Enthüllungen des französischen Investigativportals Mediapart und dreier weiterer Medienpartner werfen ein bezeichnendes Licht auf interne Vorgänge und Selbstzensur im öffentlich-rechtlichen Rundfunksender Norddeutscher Rundfunk (NDR). Im Mittelpunkt steht dabei eine brisante Recherche, die ursprünglich vom NDR selbst initiiert wurde und sich mit der Investigativ-NGO OCCRP (Organized Crime and Corruption Reporting Project) sowie deren umfassende Kooptation durch die US-Regierung beschäftigt. Doch statt die Ergebnisse zu veröffentlichen, wurde das Rechercheprojekt unter fragwürdigen Umständen und Begründungen von der NDR-Redaktionsleitung nach Intervention von US-Seite gestoppt. Von Florian Warweg.
Hintergrund: Was ist das OCCRP?
Das OCCRP wurde 2008 gegründet und gilt nach Eigendarstellung als „die größte Organisation für investigative Berichterstattung auf der Welt“. Die NGO verfügt über ein Jahresbudget von 20 Millionen Euro, 200 Mitarbeiter auf allen Kontinenten sowie ein Netzwerk von 70 Medien, darunter große westliche Leitmedien wie The New York Times und The Washington Post in den USA, The Guardian in Großbritannien, Der Spiegel, Süddeutsche Zeitung, NDR und weitere ARD-Anstalten in Deutschland sowie Le Monde in Frankreich.
OCCRP hat die bekanntesten internationalen Projekte des investigativen Journalismus der letzten zehn Jahre initiiert oder war zumindest an zentraler Stelle daran beteiligt. Dazu gehören unter anderem die Panama Papers, die Pandora Papers, Suisse Secrets, Narco Files, Pegasus Project, Cyprus Confidential und die sogenannte Laundromat-Serie – fast ausnahmslos Projekte, die auf umfassenden Datenlecks basierten. Im Februar 2023 war das OCCRP für diese Arbeit sogar für den Friedensnobelpreis nominiert worden. Auf den ersten Blick also eine Bilderbuch-NGO. Doch kritischen Beobachtern war schon vor Jahren aufgefallen, dass die Datenlecks und Recherchen von OCCRP fast nie Informationen zu US-Amerikanern enthielten, sondern immer Staaten und deren Eliten im Fokus hatten, die die USA als Gegner einstufen, wie zum Beispiel Russland, China oder Venezuela.
Für dieses „Phänomen“ gibt es nun eine Erklärung. Denn laut den später zensierten Recherchen des NDR wird das „unabhängige Netzwerk“ maßgeblich von der US-Regierung finanziert. Besonders pikant: Schlüsselpositionen im Bereich Management und Redaktion beim OCCRP werden von der US-Regierung abgesegnet, die in diesem Zusammenhang auch über ein Vetorecht verfügt. Die Finanzierung selbst erfolgte größtenteils über verdeckte Kanäle wie das Bureau of International Narcotics and Law Enforcement Affairs (Büro für internationale Drogen- und Strafverfolgungsangelegenheiten) des US-Außenministeriums. Die Anfangsfinanzierung wurde von Mitgliedern aus dem US-Geheimdienstumfeld vermittelt, namentlich dem ehemaligen Offizier der US-Armee David Hodgkinson, der mittlerweile für das Office of the Director of National Intelligence (ODNI) arbeitet. Hauptaufgabe von ODNI ist die Koordinierung aller 18 US-Geheimdienste.
Zudem ergab die vom NDR zensierte Recherche, dass die US-Regierung die Berichterstattung der „Investigativ-NGO“ bewusst steuert, indem sie ihre Mittelvergabe konditioniert. Zum einen verpflichtet Washington die OCCRP dazu, ihre Recherchen auf spezielle Länder zu fokussieren – konkret wurden in dem Zusammenhang „Russland, Venezuela, Malta und Zypern“ genannt. Zum anderen wurden die USA, egal ob US-Konzerne oder Einzelpersonen, als Recherchefeld zum Tabu erklärt.
Wie alles begann: Recherche und Selbstzensur
Die NDR-Recherche über das OCCRP wurde im Januar 2023 ins Leben gerufen. Geleitet wurde diese zunächst von nur zwei Reportern, darunter John Goetz, ein erfahrener Investigativ-Journalist, der für seine Arbeit mehrfach ausgezeichnet wurde (u.a. mit einem Emmy Award und dem Europäischen Pressepreis). Im Februar 2023 wurde das OCCRP dann wie bereits erwähnt für den Friedensnobelpreis nominiert. Daraufhin erklärten sich mehrere leitende Mitarbeiter der United States Agency for International Development (USAID) erstmals bereit, im August 2023 an gefilmten Interviews mit dem NDR teilzunehmen.
Stolz darauf, eine journalistische NGO kofinanziert zu haben, die zu einem potenziellen Nobelpreisträger geworden war, sprachen die Befragten sehr offen und scheinbar, ohne zu bemerken, wie aufschlussreich und verräterisch ihre Ausführungen waren. Unter anderem gaben sie bei den Interviews an, dass die US-Regierung das Recht habe, gegen Ernennungen von „Schlüsselpersonal“ des OCCRP ein Veto einzulegen, und dass die Finanzierung, die die Gründung der NGO ermöglichte, heimlich vom Bureau of International Narcotics and Law Enforcement (INL) des US-Außenministeriums ausgezahlt wurde (weitere Hintergrundinformationen dazu finden sich hier).
Den Dokumenten zufolge, die Mediapart laut Eigendarstellung vorliegen, wurde die Entscheidung, die laufende Recherche einzustellen und nicht zu veröffentlichen, getroffen, nachdem der Mitbegründer und Leiter des OCCRP, der US-Journalist Drew Sullivan, Druck auf die NDR-Geschäftsführung ausgeübt und falsche Anschuldigungen gegen die am Projekt beteiligten Journalisten des Senders erhoben hatte.
Bereits am 4. und 5. Oktober 2023 hatte Sullivan drei E-Mails an OCCRP-Journalisten verschickt, in denen er diese aufforderte, nicht mit den NDR-Journalisten zu sprechen. „Es ist, als würde man mit RT sprechen – Ihre Worte könnten verdreht werden“, warnte Sullivan und setzte dabei den deutschen ÖRR-Sender mit RT (ehemals Russia Today) gleich.
In denselben E-Mails an die Mitarbeiter des OCCRP behauptete Sullivan ebenfalls, ohne dafür den geringsten Beleg vorzulegen, dass der die Recherche leitende NDR-Reporter Goetz von den deutschen Geheimdiensten als ‚russischer Agent‘ bezeichnet worden sei. Weiter schrieb er seinen Mitarbeiterstab:
„Dieser Reporter hat eine lückenhafte Vorgeschichte in diesen Fragen, und man kann nie sicher sein, wer ein russischer Agent ist.“
Angesichts der aktuell antirussischen Stimmung war der Verweis auf RT und „russische Agenten“ wohl der wirkmächtigste Diffamierungshammer, der dem OCCRP-Chef bei seinem Versuch, die NDR-Recherchen zu verhindern, so einfiel.
Quelle: © Document Mediapart/Drop Site News/Il Fatto Quotidiano/Reporters United
Zunächst ließ sich der NDR davon nicht einschüchtern. Anfang September 2024 wurden sogar vier auf Investigativrecherchen spezialisierte Medien eingeladen, sich an der laufenden Untersuchung zu beteiligen. Dabei handelte es sich um Mediapart (Frankreich), Drop Site News (USA), Il Fatto Quotidiano (Italien) und Reporters United (Griechenland).
Die erweiterte Zusammenarbeit zahlte sich, wie Mediapart und Drop Site News berichten, umgehend aus. Innerhalb eines Monats brachten die Reporter in gemeinsamen Recherchen weitere Erkenntnisse, unter anderem zu den genauen Höhen der US-Zahlungen und die Konditionierung derselben, ans Licht. Die beteiligten Medien planten in Folge eine gemeinsame Veröffentlichung der Rechercheergebnisse. Zuvor wollten sie den Chef von OCCRP mit ihren Ergebnissen konfrontieren und ihm einen Fragekatalog zuschicken.
„Mangelnde Relevanz für unsere Zuschauer“
Am 17. Oktober 2024 kündigte dann der NDR zur großen Überraschung der anderen Recherchepartner an, dass er sich nicht an der Übermittlung dieser Fragen beteiligen werde und dass man sich gegen die Fortsetzung des Projekts entschieden hätte. Bei Mediapart liest sich die weitere Entwicklung dann so:
„Eine Erklärung dafür wurde nicht gegeben, und wir wurden aufgefordert, uns an die Pressestelle des Senders zu wenden, wenn wir eine „Stellungnahme“ zu diesem Thema wünschten. Die Situation war absurd geworden. Mediapart und die anderen drei Medien, die zur Teilnahme an der Untersuchung eingeladen worden waren, baten nicht um eine öffentliche Stellungnahme, sondern um ein Gespräch mit dem NDR im Rahmen unserer Partnerschaft, um zu verstehen, wo das Problem lag, und um zu versuchen, es gemeinsam zu lösen. Am 23. Oktober unterzeichneten die Chefredakteure von Mediapart, Drop Site News und Reporters United einen Brief (siehe unten) an den Co-Chefredakteur des NDR Andreas Cichowicz und die stellvertretende Programmchefin Juliane von Schwerin.
Sie antworteten am 1. November in einer E-Mail, die auch vom zweiten Co-Chefredakteur Adrian Feuerbacher unterzeichnet wurde. Sie gaben bekannt, dass sie sich nach einer „intensiven und kontroversen internen Diskussion“ „vorerst gegen die Fortsetzung des Projekts entschieden“ hätten.
Diese drei leitenden Redakteure erklärten, dass die Redakteure der Nachrichten- und aktuellen Informationssendungen des NDR, deren Ziel es sei, „ein breites Publikum“ anzusprechen, die Ausstrahlung der Untersuchung „wegen mangelnder Relevanz“ für ihre Zuschauer abgelehnt hätten.“
Quelle: Brief an den NDR: © Document Mediapart/Drop Site News/Il Fatto Quotidiano/Reporters United
Auf die Ausrede muss man erstmal kommen: eine Recherche über die massive Einflussnahme der US-Regierung auf „die größte Organisation für investigative Berichterstattung auf der Welt“, die allein in Deutschland den Spiegel, die Süddeutsche und ARD-Anstalten zu ihren Partnern zählt und sich für einen Großteil der Enthüllungen à la Panama Papers verantwortlich zeigt, nicht zu veröffentlichen mit Verweis auf „mangelnde Relevanz“ und „nicht geeignet für das Publikum“.
Bedeutung für den Journalismus
Der Fall wirft fundamentale Fragen zur Unabhängigkeit öffentlich-rechtlicher Medien auf: Wie groß ist der Einfluss externer Akteure auf investigative Berichterstattung? Die vom NDR initiierte Recherche wäre ein Meilenstein für die Aufklärung über die oft intransparenten Verflechtungen zwischen westlichen Regierungen, angeblich unabhängigen NGOs und deren Einfluss auf die Medienwelt gewesen. Doch stattdessen gewannen Opportunismus und mutmaßlich Angst vor dem großen Bruder in Übersee die Überhand. Anerkennung gebührt den NDR-Journalisten, die diese Recherche initiiert hatten und dann in letzter Konsequenz von ihren Vorgesetzten ausgebremst wurden – und das nicht zum ersten Mal. Es sind mehrere Fälle bekannt, in denen der NDR kritische Berichterstattung unterbunden hat. Dank der von den zwei NDR-Journalisten – wohl in gewisser Vorahnung – etablierten Zusammenarbeit mit den drei privaten Medienpartnern aus Frankreich, USA und Griechenland hat die Recherche immerhin doch noch das Licht der Welt erblickt.
In Bezug auf die eigentliche Recherche lässt sich zusammenfassend sagen, dass es kein anderes Land auf der Welt gibt, dass auch nur im Ansatz über diese Art von globalem Propagandaapparat verfügt wie die USA. Dieser ist ohne Zweifel raffiniert aufgebaut. Washington hat ein System perfektioniert, in dem von der Regierung gelenkte Untersuchungen in den bekanntesten Zeitungen der Welt erscheinen können und dies dann auch noch als Beleg für die ach so freie und unabhängige Presse gefeiert wird. Aber so geschickt es auch versucht wird zu verstecken, es bleibt natürlich Staatspropaganda: Wie die Recherche belegt, braucht das OCCRP die Genehmigung des US-Außenministeriums für die Ernennung ihrer Chefredaktion, wird größtenteils von der US-Regierung finanziert und arbeitet ausdrücklich daran, dass die entsprechende Berichterstattung sich in Regierungsmaßnahmen niederschlägt.
Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch die bisherige Reaktion bzw. besser gesagt Nicht-Reaktion der Medienpartner von OCCRP auf die Ergebnisse der Recherche. Laut Mediapart weigerten sich unter anderem The Washington Post, The Guardian und auch Der Spiegel, die Frage zu der Partnerschaft zu beantworten. Und während der NDR, auch wenn er die Recherche zensierte, immerhin die Zusammenarbeit mit OCCRP aufkündigte, scheinen Spiegel, Süddeutsche und Co sich an der belegten US-Einflussnahme nicht zu stören und arbeiten weiter mit der NGO zusammen.
Was wiederum passiert, wenn tatsächlich unabhängige investigative Journalisten die Bühne betreten und dabei auch die US-Macht infrage stellten, konnten wir eindrücklich am Fall von WikiLeaks und dessen Gründer Julian Assange erleben …
Die gesamte Recherche von Mediapart ist hier einsehbar.
Titelbild: Shutterstock / Matthias Roehe