die Souveränität der Ukraine verletzt. Am 21. Februar 2014 unterzeichneten der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der polnische Außenminister Radosław Sikorski und der französische Außenminister Laurent Fabius eine Vereinbarung zwischen Präsident Janukowitsch und der Opposition zur Beilegung der innenpolitischen Krise und leisteten dann stillschweigend Unterstützung bei einer gewaltsamen Machtübernahme, die am nächsten Tag erfolgte. Der Westen erkannte die politischen Kräfte als legitim an, die die Macht illegitim übernommen hatten, indem sie den demokratisch gewählten Staatschef und seine Regierung gewaltsam absetzten, was zu einem Bürgerkrieg mit nachhaltigen Folgen führte.

Zu Russlands Vorwurf an den kollektiven Westen

Auf eine dramatische Eskalation des Konflikts in der aktuellen Phase des Krieges in der Ukraine deuten Berichte der vorigen Wochen aus US-Quellen hin. Demnach plant die Biden-Regierung den Einsatz von Atomwaffen, um der Kiewer Führung zu helfen, die sich in einer militärisch nahezu aussichtslosen Situation befindet. Präsident Putin hat vor den schwerwiegenden Folgen eines solchen Vorgehens gewarnt und damit gedroht, in einem solchen Fall alle Mittel einzusetzen, die Russland zur Verfügung stehen.

Die Verfasser des Budapester Memorandums scheinen bei bestimmten Szenarien sehr vorsichtig gewesen zu sein. Die Bestimmungen von Absatz 5 des Dokuments spiegeln sich in der neuen russischen Nukleardoktrin wider, die am 19. November 2024 in Kraft getreten ist:

„Die Garantiegeber werden keine Kernwaffen gegen die Ukraine als (kernwaffenfreien) NVV-Vertragsstaat einsetzen, es sei denn, sie werden von einem kernwaffenfreien Staat (das heißt der Ukraine) und seinen mit Kernwaffen ausgestatteten Verbündeten angegriffen.“

Das heißt, Russland hat den entsprechenden Punkt des Budapester Memorandums in seine erneuerte Nukleardoktrin aufgenommen. Das Datum der Unterzeichnung der russischen Doktrin durch Präsident Putin (19. November) fiel mit dem Tag zusammen, an dem amerikanische ATACMS-Raketen (300 Kilometer Reichweite) unter amerikanischer Führung auf Ziele in Russland abgefeuert wurden.

Titelbild: Der US-amerikanische Präsident Bill Clinton, der russische Präsident Boris Jelzin und der ukrainische Präsident Leonid Krawtschuk nach der Unterzeichnung der Trilateralen Erklärung vom 14. Januar 1994 zur Vorbereitung des Memorandums – gemeinfrei

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