Raus aus der Eskalationsspirale! (1/2)

Raus aus der Eskalationsspirale! (1/2)

Raus aus der Eskalationsspirale! (1/2)

Leo Ensel
Ein Artikel von Leo Ensel

Ein Ende der Kampfhandlungen ist dringend notwendig – und reicht nicht aus. Die Zeichen stehen auf Sturm. Aber selbst wenn Donald Trump, wie angekündigt, den Ukrainekrieg tatsächlich innerhalb kürzester Zeit noch stoppen sollte, blüht uns unter den gegebenen Bedingungen für die nächsten Jahrzehnte bestenfalls ein neuer Kalter Krieg. Wirklich friedliche Zustände werden in Europa erst herrschen, wenn alle Akteure zu einer europäischen Sicherheitsordnung nach den Prinzipien der „Charta von Paris“ zurückfinden. Ein Essay in zwei Folgen von Leo Ensel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Der Ukrainekrieg tritt jetzt in seine gefährlichste Phase. Wie Konfliktforscher und Diplomaten wissen: Die meisten Opfer – und nicht nur Soldaten, die sinnlos verheizt werden – fordern Kriege, wenn eine Seite sich definitiv an die Wand gedrängt fühlt. Dann droht sie unberechenbar zu werden. Und das ist fraglos bei der Ukraine nun der Fall. Herostratische Verzweifelungstaten nach der obszönen Devise der Pompadour „Après nous le déluge!“ („Nach uns die Sintflut!“) kündigten sich bereits Ende Mai mit den ukrainischen Attacken auf Module des russischen Atomraketen-Frühwarnsystems bei Armawir und Orenburg an, die nichts Anderes waren als ein Angriff auf die globale Sicherheitsstruktur.

Die Zeichen stehen auf Sturm

In den letzten zwei Wochen wurde von allen Seiten noch einmal kräftig an der Eskalationsspirale gedreht. Noch-US-Präsident Biden erlaubt seit dem 17. November der Ukraine nun Angriffe mit amerikanischen ATACMS-Raketen bis zu einer Tiefe von 300 Kilometern auf russischem Terrain – eine Maßnahme, die er zuvor stets mit dem Verweis abgelehnt hatte, er wolle ein Hineinziehen der USA in den Ukrainekrieg und damit eine direkte Konfrontation mit Russland, sprich: einen Dritten Weltkrieg, verhindern. (Großbritannien und Frankreich zogen nach.) Keine zwei Tage später, am 19. November, attackierte die Ukraine mit eben diesen ATACMS ein russisches Munitionslager in der Region Brjansk und eine Woche darauf einen Militärflughafen in der Nähe von Kursk. Die USA versprachen der Ukraine die Lieferung völkerrechtlich geächteter Antipersonenminen und forderten jüngst von diesem kriegsmüden Land, dem die Soldaten ausgehen, die Herabsetzung des Mindestalters für den Kriegsdienst auf 18 Jahre. (In den letzten Wochen des II. Weltkrieges hatte Hitlerdeutschland noch Jugendliche und Greise für den „Volkssturm“ mobilisiert.)

Mit der amerikanischen Erlaubnis erlebte prompt in Deutschland die Debatte um die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern, die mit einer Reichweite von über 500 Kilometern – und von Spezialisten der Bundeswehr programmiert – in der Lage wären, nicht nur die Krim-Brücke, sondern auch den Kreml zu pulverisieren und russische Atomwaffenlager in die Luft zu jagen, eine brandgefährliche Renaissance. Dies nicht zuletzt auf dem Hintergrund, dass die Ukraine seit dem 20. November nicht nur amerikanische ATACMS, sondern auch britische Storm Shadows und französische SCALP-Marschflugkörper gegen Ziele in Russland einsetzt. Frankreich und Großbritannien schließen mittlerweile sogar die Entsendung europäischer Truppen in die Ukraine nicht mehr aus. Es gebe keine „roten Linien“, wenn es um die Unterstützung der Ukraine gehe, ließ der französische Außenminister Jean-Noël Barrot verlautbaren.

Die russische Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Noch am 19. November, dem Tag des Ersteinsatzes amerikanischer ATACMS auf russischem Terrain, verkündete Präsident Putin eine dramatische Modifikation der russischen Atomwaffendoktrin: „In der aktualisierten Fassung des Dokuments wird vorgeschlagen, dass eine Aggression gegen Russland durch einen Nicht-Atomwaffenstaat, aber mit Beteiligung oder Unterstützung eines Atomwaffenstaates, als gemeinsamer Angriff auf die Russische Föderation betrachtet werden sollte.“ Wer gemeint ist, dürfte klar sein. Russland, so Putin, könne Atomwaffen auch als Reaktion auf einen Angriff mit konventionellen Waffen einsetzen, der eine „kritische Bedrohung unserer Souveränität“ darstelle. 

Und es ging weiter: Am 21. November erklärte der russische Präsident, mit dem Einsatz von westlichen Raketen gegen russisches Territorium habe der Ukrainekonflikt „Elemente eines globalen Charakters“ erlangt. Am selben Tage setzte Russland erstmals die Mittelstreckenrakete Oreschnik – zehnfache Schallgeschwindigkeit, sechs auch nuklearfähige Mehrfachsprengköpfe – unter Kriegsbedingungen ein. Die Oreschnik hatte, vom russischen Astrachan abgefeuert, ein Zentrum der ukrainischen Rüstungsindustrie in der Großstadt Dnipro (Dnjepropetrowsk) angegriffen. Eine Woche später legte Putin nochmal nach und drohte, mit dieser im Anflug nicht mehr zu eliminierenden Hyperschallrakete auch Entscheidungszentren in Kiew zu attackieren. Mehrere Oreschnik-Raketen hätten die Zerstörungskraft eines Atomsprengkopfes und der kinetische Aufprall sei so gewaltig wie der eines Meteoriteneinschlags. – Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass Putin mit dieser Drohung nicht nur Kiew, sondern vor allem dem Westen demonstrieren wollte, was diesem blühen könnte, falls er die Ukraine bei ihren Attacken auf russisches Terrain weiterhin unterstützt.

Am 28. November erklärte das Europäische Parlament mit einer Mehrheit aus Konservativen, Sozialisten, Liberalen und Grünen, die Drohungen Russlands, auf Angriffe mit Nuklearschlägen zu reagieren, würden die EU keinesfalls davon abhalten, die Ukraine weiterhin militärisch zu unterstützen. Gefordert wurden die sofortige Lieferung von Kampfflugzeugen und Langstrecken-Marschflugkörpern, einschließlich der Taurus-Marschflugkörper. Die Resolution sieht keinerlei räumliche Einschränkungen für den Einsatz dieser Waffen vor – ganz Russland, so der EP-Abgeordnete Michael von der Schulenburg (BSW), könne somit zum Ziel erklärt werden. Dies, so von der Schulenburg, gleiche beinahe einem Aufruf zum Dritten Weltkrieg.

Kurz: Die Zeichen stehen auf Sturm und wir befinden uns mittlerweile in der bizarren Lage, nur noch beten zu können, dass Trump sein Versprechen, den Krieg schnellstmöglich zu beenden, tatsächlich umsetzt und Putin bis dahin die Nerven behält und sich nicht zu Maßnahmen provozieren lässt, die eine Kettenreaktion ins Unabsehbare auslösen könnten …

Trump und der Kalte Krieg 2.0

Aber selbst wenn bis zum Amtsantritt Trumps keine dramatische Eskalation zwischen Russland und dem Westen stattfinden und der neue US-Präsident seine Ankündigung, den Ukrainekrieg schnellstmöglich zu beenden, tatsächlich wahrmachen sollte, wird sich Europa anschließend keineswegs in friedlichen Umständen wiederfinden. Man muss kein Prophet sein, um sich auszumalen, worauf Trumps ‚Deal‘ zur Beendigung der Kampfhandlungen in etwa hinauslaufen wird.

Der neue amerikanische Präsident wird voraussichtlich über die Köpfe der Ukraine hinweg seinem russischen Konterpart folgendes ‚Agreement‘ anbieten: Die USA drohen der Ukraine, ihr die militärische und finanzielle Unterstützung zu entziehen, falls diese nicht umgehend die Kampfhandlungen einstellt. Zudem wird ein ukrainischer NATO-Beitritt auf unbestimmte Zeit vertagt. Im Gegenzug soll Putin sich verpflichten, nicht weiter vorzurücken. Der Status quo wird eingefroren. Das Ergebnis wäre ein von Norden nach Süden verlaufender neuer „Eiserner Vorhang“, der die Ukraine – das ‚geteilte Deutschland‘ eines neuen Kalten Krieges – in einen westlichen und den von Russland annektierten Teil zerschneidet. (Wo die Demarkationslinie genau verlaufen wird, wird von den russischen Geländegewinnen in der Zwischenzeit abhängen bzw. ob Putin auf den Verwaltungsgrenzen der vier annektierten, aber bis auf Lugansk noch nicht vollständig eroberten Oblaste bestehen wird.) Die Amerikaner werden sich, wie weiland in Afghanistan, unverzüglich aus dem Kriegsgeschehen herausziehen und den ukrainischen Scherbenhaufen den Europäern überlassen. Sollen die doch für die Einhaltung des Waffenstillstands an den Bruchlinien des nun ‚Frozen Conflicts‘ einstehen und sowohl den Wiederaufbau als auch die Wiederbewaffnung der geschundenen Rest-, will sagen: Westukraine finanzieren!

Lassen sich die Europäer darauf ein, so wäre, darauf hat General a.D. Harald Kujat kürzlich hingewiesen, die Wahrscheinlichkeit groß, dass an der scharf bewaffneten Demarkationslinie künftig auch deutsche Soldaten russischen Soldaten Auge in Auge gegenüberstünden. Friedliche Zustände in Europa sehen anders aus.

Der neue Kalte Krieg mit seiner rund 1.500 Kilometer ostwärts verschobenen ‚Berliner Mauer‘ könnte sich jahrzehntelang hinziehen. Es sei denn, er eskaliert früher oder später zu einem erneuten heißen Krieg – oder aber (heute leider sehr unwahrscheinlich, aber umso notwendiger) alle Seiten raffen sich doch noch, und zwar in ihrem ureigensten Interesse, zu einem grundlegenden Politikwechsel, zu einer neuen Entspannungspolitik, kurz: zu einem Totalreset der europäischen Sicherheitsstruktur auf! Das Rad müsste hier keineswegs neu erfunden werden, man könnte sich – guten Willen allerseits vorausgesetzt – am glücklichen Ende des (ersten) Kalten Krieges, am Helsinki-Prozess der Siebziger Jahre und der „Charta von Paris“ vom November 1990 orientieren.

Mit freundlicher Genehmigung von Globalbridge.

Der zweite Teil „Back to Gorbatschow oder: Das Neue Denken und die Rekonstruktion des ‚Gemeinsamen Europäischen Hauses‘“ folgt morgen.

Titelbild: Jack_the_sparow/shutterstock.com