„Maidan“ in Georgien – Man fühlt sich (fast) wie 2014

„Maidan“ in Georgien – Man fühlt sich (fast) wie 2014

„Maidan“ in Georgien – Man fühlt sich (fast) wie 2014

Tobias Riegel
Ein Artikel von: Tobias Riegel

Manche aktuelle Berichte über die Proteste in Georgien und der Tonfall mancher großer Medien hierzulande wirken wie eine Zeitmaschine, die einen ins Jahr 2014 versetzt – in die Zeit der Jubelberichte über die militanten Proteste auf dem Maidan in Kiew. Hier soll beispielhaft ein Bericht der Tagesschau betrachtet werden. Ein Kommentar von Tobias Riegel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Bei pro-europäischen Protesten in Georgien kommt es seit Tagen vor dem Parlament in der Hauptstadt Tiflis zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten. Tausende Menschen errichteten bereits am Samstagabend Barrikaden, schlugen Fensterscheiben ein und zündeten Feuerwerkskörper vor dem Parlament, wie die Tagesschau am Sonntag berichtete. In einem angefügten Vorort-Bericht des WDR aus Tiflis ist dennoch die Rede von einem „friedlichen Protest“:

„Die Leute hier sind wütend. Sie machen einen friedlichen Protest, aber sie sind wirklich wütend darüber, was die Regierung hier gerade machen will.“

Laut Tagesschau setzten Polizisten in Schutzausrüstung Gummigeschosse, Tränengas und Wasserwerfer gegen Demonstranten ein. Der georgischen Opposition zufolge sei in Georgien „das Volk“ auf der Straße, so der Bericht. Es wird von der Reporterin im Interview durchaus aufgezählt, dass von einem Teil der Demonstranten Barrikaden gebaut und Feuer angezündet werden, doch dann heißt es im nächsten Satz trotzdem, die Polizei habe harte Gewalt eingesetzt – „gegen sehr, sehr friedliebende Demonstranten“. Sie sind zumindest etwas verwirrend, diese Einordnungen.

Polizeigewalt soll hier keineswegs verniedlicht werden, aber gleichzeitig sollte man so auch nicht mit der Gewalt der Gegenseite verfahren. Der Moderator behauptet dann einfach:

„Es scheint ja eine große gesellschaftliche Einigkeit gegen die amtierende Regierung zu geben.“

Die Tatsache, dass die amtierende georgische Präsidentin sich momentan weigert, die Amtsgeschäfte zu übergeben, wird in der Folge nicht kritisch analysiert. Auch die Forderung der Präsidentin nach einer „Wiederholung“ der letzten Parlamentswahl, bei der ihr Lager mutmaßlich unterlegen war, wird von der Tagesschau nicht hinterfragt. Stattdessen werden praktische Wege diskutiert, wie man es denn am besten anstellen könnte, diese Wahl zu „wiederholen“. So sagt die Reporterin Silke Diettrich, da bliebe das Verfassungsgericht, oder aber, dass „die Menschen hier“ weiter auf die Straße gehen würden. Wird hier (mal wieder) im Namen „der Demokratie“ dem Sturz einer gewählten Regierung durch Demonstrationen indirekt das Wort geredet? Würde die Tagesschau solche Aussagen auf die Bundesregierung beziehen, wäre sie da nicht schnell im Fokus wegen Delegitimierung des Staates?

Viele aktuelle Georgien-Beiträge haben (noch) nicht die schlimme Qualität der Maidan-Berichte von 2014, in denen von vielen deutschen Journalisten massive Gewaltanwendungen von pro-europäischen Demonstranten geradezu gefeiert wurden – als irgendwie „demokratisch“. Aber viele aktuelle Berichte über Georgien sind trotzdem teilweise unseriös und voller doppelter Standards.

Zweierlei Maß gegenüber Gewalt

Bei der Frage von militanten Protesten und dazu, wann Wahlergebnisse und öffentliche Institutionen geachtet und verteidigt werden müssen, wird in großen deutschen Medien ohnehin häufig mit zweierlei Maß gemessen: Wann ist es ein antidemokratischer Akt, ein Wahlergebnis anzuzweifeln, und wann ein Akt „demokratischen“ Widerstands? Wie würde hierzulande mit Personen verfahren, wenn sie Wahlergebnisse infrage stellen und „Wahlwiederholungen“ fordern würden? Wann sind Parlamente heilig und wann dürfen sie „vom Volk“ und von „den Menschen“ belagert oder gar angegriffen werden? Wie sieht dieses Urteil aus, wenn z.B. Anhänger von Donald Trump das US-Capitol belagern? Oder wenn die Treppe des Berliner Reichstags von Rechten „gestürmt“ wird? Werden uns die plötzlich wieder erfolgreichen Dschihadisten in Syrien nun die nächsten Wochen wieder als irgendwie legitime „Opposition“ verkauft werden wie in der Syrien-Propaganda westlicher Medien während des „Bürgerkriegs“ seit 2011? Immerhin – so weit sind wir noch nicht wieder: Noch werden sie, etwa in der Tagesschau, als „Aufständische“ und „Rebellen“ bezeichnet.

Die Proteste in Georgien hatten laut dem oben verlinkten „Tagesschau“-Bericht am Donnerstagabend begonnen. Sie richten sich demnach insbesondere gegen den von Regierungschef Irakli Kobachidse angekündigten Aufschub der EU-Beitrittsverhandlungen des Landes bis 2028. Dagegen seien bereits am Donnerstag- und Freitagabend Tausende Menschen auf die Straße gegangen. Zudem hätten hunderte Staatsbedienstete, insbesondere aus dem Außen- und Verteidigungsministerium, sowie Richter gemeinsame Protestnoten veröffentlicht. Aus Protest blieben außerdem mehr als hundert Schulen und Universitäten geschlossen, mehrere georgische Botschafter erklärten ihren Rücktritt, so die Tagesschau. Die Proteste wurden auch am gestrigen Montag fortgesetzt, siehe hier oder hier.

Allerdings hat die Tagesschau bereits im Sommer vermeldet, dass die EU ihrerseits Georgiens Beitrittsprozess „vorerst auf Eis legt“. Im Juni hieß es in Medienberichten, die Europäische Union wolle den Beitrittsprozess von Georgien vorerst nicht fortsetzen. Grund sei der „aktuelle Kurs der politischen Führung in Tiflis“, wie im Juni 2024 aus einer Erklärung der Staats- und Regierungschefs vom Gipfeltreffen in Brüssel hervorgegangen sei.*

Auf Parallelen zum Maidan 2014 hat auch Kremlsprecher Dimitri Peskow hingewiesen. Die innenpolitische Lage in Georgien kann ich nicht abschließend beurteilen, etwa, ob sie mit der Lage in der Ukraine 2014 vergleichbar ist. Aber viele aktuelle westliche Reaktionen, auch zum Beispiel auf EU-Ebene oder vonseiten „baltischer Staaten“, erinnern an das Verhalten von 2014.

„Krieg gegen das eigene Volk“?

Georgien erscheint als ein gespaltenes Land, es liegt mir fern, für eine der Seiten eindeutig Partei zu ergreifen. Aber die Aussage, die georgische Regierung würde nun „Krieg gegen das eigene Volk“ führen, unterschlägt die große Anzahl von Bürgern, die hinter der kürzlich gewählten Regierung steht. Ich kann die Vorwürfe des Wahlbetrugs nicht entkräften – aber meine Skepsis gegenüber solchen Vorwürfen, wenn die aus Sicht der EU „falsche“ Seite gewinnt, ist mittlerweile groß. Das bedeutet natürlich nicht, dass es keinen Betrug gab. Aber die Stimmung „des Volkes“ und der knapp vier Millionen Bürger in Georgien scheint keineswegs so eindeutig und umfassend gegen die Regierung gerichtet, wie es nun von manchen Medien suggeriert wird. Eine vorhandene innere Spaltung des Landes von außen jetzt auch noch anzufachen, finde ich unverantwortlich. Diese Aussage richtet sich auch an die russische Seite. Gert Ewen-Ungar ist kürzlich auf den NachDenkSeiten in diesem Artikel auf die jüngste Wahl in Georgien eingegangen.

Ich möchte niemandem das Recht absprechen, in die EU zu streben und dafür auch auf die Straße zu gehen. Diese Sehnsüchte geopolitisch von außen zu instrumentalisieren, verbietet sich aber, denn das ist hochriskant, wie der Blick auf die heutige Ukraine zeigt.

*Aktualisierung, 03.12.2024, 11:30: Dieser Absatz wurde hinzugefügt.

Titelbild: Screenshot/ARD

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!